Der Gang, der vor Mary lag, war in Düsternis gehüllt. Nur ein schwaches Licht hinter ihr, am Ende des scheinbar endlosen Flures, leitete sie. Sie bewegte sich mechanisch darauf zu.
Wieder hatte die Angst sie gepackt und zu jedem Schritt musste sie sich zwingen. Mit der Hand stützte sie sich an der Wand ab, während sie zögerlich und langsam vorwärtstappte. Schlurfend folgte sie den jetzt wimmernden Hilferufen ihres kleinen Bruders in die Dunkelheit. Eine Finsternis, in der viel zu große, grobe Hände regierten. Ihr Vater würde dort sein. Sie musste David vor ihm bewahren.
So soll es sein, dachte Mary. David ist so zart wie ein kleiner Vogel. Vater wird ihm die Flügel brechen, sodass er niemals fliegen kann. Nein, nein, niemals! – und wenn ich dabei sterbe.
Aber da war die alles umfassende Angst. Klammernd hielt sie Mary in ihren Fängen, sie raubte ihr den Atem und ließ sie zittern.
Das Schluchzen ihres Bruders schien nun den ganzen Gang zu erfüllen, hallte von allen Seiten wider. Es zerriss Mary das Herz. Sie presste fest die Zähne aufeinander, richtete sich auf und erhöhte ihr Schritttempo. Und obwohl ihre Füße am Boden zu kleben schienen, die Furcht vor dem, was sie sehen würde, an ihr zog, Mary machte einen weiteren Schritt.
David, halte durch. Ich komme. Gleich ist alles vorbei.
Ihre Füße klatschten kraftlos auf den Boden. Mary spürte, dass sie immer schneller lief. Bald rannte sie schließlich, doch das Licht am Ende des Ganges schien sich immer weiter zu entfernen. Erschöpft blieb Mary stehen. Ihr Atem keuchte. Was passierte hier?
»Mary!«, rief ihr Bruder kläglich aus der Finsternis.
Mary hob den Kopf an, das Licht war verschwunden. Entschlossen streckte sie ihre Arme aus, ging ein paar Schritte geradeaus und traf auf eine solide Wand. In einem Anflug von Panik dachte sie, sie wäre in einer Sackgasse gelandet, doch als sie über die Wand tastete, bemerkte sie, dass der Gang sich vor ihr teilte. Ein Weg führte nach links, der andere in die entgegengesetzte Richtung. Beide unterschieden sich durch nichts. Beide lagen in tiefer Dunkelheit. Wohin sollte sie jetzt gehen? Sie zwang ihren Atem zur Ruhe und lauschte.
Links wisperte die Stimme ihres Bruders. Rechts ebenso, nur dass sie aus diesem Gang auch noch andere Geräusche vernahm.
Dann hörte sie von rechts den schweren Atem eines Mannes. Ein schwaches Stöhnen drang zu ihr. Vater! Und … war da nicht ein blasser Lichtschimmer?
Mary spürte, wie ein kaltes Lächeln über ihr Gesicht zog. Es war so weit. Sie würde ihm gegenübertreten. Ihre Beine drohten erneut aufzugeben und Marys Hände zitterten unkontrolliert, aber dieses Mal würde sie der Angst keine Macht über sich geben.
Mary biss sich auf die Lippen, ein metallischer Geschmack erfüllte ihren Mund.
Vater, ich bin bereit.
Ohne weiteres Zögern schritt sie in den rechten Gang hinein.
Sie hatte keine Kraft mehr für ihre Wut. Wenn das ein Spiel war, dann wollte Jenna die Regeln erlernen. Daher war sie nicht einfach blindlings losgegangen, als die Wände im Boden versunken waren, sondern hatte die Umgebung abgesucht. Und es gab tatsächlich einen winzigen Unterschied in all der weißen Gleichförmigkeit. Zuerst hatte sie sie kaum wahrgenommen, aber wenn man sie erst einmal entdeckt hatte, waren sie kaum zu übersehen.
Im Boden waren schwache Markierungen angebracht, von denen Jenna glaubte, dass sie Begrenzungslinien für die Mauern waren, die später an dieser Stelle einen Raum bilden würden. Jenna war auf die Knie gegangen und den Linien gefolgt, bis sie auf zwei parallel laufende Linien stieß, die einen gleichmäßigen Abstand von ca. zwei Metern zueinander hielten und weit in die Ferne zu führen schienen.
Ein Gang, war es ihr durch den Kopf geschossen. Gänge führen irgendwohin. Womöglich zu einem Ausgang.
Bevor die Wände wieder hochgefahren waren, hatte sie sich zwischen die Linien gestellt und sich von den Wänden umschließen lassen. Sie war tatsächlich in einem Gang gelandet.
Und diesem folgte sie nun. Immer tiefer führte er sie in diese … Konstruktion. Oder auch heraus, dachte Jenna, auch wenn sie versuchte, ihre Hoffnung zu zügeln.
