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Als sie wieder auf die Straße traten, wehte ihnen der Wind den Qualm der in der Ferne wütenden Feuer ins Gesicht. Jeb hatte sich vom Fenster aus einen Überblick verschafft und gesehen, dass sich die Mitglieder der Muerte negra fürs Erste zurückgezogen hatten. Das konnte nichts mit ihnen zu tun haben, denn so viel Zeit war nach der Erschießung von Cristiano Rabán nicht vergangen. Jeb vermutete vielmehr, dass den Typen die Munition ausgegangen war oder dass es einfach niemanden mehr hier draußen gab, auf den man schießen konnte. Noch immer fühlte er sich schwach, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er hasste diesen Zustand, in dem er das Gefühl hatte, sein Körper gehorchte ihm nicht, besonders nach dem weißen Labyrinth, das ihn seine letzten Reserven gekostet hatte. Stattdessen machte er weiter. Aber es war so: Jeb hatte Angst, irgendwann zusammenzubrechen. Den Rücken gegen eine Hauswand gepresst, um kurz zu verschnaufen, stand er wie die anderen im Schatten eines Hauses und sondierte die Gegend.

Alles wirkte wie ausgestorben. Außer dem allgegenwärtigen Knistern der Feuer war nichts zu hören. Eine gespannte Atmosphäre lag über allem, so als hielte die Welt den Atem an, um zu verfolgen, was als Nächstes geschehen würde.

»Du gehst vor«, zischte León und tippte Loco auf die Schulter. Der Hijo zögerte nicht. Geduckt im Schutz der Häuser hetzte er die Straße hinunter.

Es wurde noch heißer. Gleich mehrere Gebäude brannten, Flammen loderten aus den scheibenlosen Fenstern heraus.

Hier haben mal Menschen gelebt, dachte Jeb. Eltern haben ihre Kinder ins Bett gebracht, Familienfeste wurden gefeiert und nun? Alles zerstört.

Irgendwann würden die Unruhen enden, die Behörden wieder die Kontrolle über das Stadtviertel erlangen, aber die zerstörten Häuser schienen so endgültig und die Gewalt so allgegenwärtig, dass Jeb sich fragte, wann hier jemals wieder so etwas wie ein normales Leben stattfinden sollte. Viele hatten alles verloren. Und dabei war es so sinnlos. Arme Menschen raubten arme Menschen aus, verkauften ihnen Drogen, bestahlen einander. Hispanics töteten Hispanics. Und was sollen wir hier mittendrin?, fragte sich Jeb, aber er spürte, dass es auf diese Frage keine und unendlich viele Antworten gab.

Ist es in unserer Welt genauso? Ich erinnere mich an vieles, an Dinge, Menschen und Ereignisse, die mich betreffen, aber was ist mit der Welt, in der ich lebe?

Er warf einen Blick auf León, der unmittelbar vor ihm lief.

León hatte gegen Mischa gekämpft, ihm das letzte freie Tor geraubt und ihn in der fremden Welt zurückgelassen. Ihn zum Tode verurteilt.

Und das nach allem, was Mischa für uns getan hat.

Aber da war noch mehr. León war nicht mehr der nur wütende, eiskalte Kämpfer. Er zeigte Verantwortung und mittlerweile konnte Jeb auch so etwas wie Gefühle in seinem Verhalten ausmachen. Andere Gefühle als Hass und Rachsucht. Zwischen Mary und León war etwas geschehen. Ab jetzt würde der tätowierte Junge Mary ebenso erbittert verteidigen wie er Jenna. Ein Konflikt war unvermeidlich. Wenn wir die Tore erreichen, wird es zum Kampf zwischen uns beiden kommen. Und jetzt, in diesem Zustand, werde ich wohl keine Chance gegen ihn haben.

