Jenna erhob sich. »Ich schaue mich mal um. Hier gibt es bestimmt noch einiges, was wir gebrauchen können.«
»Ich komme mit«, sagte Jeb sofort, aber Jenna schüttelte den Kopf.
»Du musst ihn im Auge behalten«, sagte sie und nickte in Locos Richtung, der noch immer leise schnarchend schlief.
»Warte, bis León oder Mary zurück sind«, schlug Jeb vor.
»Nein, Leóns Reaktion vorhin hat mich nervös gemacht. Ich kann jetzt nicht hier herumsitzen. Ich muss etwas tun.«
»Okay, dann tob dich aus.« Jeb grinste schwach. »Vielleicht findest du eine Taschenlampe, das wäre praktisch.«
»Ich halte die Augen offen.«
Jenna verließ die Cafeteria und folgte einem Gang, der nach rechts zu den Klassenzimmern führte. Die meisten Türen standen offen, auch hier deutliche Anzeichen eines überstürzten Aufbruchs. Taschen und Rucksäcke lagen herum. Bücher und Papier waren über die Schreibtische, aber auch auf dem Boden verteilt. Jenna betrat das erste Zimmer und suchte alles nach Nahrungsmitteln, Wasser oder Kleidungsstücken ab. In eine Stofftasche mit Smiley-Aufdruck packte sie alles, was sie fand. Nachdem sie alle Zimmer abgesucht hatte, war die Ausbeute ganz ordentlich. Sie hatte drei weitere Plastikflaschen mit Wasser, drei Dosen Energiedrinks und eine Coke gesammelt, dazu mehrere Schokoriegel, Kaugummipackungen, Hustensaft und Kopfschmerztabletten. Eine Taschenlampe war natürlich nicht dabei und so beschloss Jenna, nach dem Büro des Hausmeisters zu suchen.
Sie schlich die Gänge entlang und lauschte vor jeder Ecke, bevor sie den nächsten breiten Flur betrat. Es war seltsam, wie vertraut die Räumlichkeiten rochen, nach Turnschuhen, abgestandenem Essen, Kreide … es war, als würde im nächsten Moment das Leben in dieser Schule wieder von Neuem beginnen. Es war gespenstisch still, wie es nur auf Schulfluren still ist, wenn in allen Räumen Unterricht abgehalten wird. Doch Jennas erster Blick durch eines der Fenster der Klassentür links von ihr bestätigte, dass der Raum und auch die nächsten leer waren.
Da vernahm sie plötzlich Schritte.
Mary fand León auf dem Boden hockend hinter einer langen Reihe von Spinden. Er hatte den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt und hob ihn auch nicht an, als sie näher kam und sich neben ihn setzte. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Eine Weile verging, dann sah León auf.
»Du solltest zu den anderen gehen. Ich bin kein guter Gesprächspartner.«
»Wir müssen nicht reden«, sagte Mary. »Lass mich einfach bei dir sein, okay?«
»Ach, Mary«, seufzte er, dann legte er den Arm um sie und zog sie an sich. Mary kuschelte sich an seine Schulter. Sie roch den unverwechselbaren Geruch seiner Haut.
In Leóns Nähe herrschte immer Stille, sie umgab ihn regelrecht. Vielleicht lag es an seiner Schweigsamkeit, sie war wie ein Panzer, den Worte nicht durchdringen konnten.
Also schmiegte sie sich nur noch fester an ihn, atmete ihn ein und wünschte sich einmal mehr, dass die Zeit stehen blieb.
Die Schritte kamen aus dem Gang, der sich rechts von ihr noch weiter von der Kantine entfernte. Jetzt hörte sie ein Fluchen. Es klang wie Spanisch – und als wäre dieser Jemand, wer immer da auch war, allein. Langsam entfernten sich die Schritte von ihr, das ließ Jenna aufatmen.
Immerhin werde ich wem auch immer nicht direkt in die Arme laufen.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, die schweren Sohlen ihrer Boots klangen dumpf bei jedem ihrer Schritte. Zumindest in Jennas Ohren. Sie lauschte. Der andere hatte seinen Weg fortgesetzt, er schien sie nicht zu hören.
