70

Künnemeier hatte endlich den Gipfel des Sandbergs erreicht. Von hier oben konnten er und Winter die Ereignisse unten in der Grube beobachten. Plötzlich nahm Winter neben sich eine Bewegung wahr. Es trat jemand nach ihm. Reflexartig versuchte er sich mit seinem Arm zu schützen, um wenigstens einen Treffer am Kopf zu verhindern. Doch in seinem Arm krachte es. Ein wahnsinniger Schmerz schoss durch seinen Körper. Der Fremde holte wieder zum Tritt aus. Diesmal trifft er meinen Kopf, dachte Winter und bereitete sich auf den Zusammenprall des Fußes mit seinem Schädel vor.

Doch so weit kam es nicht. Die Spitze eines dicken Knüppels schoss auf das Knie des Angreifers zu. Im nächsten Augenblick hörte Winter einen markerschütternden Schrei. Der Fremde kippte zur Seite, und der Stock wurde zurückgezogen.

Künnemeier hatte den Knüppel, den er zum Aufstieg benutzt hatte, eingesetzt, um Winter zu retten. Nun stemmte sich der Schützenoberst hoch und bewegte sich auf den Angreifer zu, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht bemühte, ebenfalls wieder auf die Beine zu kommen. Doch Künnemeier war schneller. Er traf den Mann am Schlüsselbein, woraufhin dieser wie am Spieß brüllte. Durch einen dritten Schlag gegen den Kopf wurde der Fremde zum Schweigen gebracht.

»Komm, Junge, wir müssen hier weg!« Künnemeier griff nach Winters Arm. Der schrie wie am Spieß, als die Hand des Schützenbruders den Arm auch nur leicht berührte. »Ich glaube, der ist gebrochen«, wimmerte er.

»Dann musst du die Zähne zusammenbeißen«, befahl Künnemeier unerbittlich. »Wir müssen hier weg.«

Der von Künnemeier niedergestreckte Glatzkopf stöhnte leise.

»Die da unten haben Knarren«, fuhr Künnemeier fort. »Einer von denen ist, glaube ich, schon tot. Wenn die anderen den Kampf hier oben gehört haben, sind wir als Nächste dran.«

Der Schläger stöhnte. Er schien langsam das Bewusstsein wiederzuerlangen.

Winter stemmte sich hoch und presste seinen schmerzenden Arm an den Körper. Dann versuchte er auf dem Hosenboden den Sandberg hinunterzurutschen. Es gelang einigermaßen, aber jede Bewegung tat höllisch weh. Tränen standen ihm in den Augen. Künnemeier ging mit riesigen Schritten nach unten. Seinen Knüppel nahm er mit. Wer weiß, wofür der in nächster Zeit noch gut war.

Winter war gerade am Fuße des Berges angelangt, da hörten sie über sich ein Brüllen. Das Geräusch beflügelte Winters und Künnemeiers Fluchtgeschwindigkeit erheblich. Sie hasteten so gut es ging zum Auto.

»Der Schlüssel steckt in meiner rechten Jackentasche«, stöhnte Winter. »Ich kann mit meinem Arm nicht hinfassen.«

Künnemeier zog das Bund heraus und öffnete das Taxi.

»Du musst den Motor starten, Willi, ich schaffe das nicht. So, und jetzt stellst du den Ganghebel auf D. Gott sei Dank hat die Karre Automatik.«

Winter überlegte. Um wenden zu können, fuhr er bis zum nächsten Feldweg, steuerte den Wagen ein paar Meter hinein, trat auf die Bremse und gab Künnemeier Anweisungen, wie er zu schalten hatte. Zurück auf der Bundesstraße, sah Winter direkt in die aufflammenden Scheinwerfer eines parkenden Fahrzeugs. Augenblicklich wusste er, wer in dem Auto saß und um was für ein Fahrzeug es sich handelte. Es war der rote Audi, der ihnen schon die ganze Zeit gefolgt war. Was wollte der Kerl, der sie eben angegriffen hatte?

Winter gab Gas. Dann fahre ich eben nach Elsen, dachte er und bretterte, was der Daimler hergab, zu der Ortschaft hinüber.

»Gegen den Audi habe ich mit dieser Klapperkiste keine Chance. Wir müssen irgendwo hin, wo viele Leute sind, und zwar so schnell wie möglich«, lamentierte Winter. »Und wir brauchen Hilfe. Frag Schwiete, wo er bleibt, Willi, und sag ihm, dass wir ihn brauchen.«

Der Alte kramte sein Handy aus der Tasche und wählte. »Hallo, Herr Schwiete!«, schrie er wenig später ins Handy. »In der Sandgrube schießen die Idioten sich gegenseitig tot. Und uns will auch einer ans Leder!«

»Die Einsatzkräfte der Polizei sind in einer halben Minute am Nestauer See. Wo befinden Sie sich?«, fragte Schwiete nach und versuchte ruhig zu bleiben.

