Jenna schob den schweren Gullydeckel zurück in seine Position. Von unten erklangen Schüsse, sie wusste, ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Blitzschnell wandte sie sich um, suchte die Gegend mit ihrem Blick ab. Jeb neben ihr tat instinktiv das Gleiche.
Die Nacht war noch nicht vorüber, aber die erste Dämmerung erhellte ein wenig den Platz vor ihnen und versprach einen weiteren sonnigen Tag. Noch war der Himmel dunkelblau, fast schwarz, es war kein Problem, den Stern auszumachen. Fast senkrecht funkelte er über ihren Köpfen. Einen flacher Hügel lag noch vor ihnen, aber dahinter leuchtete schon das Blau der Tore. Sie hatten es fast geschafft.
Der Platz war verlassen.
Wieder hörten sie Schusssalven von unten.
Mary, Jenna und Jeb liefen mit müden Schritten auf die Tore zu, die in Ankunft ihrer Erwartung leuchteten. Keiner schaute zurück, aber Jenna wusste, sie alle drei waren in Gedanken unten in der Kanalisation.
Sie würden nicht um die Tore kämpfen müssen, aber es fühlte sich furchtbar an, auf diese Weise zu den Überlebenden zu gehören.
Die Gegend hier war leer. Es gab keine Gebäude mehr. Hier begann die Wüste. Hinter ihnen lag ein flaches Gebäude, umzäunt von einem hohen Maschendrahtzaun. Das Wasserwerk oder zumindest der Teil, der davon über der Erde lag. Jenna schaute zu Jeb. Dann zu Mary.
Jenna hatte die Hände unbewusst zu Fäusten geballt, sie schmerzten vor Anspannung. Stumm presste sie die Lippen aufeinander. Tränen liefen über ihre Wangen. Mary, die neben ihr ging, wirkte wie eine Tote. Sie hatte aufgehört zu weinen. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, mit hängenden Schultern starrte sie dumpf auf den von der Sonne hart gebackenen Boden.
Schritt um Schritt schleppten sie sich vorwärts. Sie fasste Mary an der Hand und zog sie mit sich.
Die Schüsse aus dem Gully waren verstummt. Das konnte nur eines bedeuten. León war tot. Jeden Augenblick konnten hier die Muerte negra auftauchen. Für Trauer war jetzt keine Zeit.
Auf ihrer anderen Seite ging Jeb mit großen Schritten in Richtung der Tore, immer wieder nach hinten schauend. Mary und Jenna stützten sich mittlerweile gegenseitig, denn auch Jenna war erschöpft. Am Ende.
Es war nicht weit. Nur zwei Meilen. Nachdem sie den Hügel erklommen hatten, blickten sie in ein kleines Tal dahinter. Windgeschützt wuchsen hier trockenes, zähes Gras und einige zerzauste Büsche.
Und dort waren sie.
Blau glühend in der Dunkelheit. Sie pulsierten gleichmäßig, wie ein langsamer, unaufgeregter Herzschlag.
Drei Portale. Drei Tore in die nächste Welt.
Was mochte sie diesmal erwarten? Würde alles noch schlimmer werden?
Darauf gab es keine Antwort und Jenna wusste das. Sie drängte die Gedanken beiseite und fasste Jebs Hand. Gemeinsam stapften sie den sandigen Hügel hinab.
Vor den Toren stellten sie sich auf.
Jenna dachte stumm an León und Jeb sprach ein leises Gebet für ihn. Dann schaute Jenna zu den anderen. Jeb sah sie an. Mary blickte zu Boden.
»Du zuerst«, sagte sie zu ihr.
Überraschenderweise zögerte Mary nicht. Jeb hatte geglaubt, sie würde sich vielleicht weigern hindurchzugehen, aber sie machte einfach einen Schritt, verschwand und mit ihr das Portal.
Jeb nickte. Dann schritt auch er hindurch.
Jenna schaute sich ein letztes Mal um. Diese Stadt aus Hitze und Gewalt – sie war wie ein Versprechen auf Tod und Schmerz gewesen. Und doch hatten sie es geschafft.
Noch einmal atmete Jenna tief ein, schmeckte den Duft der Wüste, dann folgte sie den anderen.
Und verließ diese Welt.