Jenna hatte fast das Ende der Spindreihe, die sich zwischen den Türen links und rechts von ihr befand, erreicht. Aus dem Augenwinkel entdeckte sie rechts neben sich eine Tür mit einem Schriftzug. Janitor. Das Büro des Hausmeisters.
Gleich. Momentan hatte sie andere Probleme. Nur noch drei Schritte, zwei, einer, dann lugte sie um die Ecke.
Sie sah einen Jungen und dieser bewegte sich zügig auf eine der doppelten Glastüren zu, die in den Innenhof der Highschool führten.
Jenna wusste sofort, wer das war.
Der tote Muerte negra! Überall hätte sie seinen albernen, karierten Jogginganzug wiedererkannt. Und diese knallgelben Schuhe.
Schuhe, die sich durch den Ausgang bewegten. Das konnte nicht sein! Wie war das …? Jenna öffnete den Mund, wollte dem Toten etwas hinterherrufen … da drehte sich Cristiano Rabán zu ihr um. Langsam, als würde die Zeit zäh sein, langsamer verlaufen, drehte er seinen Oberkörper, dann sein Gesicht zu ihr.
Sein Gesicht war von einem breiten Grinsen durchzogen, in dem weiße Zähne blitzten. Deutlich sah Jenna das dunkle Loch an seiner Stirn, es sah aus wie Dreck, als müsste Jenna über das Bild vor ihren Augen wischen, damit dieser Fleck auf dem Gesicht des anderen verschwände. Doch Jenna starrte nur geradeaus, wagte nicht, sich zu bewegen. Dann hob der tote Muerte negra die Hand.
Er ballte sie zu einer Faust, streckte einen Zeigefinger nach vorne, den Daumen nach oben und hob ihn sich an die Stirn.
Dann blähte er die Wangen zu einem lautlosen »Puff«, zwinkerte Jenna zu und war im nächsten Moment verschwunden. Vom Erdboden verschluckt wie eine Fata Morgana.
Jenna taumelte zurück. Sie achtete nicht mehr darauf, leise zu sein. Sie wollte weg, sie musste zu den anderen.
Hastig wandte sie sich um. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, aber sie wollte nicht unverrichteter Dinge zu ihnen zurückkehren. Wie sollte sie ihnen erklären, dass sie mit leeren Händen zurückkam, wenn sie das Hausmeisterbüro doch gefunden hatte? Nein, entschied sie.
Ich lasse mich von diesem beschissenen Labyrinth nicht an der Nase herumführen. Ich muss mich auf die Dinge konzentrieren, die wichtig sind, nicht auf irgendwelche Hirngespinste. Ich muss die Tücken des Labyrinths ausblenden, wenn ich überleben will.
Schnell drehte sie sich nach links und öffnete die Tür, die jetzt neben ihr lag. Im Gegensatz zu allen anderen Räumen wirkte das Hausmeisterbüro aufgeräumt und ordentlich. Mit heftigem Herzklopfen schaute Jenna sich um. Wo würde sie als Hausmeister Utensilien verstauen? In den wuchtigen Holzschränken? Sie rüttelte an einer der Türen und sie war offen! Sie öffnete die Schränke nacheinander und tatsächlich entdeckte sie eine große Stablampe, die auf ihren zittrigen Knopfdruck sofort Licht an die Wand warf. Der Rest der Schränke beherbergte Decken, Putzmittel und Werkzeug, für die sie keine Verwendung hatte. Sie wollte schon aus dem Raum stürzen, als sie in einer Ablage einen zusammengefalteten Plan entdeckte, der auf den ersten Blick wie eine Landkarte aussah. Jenna riskierte einen kurzen Blick und sofort sah sie etwas, das ihren Puls höher schlagen ließ. Sie hatte eine Möglichkeit gefunden, ihrer aller Leben zu retten.
Jenna hatte keine Zeit zu verlieren. Und keinen Gedanken zu verschwenden an die Vision des Toten Muerte negra, der ihr die Sinne vernebelte. Sie musste den anderen von ihrem Plan erzählen.
Jeb saß auf einem Stuhl und starrte nachdenklich vor sich hin. Noch immer verwirrte ihn Leóns heftige Reaktion, aber viel mehr verunsicherte ihn der Gedanke, dass León durchdrehen konnte. Er war stets ein wichtiger Faktor im Kampf gegen das Labyrinth und seine Gefahren gewesen und hatte mehr als einmal bewiesen, zu was er fähig war.