In diesem Moment spürte Jeb seine müden Beine besonders intensiv. Wie weit würde seine Kraft noch reichen? Er erschauerte, als er daran dachte, wie blitzschnell León den Hispanic angegriffen hatte. Da war kein Zögern gewesen, kein Innehalten. Schon als León seinen Plan erzählt hatte, musste ihm klar gewesen sein, dass er sich würde wehren müssen, um sie zu retten. Was hatte er gesagt, als er mit Loco gesprochen hatte?

»Und das eigentliche Problem ist, dass einer entkommen ist.« Hatte er geplant, beide zu töten?

León schien das Töten leichtzufallen, aber selbst wenn nicht, würde er nicht zögern, sich und Mary den Weg freizumachen. Bin ich fähig, jemanden zu töten? Vielleicht sogar León selbst, wenn er sich Jenna und mir in den Weg stellt?

Egal, wie viele Gefahren sie überstehen würden und wie viele Probleme sie noch gemeinsam lösen würden, am Ende warteten immer diese Portale auf sie. Tore, die das Leben eines von ihnen unwiederbringlich beenden würde. Ja, er würde es versuchen, denn er würde nicht zulassen, dass Jenna zurückblieb. Tief in Gedanken versunken lief Jeb durch das lodernde Los Angeles, von dem er so sehr gehofft hatte, dass es ihn direkt nach Hause bringen würde.

Hoffentlich bin ich so tapfer wie Mischa, wenn es darauf ankommt.

Dann kam ihm der Gedanke, dass er freiwillig zurückbleiben konnte, aber was würde dann aus Jenna? In der nächsten Welt würde León dafür sorgen, dass er und Mary die freien Tore ergatterten, er würde Jenna bedenkenlos zurücklassen.

Jeb, denk doch mal nach. Wenn Jenna leben soll, muss León sterben.

Jeb biss sich fest auf die Lippen. Hoffentlich habe ich die Kraft, es zu tun.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Loco plötzlich stehen blieb. »Ich höre etwas«, sagte er.

Alle lauschten.

Tatsächlich, noch weit entfernt, aber deutlich erklang ein Motorengeräusch. Diesmal wummerte kein Bass, wer immer da auf sie zufuhr, tat es konzentriert und langsam.

Sie suchen die Gegend ab. Nach uns. Eine falsche Bewegung und wir sind geliefert.

Loco gab ihnen ein Zeichen und sie rannten los. An der nächsten Ecke bogen sie ab und pressten sich in einen Hauseingang.

Der Wagen kam näher. Die Scheinwerfer tanzten über die Straße, dann war das Fahrzeug heran, stoppte genau an der Abzweigung. Jeb spürte sein Herz klopfen. Er hasste es, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Ein einziges Mal war er in seinem Leben vor etwas weggelaufen und er hatte sich geschworen, es nie wieder zu tun. Und jetzt stand er in einen Hausflur gepresst und betete darum, nicht entdeckt zu werden. Zur Untätigkeit verdammt.

Der Muerte negra hat es also inzwischen bis zu seiner Gang geschafft. Sie wissen jetzt, wie wir aussehen und nach wem sie suchen müssen.

Minutenlang verharrten die Typen in ihrem Wagen an der Kreuzung und beobachteten die Umgebung in alle Richtungen. Jeb konnte ihre Blicke regelrecht spüren. Seine Haut kribbelte wie verrückt, aber sich jetzt zu kratzen, wäre der blanke Wahnsinn. Noch immer verharrte das Gangfahrzeug. Das Jucken wurde zusehends unerträglicher, neben ihm presste sich Jenna flach an die Wand. Er hörte sie leise neben sich atmen. León, Mary und Loco waren zu einem einzigen Schatten verschmolzen. Jeb glaubte, keine Sekunde länger stillhalten zu können.

Beweg dich nicht. Keinen Millimeter oder wir sind alle tot. Lenk dich ab, schnell.

Unendlich langsam tastete seine Hand nach Jennas, er biss sich auf die Lippen, um sich mit dem Schmerz kurzzeitig abzulenken. Kaum hatte er Jennas Handgelenk berührt, umschloss sie seine Hand mit ihrer.