Die Luft hier drin war angenehm kühl und trocken. Aber Jenna hatte ein anderes Problem: brennenden Durst und Hunger. Da sie aber keinerlei Vorräte gefunden hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterzumarschieren und zu hoffen. Sie musste Jeb finden und die anderen.
Jeb war wahrscheinlich wie sie hier drin gefangen, aber Jeb war stark, er hatte in mehr als einer Situation bewiesen, dass er aus eigener Kraft überleben konnte. Trotzdem war sie unruhig. Auf seinen Schutz konnte sie verzichten, nicht aber auf seine Nähe.
Wenn du nur wüsstest, was ich für dich empfinde.
Jenna schwor sich, wenn sie ihn finden würde, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Er sollte wissen, wie es um ihr Herz stand.
Jenna war so tief in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass es im Gang heller geworden war. Sie konnte keine direkte Lichtquelle entdecken, aber eindeutig hatte das Weiß der Wände an Kraft gewonnen, sie schienen jetzt fast von innen zu leuchten.
Makellos, fast blendend hell lag der Gang vor ihr, ohne Türen oder Fenster.
Makellos?
Etwas störte die weiße Fläche der Wände. Zunächst schien es nur ein Flirren zu sein, aber nachdem Jenna näher getreten war und die Wand rechts von ihr untersuchte, begriff sie, dass diese Wand alles andere als makellos war.
Jemand hatte mit krakeliger Schrift etwas in die Wand gekratzt.
Jenna hielt die Luft an.
Kathy war hier!
León glotzte immer noch auf den Rucksack. »Ich fass es nicht!«
»Bist du sicher, dass es dein Rucksack ist?«, fragte Mischa.
»Ich würde das Scheißding unter Millionen erkennen.« León fuhr sich über seinen glatten Schädel und schaute auf. Irgendwie beruhigte ihn diese Geste, aber trotzdem wurde er nicht schlau daraus, was der Rucksack zu bedeuten hatte.
Mischa schaute ihn unverwandt an. »Ist noch was drin?«
»Nein, nichts mehr. Nur die Socken, die ich nie angezogen habe.«
León zeigte Mischa nicht, wie sehr ihn dieser Fund beunruhigte. Wenn es möglich war, dass der Rucksack in dieser Welt wieder ans Tageslicht kam – konnte das auch jedem anderen Gegenstand gelingen? Wurden sie doch verfolgt, ohne dass sie es bis jetzt bemerkt hatten? Wie zum Teufel kam der Rucksack hierher?
León wusste: Ab sofort mussten sie mit allem rechnen. Selbst auf Feinde musste man sich vorbereiten. Und sie hatten nichts. Nicht mal Waffen.
»Was machen wir jetzt?«, unterbrach Mischa seine Gedanken.
»Weitergehen, was sonst.«
Mischa trat einen Schritt heran. Beinahe sanft legte sich seine Hand auf Leóns Schulter. Ein unangenehmer Schauer durchlief Leóns Körper. Er mochte es nicht, berührt zu werden, nicht auf diese Art und schon gar nicht von einem Mann. Trotzdem ließ er Mischa gewähren, er meinte es vermutlich gut. Wollte ihn trösten, warum auch immer. Aber schließlich hielt León es nicht mehr aus und drehte sich weg, tat so, als blicke er sich im Raum um.
»Wie viele von diesen beschissenen Räumen gibt es eigentlich?«
Mischa zuckte mit den Schultern. »Spielt es eine Rolle?«
»Ja, tut es.«
»Bisher hat das Labyrinth oder wo auch immer wir gelandet sind, uns eine faire Chance gegeben, der Welt zu entkommen, in der wir gelandet sind.«
»Kampf ums Überleben nennst du fair?«
»Okay, sagen wir, eine realistische Chance. Warum sollte es jetzt anders sein?« Mischa blickte ihn entspannt an und León verstand nicht, woher seine Gelassenheit kam. »Wir werden uns durch diese Welt kämpfen, bis wir auf die Tore stoßen, um dann eine weitere Welt zu entdecken.«
León schüttelte den Kopf. »Das klingt zu einfach. Und wenn ich eins weiß, dann, dass etwas nie einfach ist. Was ist zum Beispiel mit den anderen?«
»Sie werden hier irgendwo sein, früher oder später finden wir sie.«
»Du klingst nicht so, als wäre es dir besonders eilig damit. Und überhaupt: Woher willst du das wissen?«
»Was ist denn mit dir los?«, wollte Mischa wissen. Sein Gesicht hatte einen unwilligen Ausdruck angenommen. »Du warst doch immer der Einzelkämpfer, hast gedroht, die Gruppe zu verlassen, um dich allein durchzuschlagen. Warum hast du es bisher nicht getan? Warum bist du geblieben, obwohl wir dich doch anscheinend bloß aufhalten?«
Mary, dachte León. Ich bin wegen Mary geblieben und wegen der Einsamkeit, die ich nicht mehr ertragen kann, seit ich Gemeinschaft gefunden habe.