Mein Gott, wenn jetzt schon León ausflippt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir alle durchdrehen.
Während er seinen düsteren Gedanken nachhing, fiel sein Blick auf die linke Armbeuge. Auf dem nackten Arm entdeckte er zu seiner Verblüffung rotblaue, leicht geschwollene Flecken in einer geraden Linie, die empfindlich schmerzten, als er vorsichtig darüberstrich.
Was zum Teufel ist passiert? Warum verfärbt sich meine Haut? Warum tut das so weh?
Jeb war sich sicher, dass das dunkle Mal zuvor nicht da gewesen war. Jetzt fürchtete er, ebenfalls den Verstand zu verlieren.
Zum Glück schien sein anderer Arm unversehrt zu sein. Obwohl … als Jeb hier die Haut näher untersuchte, entdeckte er ebenfalls blassgrüne Flecken, die kaum noch sichtbar waren.
Was hat das zu bedeuten?
Als Jenna zurück in die Cafeteria kam, war Loco aufgewacht und saß nun zusammen mit Jeb an einem Tisch. León und Mary hatten sich etwas von den beiden zurückgezogen und standen in der Nähe des Automaten.
Alle blickten sie an, als sie den Raum betrat. Sie versuchte, ihr Gesicht glatt und ruhig wirken zu lassen. Kein Anzeichen von dem zu geben, was sie soeben erlebt hatte. Es gab Wichtigeres, Reales, das sie hier und jetzt zu lösen hatten.
»Du lächelst so verschwörerisch«, stellte Jeb fest. »Hast du etwas zu essen gefunden? Vielleicht sogar eine Taschenlampe?«
Jenna grinste erleichtert. Ihre Maske funktionierte offenbar, wenn nicht mal Jeb etwas merkte. »Mehr als das.«
Sie legte ihre Funde auf den Tisch und breitete den Plan des Wassersystems vor den anderen aus. Auch Mary und León waren herübergekommen und beugten sich nun mit den anderen über den Plan.
»Was ist das?«, fragte Mary.
»Unsere Rettung«, sagte Jenna und ihre Stimme überschlug sich fast, so schnell wollte sie den anderen von ihrer Idee zu erzählen. »Vor euch liegt ein Plan, der das Wassersystem der Schule abbildet. Die Schule hat ein Schwimmbad und von diesem Schwimmbad führt ein Zugang zu den Abwasserkanälen der Stadt. Wenn man ihnen folgt …« Ihr Finger fuhr die Linie nach und tippte dann auf den Plan. »… kommt man zu einem Wasserwerk …«
»Das außerhalb dieses Viertels liegt«, unterbrach sie Jeb aufgeregt.
»Ja, und noch besser, das Wasserwerk befindet sich in der Richtung, in der wir den Stern zuletzt gesehen haben. Von dort aus kann es nicht mehr weit bis zu den Toren sein.«
»Wir sind gerettet! Du hast uns gerettet!«, rief Mary aus. Jeb blieb seltsam still und sagte nichts.
Was ist mit ihm?, dachte Jenna. Was ist während meiner Abwesenheit geschehen? Doch bevor sie sich weiter darüber Gedanken machen konnte, unterbrach sie León.
»Noch nicht«, meinte er, während er stirnrunzelnd seinen Blick über die Karte schweifen ließ. »Wie hoch sind diese Kanäle und der Weg, der zu ihnen führt?«
»Hoch genug, um aufrecht darin stehen zu können. Die Maße sind eingezeichnet.«
»Irgendwelche Hindernisse auf dem Weg?«
»Keine, die in der Karte abgebildet sind. Beim Wasserwerk ist etwas eingezeichnet, das eine Tür sein könnte, aber damit werden wir uns befassen, wenn wir dort sind.«
Zum ersten Mal seit Langem sah sie León lächeln. »Madre de Dios, das könnte funktionieren.«
»Erinnerst du dich an das Wasserwerk?«, fragte Jeb.