Dann endlich wurde der Motor des Autos wieder gestartet. Langsam rollte das Fahrzeug aus seinem Blickfeld. Jeb hielt es nun nicht mehr aus, zog ruckartig seine Hand zurück und begann, sich heftig zu kratzen und über beide Arme zu reiben.

»Was ist los?«, fragte León kaum hörbar. »Was machst du da? Die Typen können jeden Augenblick zurückkommen.« Dann wandte sich León an Loco. »Wohin jetzt?«

»Ich denke, die Straße hier runter«, kam es leise zurück.

»Du denkst?«, schimpfte León.

»Mann, das ist nicht mein Barrio. Ich kenn mich hier nicht aus, und wenn du es besser weißt, kannst du ja vorausgehen.«

León beugte sich ein wenig vor. Er hielt die Waffe fest in seiner Faust, die Mündung zeigte nach oben.

»Vergiss nicht, wer deine Knarre hat«, zischte er. »Und jetzt weiter.«

»Ach ja, die Knarre, die hatte ich fast vergessen. Zuerst behauptest du, ich wäre dein bester Freund, und dann drohst du mir damit, mich abzuknallen. Wie passt denn das zusammen?«

León zögerte. Jetzt war nicht der Augenblick, solche Dinge zu klären, aber andererseits spürte er, dass er Loco nicht mehr lange kontrollieren konnte. Loco ließ sich von der Waffe nicht beeindrucken, aber sie brauchten ihn, um hier wegzukommen. Um überhaupt eine Chance zu haben.

Je länger sie durch die Nacht liefen, desto fremdartiger erschien ihm alles. Sicher, es war auch nicht sein Viertel, trotzdem fühlte es sich fremd an, hier zu sein. León hatte erwartet, wenn er in sein wahres Leben zurückkehrte, mehr Sicherheit zu verspüren, aber das Gegenteil war der Fall. Alle seine Sinne waren geschärft und seine Instinkte machten ihn unruhig und ungeduldig. Eine unerklärliche Wut hatte ihn erfasst und trieb ihn nun voran. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich im Zaum zu halten, und die Tatsache, dass er jemanden erschossen hatte, wenn auch nicht vorsätzlich, machte es auch nicht besser. Nein, der alte Selbsthass war wieder da und er trennte ihn von Mary und den anderen.

Ich werde zum Tier und dabei habe ich mir geschworen, es nie wieder so weit kommen zu lassen.

Er fluchte innerlich.

»Was ist jetzt mit dir und mir, hombre?«, fragte Loco. »Hast du mir was zu sagen?«

»Ich weiß genau, wer du bist. Ich kenne all die anderen aus der Gang. Ich weiß alles über euch. Euer Hauptquartier liegt in einem alten Keller, den man nur über eine abschließbare Stahlklappe und eine Leiter erreichen kann. Dort bunkert ihr euer Geld, Drogen und Waffen. Ich war oft genug dort unten mit dir, habe Gras geraucht und Tequila getrunken, den dein Alter in einer Öltonne brennt.«

Loco sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich weiß noch mehr. Deine kleine Schwester Maria starb im Alter von zehn Jahren und das macht dir heute noch zu schaffen, auch wenn du nicht darüber redest. Deswegen suchst du die Gefahr. Aber eigentlich suchst du den Tod und alle halten das für Mut und nennen dich den Verrückten.«

»Woher weißt du das alles?« Loco kam ganz nah, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten. »Sag es mir!«

»Ich war dabei. Bei allem. Auf Marias Beerdigung stand ich neben dir.«

»Unmöglich«, zischte Loco. »Ich kenne dich nicht.«

»Und es ändert nichts daran, dass ich dich kenne. Wie auch immer, wir stecken gemeinsam in dieser Scheiße und müssen hier irgendwie rauskommen. Also lass uns weitergehen.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber dann noch einmal um. »Nur eines noch, Loco. Wenn du versuchst, uns reinzulegen oder abzuhauen, werde ich dich umlegen. Auch wenn du einmal mein bester Freund warst, ich werde es tun. Sei dir dessen bewusst.«

Loco sagte kein Wort und lief los.

