An der Einfahrtsmündung angekommen, lugten sie vorsichtig um die Ecke der Mauer. Vor ihnen lag eine breite Straße. Nach rechts hin verlief sie sich in die Ferne, tauchte zwischen den klobigen, scheinbar leer stehenden Gebäuden ein, die links und rechts standen und wirkten wie zurückgelassene Bauklötze.
Trostlos, nüchtern und in schlechtem Zustand reihten sie sich an der Straße. Größtenteils schienen es Wohnblocks zu sein, aber manche hatten kleine Läden im Erdgeschoss, deren Fenster vergittert und deren Türen durch Metallgitter geschützt waren.
Erneut peitschte ein trockenes Knallen durch die Straßen, dessen Herkunft sie aber nicht ausmachen konnten. Mary drängte sich näher an León, der beschützend seinen Arm um sie legte. Sie hatten noch kein persönliches Wort miteinander gesprochen. All das würde warten müssen.
Der Wind wehte Papierfetzen durch die Luft, ließ alles noch verfallener aussehen, als es ohnehin schon war. Menschen konnten sie auch jetzt nicht entdecken, aber in der Ferne lief ein abgemagerter Hund über die Straße. Mary stieß ein Zischen aus, als sie den Hund erblickte. Die Fensterscheiben von Autos und ihr Metall blitzten in der grellen Sonne. Es sah so aus, als ob die Halter der Fahrzeuge sie fluchtartig verlassen hatten. Ein alter, verrosteter Wagen brannte langsam vor sich hin, schickte dichte schwarze Qualmwolken zum Himmel.
Was war hier geschehen?
»Okay, ich mache mir ein Bild der Lage«, sagte Jeb. »Ihr bleibt hier, wartet, bis ich zurückkomme.«
»Bist du schon so weit?«, fragte Jenna. »Soll nicht …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Ich packe das. Seit wir hier aufgetaucht sind, spüre ich, wie meine Kraft zurückkehrt.«
»Was erzählst du da? Was ist mir dir?«, fragte León.
Jeb schüttelte den Kopf. »Später. Bleibt hier, versteckt euch. Ich bin bald zurück.«
Jeb wandte sich nach links. Hier bot sich ein ähnlich trostloses Bild, nur dass sich kein Fahrzeug auf der Straße befand. Leer, aber mit Müll und Papier bedeckt lag sie vor ihm. Als er seinen Blick die Straße entlangschweifen ließ, entdeckte er einen einzelnen Mann, der mit einem Schild in der Hand vor einer Absperrung stand. Was oder wer sich hinter der Absperrung befand, konnte er von seiner Position nicht ausmachen, aber das davor war ein Mensch. Kein Jäger, kein Seelentrinker, einfach nur ein normaler Mensch. Vielleicht konnte er ihnen helfen.
Vorsichtig, immer in Deckung der Häuser bleibend, ging Jeb näher. Je näher er kam, desto mehr Einzelheiten konnte er ausmachen.
Der Mann war hager, wirkte ausgemergelt und nicht besonders groß, nicht größer als Mary. Sein Gesicht war braun gebrannt, eingefallen, die Haare grau, durchsetzt mit dunklen Strähnen. Ein fadenscheiniger, ehemals schwarzer, jetzt aber ausgeblichener Anzug schlotterte um seinen Körper. Regungslos, verloren stand er auf der Straße, den Holzstiel seines Plakates fest umklammert.
Die Straßensperre war eine einfache Holzbarrikade, um die man Stacheldraht gewickelt hatte. Metallplatten schützten einen Teil der Konstruktion. In den Lücken sah Jeb Gewehrläufe herausragen, deren Mündungen allesamt auf den alten Mann gerichtet waren.
Ein Luftzug wirbelte Papierfetzen auf, ließ sie um den Alten herumtanzen, der nun ein altes Kirchlied anstimmte. Jeb kannte es, es handelte von der Liebe Jesu zu den Menschen und der Unsterblichkeit der Seele. Seine Mutter hatte es oft vor sich hin gesummt, wenn sie Wäsche gewaschen und gekocht hatte.
Jeb verspürte ein Glücksgefühl, als er sie nun deutlich vor sich sah. Er fühlte, dass er angekommen war und bald zu Hause sein würde. Ihr müdes Lächeln, mit dem sie ihn anblickte und stumm um Verzeiung für das Leben bat, das sie ihm angetan hatte. Dabei war es nicht ihre Schuld, sondern die seines saufenden, arbeitslosen Vaters, der lieber das Geld in die nächste Kneipe trug, als dafür zu sorgen, dass sie genug zu essen hatten und endlich aus diesem verdreckten Wohnwagen herauskamen, in dem sie seit seiner Entlassung hausten.