León schüttelte den Kopf. »Nicht mein Gebiet. Was ist mir dir, Loco?«
Der Hijo verneinte, wandte sich scheinbar desinteressiert ab und ging zu den Automaten hinüber. Jenna fand das merkwürdig und nahm sich vor, ihn noch genauer im Auge zu behalten.
»Okay, wie gehen wir vor?«, fragte Mary.
»Wir müssen das Schwimmbad finden, aber das dürfte nicht allzu schwer sein. Wahrscheinlich schließen die Turnhallen und das Schwimmbad an das Hauptgebäude an«, erklärte Jenna.
»Wir haben nichts gesehen, als wir hier angekommen sind.«
»Dann wird es Zeit, dass wir sie suchen. Also, worauf warten wir noch.«
Plötzlich meldete sich Jeb, der bisher geschwiegen, hatte zu Wort.
»Bevor wir aufbrechen, muss ich euch etwas zeigen.«
Sein ernster Blick verunsicherte Jenna. Jeb trat vor und hielt ihnen seinen linken Arm mit der Beuge nach oben entgegen. Zuerst wusste Jenna nicht, was er von ihnen wollte, aber dann sah sie die Einstiche.
»Wo hast du das her?«, fragte sie.
Jeb presste die Lippen zusammen. »Ich weiß es nicht, plötzlich waren sie da.«
León fuhr mit seinen Fingerspitzen darüber. »Manche sehen alt aus, andere neu.«
»Dann glaubt ihr wie ich, dass es Einstiche sind?«, fragte Jeb.
»Eine andere Erklärung habe ich auch nicht«, gab León zu. »Die Frage ist, wie lange hast du die Dinger schon?«
»Das weiß ich auch nicht. Die Einstiche sind mir erst jetzt aufgefallen und mein Gefühl sagt mir, dass sie davor nicht da waren.«
»Unheimlich«, meinte Mary.
»Ich will der Sache keine übermäßige Bedeutung schenken, aber euch warnen und raten zu beobachten, ob bei euch ähnliche Zeichen auftauchen.«
Sofort untersuchten alle die eigenen Arme, aber bis auf Jeb hatte keiner Einstiche an den Armen.
»Es ist schon merkwürdig, dass diese Stiche gerade jetzt auftauchen. In einer Welt, die unserer sehr ähnlich ist. Warum waren die Einstiche nicht früher zu sehen, manche sind längst verheilt, Jeb müsste sie also bereits eine ganze Weile haben, aber ihm ist vorher nichts aufgefallen.«
»Was tun wir jetzt?«, fragte Jenna.
»Wir gehen los«, sagte León.
Sie durchquerten das Gebäude und standen schließlich vor einer verschlossenen Tür. Auch hier fiel wenig Licht durch die zugenagelten Fenster, aber Jennas Taschenlampe leuchtete die Umgebung aus.
»Wir haben alles abgesucht. Es muss diese Tür sein, die zu den anderen Gebäuden führt«, sagte León.
Jeb stand neben ihm. Er hatte das Gesicht gegen den Schlitz eines Fensters gelegt und spähte hinaus.
»Ich sehe sie. Zwei flache Gebäude. Eindeutig das, was wir suchen. Wenn wir jetzt, in der Mittagszeit, rüberlaufen, wären wir da draußen wie auf dem Präsentierteller.«
»Siehst du jemanden?«
»Nein, aber das muss nichts heißen.«
»Wir könnten es riskieren«, meinte León. »Über den Hof rennen und dann hinein in die Halle.«
»Aber was, wenn die Tür verschlossen ist? Es wird dauern, bis wir einen Zugang zum Gebäude finden, und das alles im gleißenden Sonnenschein. Ich schlage vor, wir warten, bis es dunkel ist.« Jenna wandte sich an die anderen.
Es war Loco, der aussprach, was alle dachten: »Ich mache da keinen Schritt raus, solange es hell ist.«
»Wir sollten abwarten und uns noch ein wenig ausruhen«, sagte Mary leise.