Sie huschten durch die Nacht. Inzwischen eine gefühlte Ewigkeit lang. Sie durchquerten Hinterhöfe, kletterten über Zäune. Einmal trafen sie auf einen Schäferhund, der sie wie verrückt ankläffte, als sie an ihm vorbeiflitzten, und allen schoss der Schreck in die Glieder, aber der Hund war an eine kurze Leine gekettet und konnte ihnen nichts tun. Bevor sein Bellen sie verraten konnte, waren sie schon wieder weiter.

Wann immer sie an eine Kreuzung kamen und eine Straße überqueren mussten, rannten sie, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her. Mehrfach hörten sie Motorengeräusche und zwei weitere Male kreuzte ein Gangfahrzeug ihren Weg, aber es gelang ihnen knapp, rechtzeitig ein Versteck zu finden und nicht entdeckt zu werden.

Jeb brauchte dringend ein Zeichen, dass alles gut werden würde, aber inzwischen leuchtete der erste Schein des beginnenden Tages hinter den Fassaden auf und sie wussten noch nicht einmal, wie weit es noch bis zu dieser ominösen Kathedrale war. Jeb hatte den Verdacht, dass sich Loco mehrfach verlaufen hatte, aber sie konnten nichts anders tun, als ihm unermüdlich zu folgen. Als sie an eine Kreuzung kamen, wurde aus der Ahnung Gewissheit. Hier waren sie schon gewesen. Jeb gab ein Signal, dass sie anhalten sollten.

Die Anstrengung, aber auch die Anspannung der Flucht zehrte an ihnen, sie waren ausgelaugt.

Im Lichterschein glänzten Marys erhitzten Wangen unnatürlich rot. Um Jenna machte er sich wie immer Sorgen, aber sie beklagte sich nicht. Er selbst fühlte sich, als wäre er kurz vor dem Zusammenbruch, und León sah auch nicht besser aus. Selbst Loco, der bisher am frischsten gewirkt hatte, lief schwer und keuchte bei jedem Schritt, den er tat.

Eigentlich müssten sie kurz Atem schöpfen, aber Stehenbleiben kam nicht infrage, sie mussten weiter. Ihr Ziel war die Kathedrale, aber was danach kommen würde, war Jeb ein Rätsel. Wusste überhaupt jemand, wie es weitergehen sollte?

»Was ist?«, keuchte León.

»Der Typ führt uns im Kreis herum. Hier waren wir schon. Ich erkenne die Häuser wieder. Vor einer halben Stunde sind wir hier vorbeigekommen.«

León drehte sich stumm um und sah Loco an. Jeb erschrak, als er den Zorn in Leóns Augen sah. Der alte León war zurückgekehrt und er war gefährlicher als je zuvor.

»Stimmt das?«, fragte er Loco. »Waren wir hier schon?«

Loco zuckte wie unter einem Schlag zusammen. »Ich weiß … nicht. Kann sein, vielleicht habe ich die falsche Abzweigung genommen.«

»Du machst Fehler, die mich und meine Freunde das Leben kosten können.«

»Doch nicht mit Absicht. Ich will hier weg oder glaubst du, mir macht es Spaß, durch die Gegend zu hetzen, die Muerte auf den Fersen?«

»Ich glaube gar nichts«, zischte León. »Aber du solltest dich konzentrieren, denn davon hängt es ab, ob du die Nacht überlebst oder nicht.«

Zwanzig Minuten später blieb Loco stehen. Vorsichtig schob er seinen Kopf um den Vorsprung einer Hauswand herum und spähte in die Ferne.

»Dort ist sie«, flüsterte er leise.

»Wir haben es geschafft«, meinte Mary.