Jebs Erinnerungen wurden von einer lauten, blechernen Stimme unterbrochen, die über ein Megafon eine Durchsage machte.
»Räumen Sie die Straße! Verlassen Sie sofort diesen Platz oder wir werden das Feuer eröffnen. Dies ist eine Warnung zu ihrer eigenen Sicherheit, sie wird nicht wiederholt. Verlassen Sie diesen Platz! Sofort!«
Jeb traute seinen Ohren nicht. Wer sprach da? Warum drohten sie einem alten Mann, der nichts anderes tat, als ruhig dazustehen und Kirchenlieder zu singen.
Dreißig Sekunden vergingen in atemloser Stille, dann fiel der erste Schuss.
Mary zuckte heftig zusammen. Sie fasste nach Jennas Hand und drückte sie angstvoll. Ihr Gesicht war noch bleicher als sonst.
»Habt ihr das gehört?«
Eine überflüssige Frage. Jeder von ihnen war erschrocken. »Das war ein Schuss, oder?«
»Ja«, sagte León. »Eindeutig. Die ganze Zeit wohl schon.«
»Sie haben auf Jeb geschossen«, stieß Jenna atemlos hervor. Sie wollte losrennen, aber León hielt sie fest. Vorsichtig lugte er um die Häuserecke.
»Ich will zu Jeb.«
»Nein, Jenna.« León schüttelte langsam den Kopf. »Wir bleiben hier. Ich kann Jeb noch sehen, es geht ihm gut.«
»Oh Gott«, seufzte Jenna, während sie wie León um die Ecke lugte, um sich zu vergewissern. »Ich hoffe, ihm passiert nichts.«
Mary umarmte Jenna, hielt sie fest, wortlos. Jennas Körper bebte. Es war ein kaum merkliches Zittern, aber es durchlief ihren ganzen Körper. Mary drückte sie noch fester.
»Seid jetzt still«, zischte León, der die Szene beobachtete. »Wir wissen nicht, in was wir da hineingeraten sind.«
»Er soll zurückkommen. Bitte sag ihm, dass er zurückkommen soll«, raunte Jenna. »Ich ertrage das nicht.«
León drängte die Mädchen zurück in den Hinterhof und bezog dann wieder seinen Beobachtungsposten. Jederzeit bereit, Jeb zu Hilfe zu kommen.
Jenna ließ ihren Kopf gegen Marys Schulter sinken und schluchzte leise. Alle Kraft, die sie sich vorhin hatte einreden wollen, war verschwunden.
Jeb beobachtete, wie der alte Mann getroffen zu Boden sank und sich nicht mehr rührte. Das Schild fiel aus seiner kraftlosen Hand und lag wie eine Mahnung neben ihm. Er zögerte keine Sekunde. Geduckt, mit eingezogenem Kopf, rannte er auf die Straße hinaus, immer wieder hinter herumstehenden Autos Schutz suchend, hinüber zu dem Alten. Als er ankam, blickte ihn der Mann verwundert an.
»Wer bist du?«, fragte der Alte.
»Mein Name ist Jeb.«
Jeb entdeckte die Einschussstelle an der Schulter des Mannes. Der Anzug hatte ein Loch, doch bisher sickerte kein Blut heraus. Der Atem des Alten ging regelmäßig und sein Blick war klar.
»Du solltest von hier verschwinden, Junge. Sie schießen auf alle, die sich ihnen widersetzen.«
»Wer? Wer schießt?«
»Die Polizei und das Militär. Sie haben den ganzen Stadtteil abgeriegelt. Niemand kommt herein, niemand kann hinaus. Warum weißt du das nicht?«
»Ich bin gerade hier angekommen.«
»Aber … die Sperre geht nun schon eine ganze Woche. Was erzählst du da? Kein Mensch kommt durch diesen Riegel. Unzählige Menschen wurden erschossen! Und du behauptest … « Der Alte fing an zu husten.