»Ich bin dafür, es zu versuchen«, beharrte León und wandte sich dann mit sanfter Stimme an Mary. »Ich passe schon auf dich auf.«
Jeb sah, wie Jenna grübelnd das Gesicht verzog, und berührte sie leicht an der Schulter. »Jenna, was meinst du? Du hast die Pläne entdeckt, du solltest entscheiden, wie wir jetzt weiter vorgehen.«
Sie schaute auf. »Wir versuchen es, wenn es dunkel ist.«
Sie hatten sich wieder in die Cafeteria zurückgezogen, die von Jenna gefundenen Nahrungsmittel verzehrt und etwas getrunken. Nun konnten sie nur noch warten. Jeb war noch einmal ins Büro des Hausmeisters zurückgekehrt und hatte von dort Decken mitgebracht.
»Nicht gerade gemütlich, aber wir haben schon unter schlechteren Umständen geschlafen.« Er reichte Mary zwei Decken. »Wo ist Loco?«
»Aufs Klo.«
»Allein?«
»Ja, der wird wohl kaum versuchen abzuhauen. Es ist viel zu gefährlich, sich jetzt hinauszuwagen. Mach dir keine Sorgen wegen ihm.«
»Ist es für euch okay, wenn wir uns da drüben in der Ecke hinhauen?« Er deutete an die Seite des Raumes, die als einzige ein Fenster aufzuweisen hatte, das aber von innen zugenagelt war.
»Kein Problem«, sagte León. Er und Mary zogen sich in die gegenüberliegende Ecke des Esssaals zurück, während Jeb vor sich und Jenna die Decke ausbreitete. Sie legten sich darauf. Die zweite Decke breiteten sie über sich aus, obwohl es im Zimmer warm und stickig war. Es wurde still. Nur wenig Licht drang durch die Holzbretter am Fenster herein und von der Straße waren keine Geräusche zu hören.
Es wirkt fast friedlich, dachte Mary. Sie rückte näher an León heran und legte ihren Kopf auf seine Brust. Kurz darauf spürte sie, wie er sanft mit der Hand über ihr Haar strich.
Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich so beschützt bei jemandem fühlen könnte, den ich kaum kenne. Schon gar nicht bei so einem Typen wie León. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein. Es tut weh, an ihn zu denken und dass uns nur so wenig Zeit miteinander bleibt. Wenn ich mir vorstelle, dass er morgen nicht mehr da sein könnte …
Mary ließ ihre Hand über seine Brust wandern, fühlte die Muskeln unter seinem Hemd. Sie öffnete die Knöpfe und schob ihre Hand hinein. Er sah sie an. Mary hatte ein Lächeln, vielleicht sogar ein Grinsen erwartet, aber er blieb ernst.
»Was ist mit dir?«, fragte sie ihn, doch er ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Es ist alles so verwirrend«, sagte León schließlich. »Geht es dir nicht auch so? Hast du nicht manchmal das Gefühl, gar nichts mehr zu wissen?«
»Bei dir bin ich geborgen, León. So viel weiß ich.«
»Ich bin für dich da, immer.« León zog sie noch enger an sich, sodass Mary fest von seinen Armen umschlossen wurde. Es fühlte sich an, als könnte sie nichts voneinander trennen, als würde die Zeit stehen bleiben. »Vielleicht wurde ich nur geboren, um dir zu begegnen. Vielleicht hat mich mein Schicksal zu dir ins Labyrinth geführt.«
Mary schluckte. »Aber es macht mich traurig, dass wir hier sind und kämpfen müssen, um zu überleben.«
»Ich bin bei dir.«
Sie schmiegte sich an seinen Hals und hauchte: »Halt mich fest.«
Leóns Arme waren stark. So viel Kraft lag darin, aber Mary spürte auch die Verzweiflung, mit der er sie festhielt.
Der Tag verging, warf sein Licht durch die Schlitze. Mary lauschte Leóns gleichmäßigem Atem, er war eingeschlafen.
Sie wandte den Kopf. Im fahlen Licht war sein Gesicht kaum auszumachen, aber wenn León schlief, schien alle Anspannung von ihm abzufallen, seine Züge wurden weich und dahinter wurde der Junge sichtbar, der er niemals hatte sein dürfen.
Oh León, was hat das Leben dir nur angetan? Und was hat es mir angetan?
Aber er war hier. Bei ihr. Mehr konnte man nicht vom Schicksal verlangen.
Noch einmal ließ sie ihren Blick über ihn wandern, dann schloss sie die Augen und träumte einen tiefen Traum.