»Wir fahren Richtung Elsen.«

»Gut, dann fahren Sie bitte nach Hause! Wir sprechen uns später.«

»Nein, das geht nicht«, antwortete Künnemeier hektisch. »Irgendein Idiot verfolgt uns, der Johnny schon halb zum Krüppel geschlagen hat!«

»Und was heißt das? Wo wollen Sie denn jetzt hin?«, bohrte Schwiete nach.

Künnemeier hielt mit der Hand den Hörer zu. »Wohin fahren wir denn, Johnny?«

»Sag ihm, dass er zum Bürgerhaus kommen soll. Aber er soll sich verdammt noch mal beeilen!«

Verbissen trat Winter das Gaspedal durch, doch der Audi hinter ihm ließ sich nicht abschütteln.

»Hast du einen Plan? Oder fährst du einfach drauflos?«, rief Künnemeier ihm zu.

Winter schwieg. Er war ausreichend damit beschäftigt, sein Taxi trotz hoher Geschwindigkeit mit nur einer Hand auf der Straße zu halten. Resigniert hob Künnemeier beide Arme und deutete damit an, dass sein Schicksal nun in Winters Händen lag. »Schaffst du es?«, fragte er immer wieder. »Sonst mach einfach ´ne Vollbremsung und lass den Kerl hinten draufknallen. Dann springen wir raus aus dem Auto, und der Mann kriegt meinen Knüppel ins Kreuz. Was meinst du?«

Winter antwortete genervt: »Quatsch! Hast du dir den Kerl angeschaut? Der ist ein anderes Kaliber als wir beide. Lass mich nur machen, ich weiß schon, wo ich hinfahre. Und jetzt halt dich verdammt gut fest!«

Er beschleunigte das Taxi noch einmal und sah im Rückspiegel, dass der Audifahrer die Herausforderung angenommen hatte.

Urplötzlich stieg Winter voll auf die Bremse und riss fast im selben Moment den Mercedes mit quietschenden Reifen nach links in eine etwas schmalere Straße hinein. Das schwere Auto legte sich so stark auf die Seite wie ein Schiff im Sturm. Künnemeier wurde von der brachialen Fliehkraft an die Beifahrertür gepresst und bekam kaum noch Luft. Dann begann das Taxi zu schleudern, erst schwach, dann wurden die Ausschläge nach rechts und links immer größer. Endlich bekam Winter den Wagen wieder in den Griff, und es ging, nun noch schneller, geradeaus weiter.

»Und das alles mit einer Hand«, stöhnte Winter. »Ich sollte Stuntman werden.«

Der Audifahrer hatte diese halsbrecherische Aktion offenbar nicht rechtzeitig verstanden und war am Abzweig einfach geradeaus durchgerauscht. Winter wusste aber, dass er nur einen kleinen Vorsprung herausgeholt hatte. Der Mann würde nur wenige Sekunden benötigen, um zu bremsen, zu wenden und hinter ihm her zu rasen.

Und schon sah Winter im Rückspiegel die Lichter des Audis aufflackern. Deshalb bog er, wieder mit hohem Tempo, erneut nach links ab und fuhr danach in einer langen Rechtskurve durch einen Bereich, der kaum bebaut war.

»Was willste denn hier?«, schrie Künnemeier, der mit den Nerven nun völlig am Ende war. »Wenn der uns hier stellt, dann haben wir doch überhaupt keine Chance. Wir müssen irgendwohin, wo Leute sind, verstehst du?«

Winter biss die Zähne zusammen. Der Arm tat höllisch weh, die Anforderungen an seine Fahrerqualitäten waren enorm, und er wusste selber, was zu tun war. Aber er schwieg, bis er, für Künnemeier wieder unerwartet, stark abbremste und nach rechts auf einen kleinen Parkplatz fuhr, wo er das Taxi in der dunkelsten Ecke abstellte.

»Los, raus hier!«, rief er. Der alte Mann hatte es offenbar aufgegeben, sich eigene Gedanken zu machen, und folgte Winters Anweisung.

»Und werf endlich diesen blöden Knüppel weg!«, fügte Winter noch hinzu, als er sah, dass Künnemeier den Stock aus dem Auto zerrte. »Den brauchst du nicht mehr.«

Aber Künnemeier brummte nur unwillig und nahm seine bescheidene Waffe dennoch mit.

»Man weiß ja nie«, murmelte er so leise, dass Winter ihn nicht hören konnte.

Schnell liefen die beiden Männer zu dem großen Gebäude, zu dem der Parkplatz gehörte.

»Das hier ist das Elsener Bürgerhaus«, erklärte Winter. »Da ist eine Kneipe drin, in der ist garantiert ´ne Menge Betrieb. Da sind wir sicher.«

Aber als sie auf dem hübschen, kleinen Platz vor dem Haupteingang ankamen, war alles dunkel. Die Gaststätte hatte geschlossen. Winter sackte das Herz in die Hose.

Im gleichen Augenblick hörte er, wie ein Auto näherkam und mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz fuhr.