»Es ist eine lange Geschichte.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Sag mal, hast du etwas Wasser für mich? Mein Mund ist staubtrocken.«
Jeb schüttelte stumm den Kopf und schob seine Hand unter den Kopf des Mannes. Er war vollkommen ratlos, was zu tun war. In seinem Kopf ratterten die Gedanken: Der Mann war verletzt, war es aber gleichzeitig offenbar nicht. Wie konnte das sein? »Geht es so besser? Haben Sie Schmerzen?«
»Ja, aber es geht. Sag, bist du ein Engel? Es heißt, im Augenblick des Todes kommt jemand, der einen abholt und auf die andere Seite geleitet. Bist du das?«
»Nein, ich bin bloß ein Junge, der sich verlaufen hat.«
Die blecherne Stimme erklang erneut. Jeb kam sie diesmal noch lauter vor.
»Sie da, bei dem alten Mann. Erheben Sie sich und treten Sie zurück. Dies ist Sperrgebiet, Sie haben hier nichts zu suchen. Drehen Sie sofort um! Verlassen Sie die Straße.«
»Aber er ist verletzt!«, rief Jeb in das Nichts hinter der Absperrung zurück.
»Jemand wird sich um ihn kümmern. Verlassen Sie die Straße!« Der Alte hustete wieder. »Du musst hier weg, Kleiner. Die spaßen nicht.«
»Was wird aus Ihnen?«
»Ich glaube, ich bleibe noch ein wenig hier in der Sonne liegen. Es ist ein schöner Tag und der Himmel sieht wunderbar aus.«
Jeb schüttelte den Kopf. Der alte Mann war anscheinend vollkommen weggetreten, wenn auch seine Stimme klar und fest klang. »Ich bringe Sie hier weg. Wie heißen Sie?«
»Fernando. Fernando Caracas junior. Mein Vater, Gott hab ihn selig, hieß ebenfalls Fernando, aber er ist nun schon lange tot.«
Jeb sah immer noch kein Blut aus der Wunde sickern. Trug Fernando eine Schutzkleidung darunter? Aber so dünn, wie er aussah, konnte er sich das nicht vorstellen. Dennoch: Er musste den Mann von hier wegbringen. »Ich helfe Ihnen auf.« Er ignorierte das Gebrabbel des Alten, der scheinbar munter weitererzählen wollte, und machte sich daran, ihn aufzurichten. Jeb legte den Arm des Alten um seine Schulter, erhob sich aus den Knien und zog ihn auf die Füße. Wackelig lehnte sich Fernando an ihn an.
»Mein Schild. Ich brauche mein Schild.« Er deutete auf das Plakat, das er an einem Stück Holz befestigt hatte. Jeb hob es auf und drückte es ihm in die zitternde Hand.
Alle Menschen sind Brüder! Lobet den Herrn!, stand darauf. Jeb verstand nun noch weniger, warum auf den Alten geschossen worden war. Noch während er darüber nachdachte, erklang ein weiterer Knall und ein Stück Asphalt spritzte neben seinem rechten Wanderstiefel weg.
»Das war ein Warnschuss«, sagte die Blechstimme. »Eine weitere Warnung wird es nicht geben. Lassen Sie den Mann los! Heben Sie die Hände.«
»Junge, du musst hier weg.«
»Ich werde mit ihnen reden«, sagte Jeb entschlossen.
»Da gibt es nichts zu reden. Entweder sie erschießen uns oder sie werfen uns beide ins Gefängnis, was noch schlimmer wäre. Niemand kommt von dort zurück.«
»Ist es so schlimm?«
Traurig schüttelte der Mann den Kopf. »Es sind schlimme Zeiten.«
Jeb traf eine Entscheidung. Noch bevor sich Fernando weigern konnte, schritt Jeb los. Der Körper des Alten baumelte schlaff in seinem Arm, die Schuhe schliffen über den Asphalt, erzeugten ein einsames Geräusch in der atemlosen Stille.
Würden die Soldaten auf ihn schießen? Er war unbewaffnet, stützte einen Verletzten. Konnten diese Menschen so brutal sein?
Wieder ein Knall. Steinsplitter jagten über die Straße und vor seinen Füßen war ein kleines Loch erschienen.
»Dies ist definitiv der …«, brüllte jemand, aber Jeb hörte nicht zu, sondern konzentrierte sich auf seine Schritte.
In seinem Nacken kribbelte es. Er hatte das Gefühl, dass jederzeit eine Kugel in seinen Rücken schlagen und ihn niederwerfen konnte. Trotzdem ging er weiter.
Nichts geschah.
Die Stimme schwieg.
Plötzlich tauchte León vor ihm auf. Ohne ein Wort packte er den freien Arm des Alten und gemeinsam zogen sie ihn aus der Schusslinie, in die Deckung eines Hauseingangs.