»Ist doch egal, warum, ich bin geblieben und fertig.«
»Mary! Sie ist der Grund, stimmt’s?« Mischa sah ihn herausfordernd an.
»Was soll das jetzt wieder?«, knurrte León.
»Du kannst es ruhig zugeben«, meinte Mischa. Die Intensität in Mischas Augen bei dieser harmlosen Frage ließ León stutzen. Etwas gefiel León nicht im Blick seines Gegenübers.
»Wirst du dich auf ihre Seite stellen?«
»Ich stehe auf keiner Seite von irgendwem. Was soll die blöde Fragerei?«
»Wir werden immer weniger, der Kampf um die Tore wird härter. Und du willst mir erklären, dass du nicht auf irgendjemandes Seite stehst?«
»Was willst du damit sagen?«
»Angenommen wir finden die anderen und wir alle erreichen die Tore, was, glaubst du, passiert dann?«
»Wir werden um die Tore losen müssen.« León ahnte, worauf Mischa hinauswollte. Doch wenn er es laut zugab, wäre er dann nicht angreifbar, würde ihn das nicht schwach machen?
Mischa lachte auf. Seine Augen blitzten. »Selbst wenn wir losen, meinst du, dass Jeb Jenna zurücklässt oder andersherum?« Mischa schüttelte energisch den Kopf. »Am Anfang waren wir sieben und die Chance gering, vom Los getroffen zu werden. Das Schicksal der anderen war uns egal. Jetzt ist das anders.«
León wollte etwas einwenden, doch Mischa hob die Hand. »Du weißt, wie es laufen wird, und ich weiß es auch. Ob was zwischen dir und Mary ist, weiß ich nicht genau. Du hast in der letzten Welt dein Leben riskiert, um sie zu retten. Und was sagt mir das?« Er beugte sich ein wenig vor, bis seine Nasenspitze dicht vor Leóns Gesicht war. »Werde ich eine faire Chance bekommen oder stehe ich jeweils zwei von euch entgegen?« Mischa richtete sich wieder auf. »Versteh mich, León, ich will einfach wissen, woran ich bin.«
León sah ihn ernst an. »Ich verstehe dich, aber da ist nichts zwischen mir und Mary.«
»Und das soll ich glauben?«
Nun beugte sich León vor. »Glaub es oder lass, das ist mir egal.«
León hatte keine Lust mehr auf Mischas Fragen, seinen bohrenden Blick. In einem anderen Leben hätte er ihn vermutlich einfach stehen gelassen. Oder er hätte ihm eine reingehauen. Seinen Körper sprechen lassen, ja, das konnte er. Worte hingegen waren noch nie seine bevorzugten Mittel zur Verteidigung gewesen. Er spürte, dass etwas anderes hinter Mischas Fragerei steckte, aber er konnte sich keinen Reim auf den anderen machen.
Er wusste nur, dass er sich in dessen Gegenwart zunehmend unwohl fühlte. Und dass Mischa nützlich war, um hier herauszukommen. Das war es, was zählte.
Mischa hingegen schien es nicht gerade darauf anzulegen, die anderen zu finden. León bezweifelte, dass Mary, Jeb oder Jenna ähnliche Fähigkeiten besaßen. Das hieß, dass sie alle von Mischa abhängig waren, ob sie wollten oder nicht.
Das kann noch ganz schön heiß werden.
León beäugte seinen Wegbegleiter von der Seite. Gerade versuchte Mischa, ein weiteres mathematisches Rätsel an der Wand zu lösen. Da fiel ihm plötzlich auf, dass Mischa nicht mehr über seine verletzten Rippen sprach.
War die Verletzung schon abgeheilt? Oder biss Mischa einfach nur die Zähne zusammen?
León starrte ihn an, wie der andere ruhig und kontrolliert die Hand über die Zahlen fliegen ließ, so als hätte ihre Auseinandersetzung eben gar nicht stattgefunden.
»Sag mal, Mischa«, fragte er betont ruhig. »Was machen eigentlich deine Rippen? Noch Schmerzen?«
Erst reagierte Mischa nicht. Dann drehte er sich um, ein verblüffter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Nein«, sagte er schließlich und ließ probehalber den Arm kreisen. »Alles okay. Merkwürdig, bis gerade eben habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Scheint schon alles verheilt zu sein. War wohl nicht so schlimm.«
Oh doch, das war es. Ein oder zwei deiner Rippen waren mindestens stark geprellt und jetzt willst du davon nichts mehr spüren?
»Dann ist ja gut«, meinte León.
Eine Tür erschien in der Wand, vor der Mischa stand. Ohne zu zögern, schritt er hindurch. León folgte ihm.