»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte Loco. »Schaut euch das an.«

Jeb sah sofort, was der Hijo meinte. Alles war umsonst gewesen. Die ganze Rennerei durch die Nacht mit der ständigen Gefahr, aufgelauert zu werden, für nichts.

Gleich mehrere Fahrzeuge waren auffällig vor der Kathedrale abgestellt worden. Nicht unmittelbar davor, aber doch so, dass die Motorhauben in Richtung des Klinkerbaus wiesen, der dunkel und mit verschlossenen Toren vor ihnen lag. Selbst von hier aus entdeckte er Einschusslöcher an den Backsteinwänden, die davon zeugten, dass die Gewalt nicht einmal vor einem Haus Gottes haltmachte.

Jeb schaute sich sorgfältig die Umgebung an. Er war sich sicher, dass sich in den umliegenden Gebäuden Muerte negra versteckt hielten, aber er konnte niemanden entdecken. Auch die Fahrzeuge waren unbesetzt. Aber er hatte ja auch keine Erfahrung, wie man sich in so einem Viertel verhielt. Er fühlte sich so nutzlos und völlig ausgeliefert.

»Siehst du jemanden?«, wandte er sich an León.

»Sie sind da«, sagte León ruhig. »Ich kann sie spüren.«

»Was machen wir jetzt? Da kommen wir doch nie rein.«

Er warf einen Blick zu Jenna und Mary, die stumm und bleich vor Erschöpfung neben ihm standen. Ihre einzige Hoffnung war gerade zerstört worden. Bald ging die Sonne hinter den Häusern auf, sie befanden sich im Feindgebiet, wurden gejagt und es gab keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnten.

»Nein, da kommen wir nicht rein. Die knallen uns ab, bevor wir den Eingang erreicht haben. Es war alles umsonst.«

León wirkte seltsam ruhig, aber Jeb ahnte, welche Kräfte angesichts ihrer aussichtslosen Lage in seinem Inneren tobten.

»Wir müssen von der Straße runter. Sofort!«, sagte León und Jeb erschauerte beim eiskalten Klang seiner Stimme.

»Dort drüben gibt es ein hohes Gebäude. Sieht wie eine Schule aus. Lasst es uns dort versuchen?«, sagte Jenna und deutete die Straße hinunter.

Im aufkommenden Licht des neuen Morgens sah der Gebäudekomplex wie eine gigantische Schuhschachtel aus, aber er wirkte auch auf irgendeine seltsame Art und Weise vertrauenerweckend, was vielleicht daran lag, dass dort vor Kurzem noch junge Menschen wie sie selbst zur Schule gegangen waren. Es hatte Lachen in den Fluren gegeben, leise geflüsterte Unterhaltungen und den eintönigen Alltag des Unterrichts. Das alles hatten Mary, Jenna und er verloren. Bei León war sich Jeb ziemlich sicher, dass er schon lange nicht mehr zu Schule ging. Und nun lag ein Ort vor ihnen, der sie mehr als alles andere an ihre Heimat erinnerte. Warum sich also nicht dort verstecken?

»Ich bin dafür«, sagte Jeb.

Mary und León nickten. Loco zuckte mit den Schultern.

»Dann los«, meinte Jenna.

Die Abraham-Lincoln-Highschool war verlassen, aber sie hatten auch nichts anderes erwartet. Sämtliche Fenster im Erdgeschoss waren vergittert und zusätzlich von innen mit Brettern verschlagen worden, sodass niemand Brandsätze durchs Fenster werfen konnte. Vielleicht war das der Grund, warum die Schule im Gegensatz zu den meisten anderen Gebäuden der Umgebung unversehrt war.

Durch die Schutzmaßnahmen war es schwierig, ins Innere zu gelangen. Schließlich entdeckte León ein hinter Müllcontainern verstecktes Kellerfenster, das er einschlug. Das Splittern des Glases klang laut in der morgendlichen Stille, aber alles blieb ruhig. Es erklang kein Alarmsignal und in den Häusern der Nachbarschaft zeigte sich niemand an den Fenstern.