»Was machst du da?«, raunte León. »Willst du unbedingt erschossen werden?«
»Du hast es beobachtet?«
»Ja. Alles. Was sind das für Drecksäcke?«
Jeb nickte mit dem Kopf auf Fernando. »Er sagt, das Militär und die Polizei. Anscheinend herrscht eine Ausnahmesituation. Das Stadtviertel wurde abgeriegelt …« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Sie haben Pablo Gonzales erschossen«, krächzte der Alte. Er streckte León die Hand entgegen. »Ich heiße übrigens Fernando.«
»Mein Name ist León.« Bei dem Namen Pablo Gonzales war ihm ein Schauer über den Rücken gelaufen. Irgendwie … irgendwie kam ihm der Name vertraut vor.
»Junge, du machst mir Angst!« Der Finger des Alten fuhr über Leóns Tätowierungen. »Bist du den falschen Weg gegangen?«
Jeb fand die Bemerkung seltsam, doch León ging nicht darauf ein, sondern fragte stattdessen: »Wer ist Pablo Gonzales?«
»Das wisst ihr nicht?«, fragte der Alte erstaunt. »Kommt mir jetzt nicht mit der Geschichte, dass ihr gerade erst eingetroffen seid. Jeder in den Vereinigten Staaten kennt Pablo Gonzales.«
Bei den Worten »Vereinigten Staaten« zuckte Jeb zusammen. Sie waren heimgekehrt. Endlich, nach all den Qualen und Strapazen hatten sie nach Hause gefunden.
Er blickte zu León, doch dessen Miene blieb verschlossen. Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, starrte er den Mann an.
»Tatsächlich«, sagte Fernando jetzt. »Ihr habt keine Ahnung, wovon ich rede. Erstaunlich.«
»Es ist eine lange Geschichte«, meinte León.
»Jaja, das hat dein Freund schon gesagt. Danke für eure Hilfe.« Der Alte hustete und fing sich erst nach einigen Sekunden wieder. Jeb zog die Anzugsjacke auf und betrachtete die Schusswunde. Genau wie der zerschlissene Anzug war auch Fernandos weißes Hemd darunter von einem sauberen Einschuss durchlöchert.
Aber … es war tatsächlich kein Blut zu sehen. Kein einziger Tropfen. Und doch war die Haut darunter nicht unversehrt. Die magere Schulter des Alten hing irgendwie schief im Gelenk, wie nach einem schweren Schlag. Und da war ein Loch, gerade so groß wie ein Projektil.
Jeb konnte seinen Blick nicht von der verletzten Haut und dem rosigen Fleisch darunter abwenden. Er streckte seine Hand aus, zuckte aber, kurz bevor er Fernando berühren konnte, zurück.
Er hatte doch mit eigenen Augen gesehen, dass die Kugel ihn getroffen hatte! Wo zum Teufel war das Blut? Verwirrt starrte er León an, der ebenso mit aufgerissenen Augen die trockene Wunde betrachtete.
»Ist es sehr schlimm?«, fragte Fernando nun, seine Stimme immer noch klar und ruhig.
Jeb fasste sich als Erster. »Jaja … wir sollten Sie zu einem Arzt bringen.«
»Nein, nein«, mischte sich Fernando ein. »Ich brauche keinen Arzt. Ich fühle mich gut, ich habe kaum Schmerzen. Außerdem ist meine Tochter Carmelita Krankenschwester. Keine gute zwar …« Er kicherte. »… aber sie wird mir helfen.«
»Wo wohnen Sie?«, fragte Jeb, der sich zwingen musste, den Blick in die Augen des Alten zu richten. Nicht auf seine wundersam durchlöcherte, aber fast unverletzt wirkende Schulter. Er hatte keine Schmerzen?
»Oh, nicht weit von hier.« Fernando lächelte und wies mit einem Arm in eine Richtung.