Nacheinander schlüpften sie ins Haus und fühlten sich seit ihrer Ankunft in dieser Welt zum ersten Mal sicher.

Hier gab es ungewöhnlicherweise Strom, wahrscheinlich lief irgendwo ein Notstromaggregat, und so konnten sie das Licht einschalten. Sorgen, entdeckt zu werden, mussten sie sich nicht machen. Die Holzbretter vor den Fenstern würden dafür sorgen, dass kein Licht nach draußen drang.

Über eine Treppe ging es nach oben ins Erdgeschoss. Hier erwartete sie ein langer Flur mit Metallspinden. Der Flur führte in eine Cafeteria. Sämtliche Tische waren am Boden festgeschraubt, die Stühle hingegen standen und lagen in der Gegend herum, so als wären die Schüler hastig aufgesprungen und aus dem Raum gerannt. Auf dem Boden lagen Servietten, Pappschachteln und Essensreste. Die Tische waren mit Tabletts bedeckt, auch hier jede Menge Papier und Nahrungsmittel.

León warf einen Blick auf das Essen. Er war hungrig, aber alles, was er fand, war entweder vertrocknet oder hatte begonnen zu schimmeln.

»Sieht aus, als wären alle schnell aufgebrochen«, sagte Jenna in seinem Rücken. »Wahrscheinlich gab es einen Alarm und alle sind hinausgestürmt.«

León nickte. Hinter ihm verteilten sich die anderen im Raum.

»Hier sind wir vorerst sicher«, meinte Jeb. »Wir können den Tag abwarten und uns etwas einfallen lassen. Wenn es dunkel wird, ziehen wir weiter, versuchen, die Tore zu erreichen.«

»Was quatscht ihr da? Was für Tore?«, fragte Loco.

»Halt dich da raus«, knurrte León.

»Ich habe Durst«, meldete sich nun Mary zu Wort.

»Schaut euch um. Hier steht so viel Zeug rum und außerdem liegen dort in der Ecke Schultaschen und Rucksäcke. Irgendetwas finden wir bestimmt«, sagte Jenna.

Die nächsten zehn Minuten wühlten sie alles durch. Jeb entdeckte einen Snackautomaten, als er um die Ecke des Saales in einen weiteren Gang blickte. Der Automat schien zu funktionieren, denn seine Beleuchtung, die Schokoriegel, Chips und Erdnüsse anzeigte, war an und blinkte verlockend. Allerdings hatten sie kein Geld und ohne Werkzeug war es unmöglich, den Apparat aufzubrechen.

Schließlich räumten sie einen Tisch frei und breiteten ihre Funde darauf aus. Es war wenig. Sie hatten drei Flaschen Wasser und eine Dose Coke gefunden. Dazu für jeden von ihnen einen Schokoriegel und zwei Tüten Erdnüsse.

»Nicht gerade viel«, seufzte Mary.

»Es muss reichen«, sagte León schlicht.

Während sich die anderen setzten, lief Jenna durch den Saal und verschwand durch eine Schwingtür. Kurze Zeit später war sie zurück.

»Dahinten ist eine Art Küche, aber die Kühlschränke sind leer. Es gibt Waschbecken, aber, warum auch immer, aus den Hähnen läuft kein Wasser. Wahrscheinlich abgestellt.«

»Das Gebäude ist groß, wir werden mehr Kram finden, wenn wir die Klassenzimmer und alle anderen Räume absuchen.«

León blickte ihn an, aber Jeb bemerkte es nicht, da er zu Jenna schaute, die sich neben ihn setzte.

Wie immer versuchst du, uns Hoffnung und Mut zu machen, Jeb. Aber ich sehe, dass deine alte Kraft noch nicht zurückgekehrt ist, und ich habe keine Ahnung, wie lange du noch durchhalten wirst.

León dachte darüber nach, was er tun würde, falls Jeb nicht mehr weiterkonnte.

Werde ich ihm helfen oder wie Jenna damals in der Steppe zurücklassen?

Er kannte die Antwort nicht und das überraschte ihn. León beschloss, den Dingen ihren Lauf zu lassen, er würde wissen, was zu tun war, wenn es so weit kam. Mary reichte ihm die Flasche Wasser über den Tisch und er begann hastig zu trinken, begnügte sich aber mit wenigen Schlucken.

Loco hatte es sich ihm gegenüber bequem gemacht und die Füße auf den Tisch gelegt. In León brodelte es. Locos Art, hier herumzufläzen, während er und die anderen seit Tagen um ihr Leben kämpften und nicht weiterwussten, machte ihn rasend. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er den anderen an, der lächelnd zurückblickte.

»Schuhe runter«, zischte León.

Die zwischen Jenna und Jeb geflüsterte Unterhaltung erstarb.

»Was?«, fragte Loco verblüfft.

»Du hast mich gehört. Runter mit den Füßen!«

»Spinnst du? Du hast mir gar nichts zu sagen!«

León sprang auf und wischte Locos Turnschuhe vom Tisch. Alles in einer einzigen Bewegung. Loco wurde beinahe vom Stuhl zu Boden geschleudert, konnte sich aber gerade noch abfangen.

Sein Gesicht zeigte Überraschung und genau das sorgte dafür, dass sich León wieder beruhigte. Der plötzlich aufgekommene Zorn war verflogen. »Wenn ich etwas sage, tust du es«, sagte er ruhig. Dann erhob er sich und verließ den Raum.

Jeb starrte in die Runde. Alle schwiegen. Selbst der Hijo sagte kein Wort. Leóns Ausbruch hatte sie alle überrascht und Jeb fragte sich im Stillen, ob León dabei war, die Nerven zu verlieren. Aber warum? León hatte noch nie Schwäche gezeigt, trotzdem war seine heftige Reaktion ungewöhnlich.

Loco stand vom Tisch auf. »Ich haue mich aufs Ohr. Habe seit zwei Tagen nicht geschlafen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verzog er sich in eine Ecke der Cafeteria, schnappte sich einen Rucksack und schob ihn unter den Kopf. Kurz darauf verkündeten seine regelmäßigen Atemzüge, dass er eingeschlafen war.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Jenna leise.

Jeb sah sie an. »Wir warten, bis es dunkel wird, und versuchen uns dann durch die Straßen zu schlagen.«

Mary erhob sich. »Ich gehe mal nach León schauen. Er sollte dabei sein, wenn wir Pläne schmieden.« Kurz darauf war sie verschwunden.

»Was sagst du zu León?«, fragte Jeb.

Jenna zuckte die Schultern. »Er hat ein Recht, auch mal auszuflippen. Niemandem ist etwas geschehen.«

»Schon, aber er macht mir Angst.«

Jenna lachte leise auf. »Tut er das nicht schon immer? So ist er eben. Wild und ein wenig unberechenbar.«

»Was wird sein, wenn wir die Tore erreichen?«, hakte Jeb nach. »Wir wissen beide, dass er freie Portale für sich und Mary beanspruchen wird.« Jeb schaute sie an. »Und er wird bereit sein, darum zu kämpfen.«

»Denk jetzt nicht darüber nach. Die Tore sind noch weit weg, außerhalb unserer Reichweite. Es kann noch viel geschehen.«

»Wir müssen vorbereitet sein.«

Ihre Hand streckte sich nach ihm aus und ihre Finger zerstrubbelten sein Haar. »Ach Jeb, wir können uns nicht vorbereiten. Das konnten wir noch nie, seit wir im Labyrinth sind. Immer ist alles neu und überraschend, wir wissen nie, was uns der nächste Moment bringt. Wir können nur hoffen und kämpfen.«

Jeb senkte seinen Kopf, damit Jenna ihm nicht in die Augen blicken konnte. Er würde vorbereitet sein, wenn es mit León zum Kampf um die Tore kommen würde.