»Zeigen Sie uns den Weg und wir bringen Sie hin.«
»Gleich, Jungchen, lass mich erst zu Ende erzählen. Ihr wolltet doch alles über Pablo hören, richtig?«
Jeb und León wechselten einen Blick. Dann fragte León: »Was ist jetzt mit diesem Pablo?«
»Pablo Gonzales war ein ganz normaler Mann. Frau, zwei Kinder, arbeitete bei einer Autovermietung und ging sonntags brav zur Kirche. Ein Vorzeigeeinwanderer, wie die Gringos sagen würden.« Er seufzte. »Vor einer Woche wollte Pablo zur Arbeit fahren, als er von vier weißen Polizisten angehalten wurde. Einer der Beamten behauptete später, er habe nach einer unter seinem Sitz versteckten Waffe gegriffen, also erschossen sie ihn. Notwehr, hieß es. Pablo Gonzales wurde von siebzehn Kugeln durchsiebt. Er hatte so viele Löcher in seinem Körper, dass der Pathologe bei der Obduktion kaum noch Platz für sein Skalpell fand.« Fernando fuhr sich durch die Haare. »Das Problem bei der ganzen Geschichte war, Pablo hatte nie eine Waffe besessen, seine Frau beschwor es und was hätte er als kleiner Angestellter damit auch gewollt, aber im Fahrzeug wurde eine 38er gefunden. Geladen.«
Fernando schaute León und Jeb aufmerksam an, aufgeregt schon fast, als würde er später von ihnen hören wollen, wie ihnen die Geschichte gefallen hatte. Wie ein warmherziger Märchenonkel. Nicht wie einer, der gerade vom Militär angeschossen worden war.
»Nur woher kam das Ding?«, fuhr Fernando nun fort. »Die Polizei behauptete, es wäre seine Waffe, aber alle im Barrio kannten die Wahrheit. Vier weiße Cops hatten einen armen Mex abgeknallt. Einfach so. Weil er ein Greaser war, ein Latino. Vielleicht hat Gonzales sie beleidigt, was weiß ich, aber siebzehn Kugeln können keine Antwort darauf sein.«
»Und was geschah dann, wieso ist hier jetzt alles abgeriegelt? Wegen siebzehn Kugeln und einer untergejubelten Waffe?« Jeb kniff die Augen zusammen. Plötzlich kam ihm die Welt doch nicht mehr so vertraut vor wie noch vor ein paar Minuten. Wie lange waren sie überhaupt schon hier? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, er fühlte sich rastlos, er war durstig und er spürte, dass ihnen die Zeit davonlief.
»Menschen demonstrierten gegen die willkürliche Polizeigewalt. Dann brachen die ersten Unruhen aus. Autos wurden angezündet. Geschäfte geplündert. Zunächst versuchte die Polizei, sich noch zurückzuhalten, aber als eine Streife auf offener Straße gestoppt wurde und der Mob zwei Beamte zu Tode prügelte, da griff man zu drastischen Maßnahmen. Das Militär fuhr auf. Das Barrio wurde abgeriegelt. Der Ausnahmezustand ausgerufen. Seitdem schießen sie auf alles, was sich ihnen nähert oder versucht, das Viertel zu verlassen.«
León setzte zu einer Frage an, aber Fernando unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Ich bin noch nicht fertig.« Er räusperte sich. »Das alles war noch nicht das Schlimmste, denn nun sahen die Straßengangs ihre Stunde gekommen, alte Rechnungen zu begleichen. Harte Jungs wie dein Kumpel hier. Die Straßen wurden zu Schlachtfeldern. Es geht um Macht, Drogen und Geld. Viel Geld. Wer herrscht wo? Wer kontrolliert das Viertel? Aber nicht genug damit. Jetzt, da sie niemand aufhalten konnte, begann das Morden und Plündern. Geschäfte, aber auch Privatpersonen wurden ausgeraubt. Sie nahmen sich, was sie kriegen konnten. Das öffentliche Leben brach zusammen. Die Stromversorgung war gekappt. Der Straßenverkehr kam abrupt zum Erliegen, denn es gab kein Benzin mehr. Woher auch? Nichts kam ins Barrio hinein, nichts heraus. Wir kochen hier in unserem eigenen Saft. Draußen die schießwütigen Cops und das Militär, hier drin drogensüchtige Killer, die vor nichts haltmachen. Ganz ehrlich, Jungs, ihr habt euch einen prima Zeitpunkt ausgesucht, hier aufzutauchen.«
Jeb und León wechselten einen eindringlichen Blick. Es war León, der schließlich fragte: »Was meinen Sie mit: Jungs wie ich? Warum sollte ich mit denen etwas zu tun haben?«
»Hast du mal in den Spiegel geguckt? Du siehst den Burschen dieser Gegend mit deinen Tätowierungen verdammt ähnlich.«
»Wo sind wir hier? Wie heißt diese Stadt?« Jeb sah, dass León schluckte. Und Jeb hielt den Atem an.
»Ihr seid komische Kerle. Das wisst ihr auch nicht?«
»Nein«, knurrte León.
»Dann heiße ich euch willkommen.« Der Alte lächelte. »Willkommen in Los Angeles.«