20
Der notorische Frühaufsteher Horst Schwiete hatte für den nächsten Tag um acht Uhr morgens einen Termin beim Ehepaar Hermskötter ausgemacht. Doch als der Wecker klingelte, dessen Signal er normalerweise nie hörte, weil er lange davor aufzuwachen pflegte, erinnerten Schwiete die augenblicklich auftretenden Kopfschmerzen an jeden einzelnen Raki, den er gestern getrunken hatte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schloss er seine Augen wieder und ließ den Kopf in die Kissen sinken.
Für seine Verhältnisse hatten sie in dem Lokal viel zu viel getrunken. Aber dennoch hatte der Abend ihm gefallen. Das Zusammentreffen sollte man wiederholen, vielleicht mit ein paar Schnäpsen weniger.
Walter Hermskötter hatte am Telefon versprochen, eine Tasse Kaffee und ein Brötchen für Schwiete parat zu haben. Alle Versuche des Polizisten, ihm den ausschließlich dienstlichen Zweck des Besuches deutlich zu machen, waren verpufft.
Nun stand er vor der Haustür der Hermskötters. Die Ruinen des Hauses gegenüber rauchten nicht mehr, der Dauerregen hatte alles, was noch hätte schwelen können, zu klebriger Asche werden lassen. Es sah trostlos aus. Rund um das Unglücksgrundstück flatterte das rotweiße Absperrband der Polizei im leichten Wind und sperrte Neugierige aus.
Im schmalen, sehr warmen Flur des Hermskötterschen Hauses schlug Schwiete eine Mischung aus süßlich parfümierten Trockenblumen und Grünkohlgeruch entgegen. Für kurze Zeit blieb ihm die Luft weg. Eine kleine Katze huschte um die Ecke und verschwand gleich wieder, als sie Schwiete bemerkte. Frau Hermskötter hatte auf dem Wohnzimmertisch ein komplettes Frühstück aufgebaut. Schwiete war weder hungrig, noch hatte er so viel Zeit mitgebracht, aber er war wider Willen ein wenig gerührt über die Bemühungen des Ehepaares. Nach der ersten Tasse Kaffee und dem ersten Brötchen wollte Schwiete mit der Befragung beginnen, musste sich aber vorher noch die Beschwerde des Ehepaares anhören.
»Also, Ihr Kollege«, dröhnte Walter Hermskötter, dem noch immer mehrere Heftpflaster im Gesicht klebten, »den Namen habe ich vergessen, der soll mir noch mal unter die Augen kommen. Der hat uns ja behandelt wie Bittsteller. Dabei wollten wir nur unsere Pflicht tun und berichten, was wir gesehen haben. Das sollten Sie mal Ihrem Chef erzählen, dem Polizeipräsidenten.«
Bevor Schwiete dazu kam, seinem Gastgeber zu erklären, dass sein oberster Vorgesetzter nicht Polizeipräsident war, sondern Landrat, erschrak er heftig, weil etwas an seinem Hosenbein entlanggestrichen war.
Frau Hermskötter lachte und sagte: »Keine Angst! Das war nur Natascha. Die schmust gerne.«
Schwiete starrte unter den Tisch und sah die schwarz-weiß gestreifte Katze, die er vorher bereits im Flur bemerkt hatte. Er konnte Katzen einfach nicht leiden, wollte sich das aber nicht anmerken lassen.
»Ja, das ist die Katze, über die wir mit Ihrem Kollegen sprechen wollten«, mischte sich der Herr des Hauses wieder ein. Frau Hermskötter fügte sich klaglos in ihre Rolle als Hausfrau, schenkte Kaffee nach und überließ ihrem Ehemann das Reden. Der rutschte schon aufgeregt von einer Pobacke auf die andere und legte dem Kommissar seinen Bericht vor. Ausschweifend erzählte er vom furchtbaren Wetter am Sonntag und vom Besuch der jungen Frau von gegenüber.
»Wissen Sie, Herr Kommissar, gesehen hatten wir diese Frau ja schon oft. Hat auch immer gegrüßt, wenn wir sie mal auf der Straße getroffen haben. Aber richtig gesprochen haben wir mit ihr nie. War ja auch keine Deutsche, sondern eine Russin oder so was. Das ist ja heutzutage so in der Stadt. Man kennt seine eigenen Nachbarn nicht mehr. Und neugierig sind wir ja nicht, ich …«
»Jetzt tu mal nicht so, Walter!«, warf Frau Hermskötter boshaft ein. »Du hast immer gesagt: Das ist aber mal ´ne Hübsche. Würde gerne wissen, wo die herkommt.«
»Habe ich nie gesagt!«, bellte ihr Ehemann empört zurück. Und im Nu fand sich der Junggeselle Schwiete, der von der ganz eigenen Dynamik des Ehelebens keinen Schimmer hatte, mitten im Kreuzfeuer einer ehelichen Auseinandersetzung wieder. Die Katze sprintete erschrocken quer durchs Zimmer, als Schwiete plötzlich aufsprang und beschwichtigend beide Hände hob.
»Lassen Sie uns bitte wieder zur Sache kommen! Ich muss gleich noch zu einem wichtigen Termin.«
Als alle wieder saßen, erkundigte sich Schwiete: »Haben denn auch noch andere Leute in diesem Haus gewohnt? Ich meine, es war ja für eine Person viel zu groß.«
»Ja, da wohnten auch noch zwei andere Frauen«, erwiderte Hermskötter. »Alle noch ziemlich jung. Sahen ganz hübsch aus. Jedenfalls, wenn man diesen Schlag mag. Ist ja nicht so ganz meine Sache.«
Zum ersten Mal war Schwiete wirklich interessiert. »Was meinen Sie denn damit?«
Hermskötter zögerte etwas, räusperte sich und sagte: »Na ja, Sie hätten mal sehen sollen, wie die rumgelaufen sind. Also, ich habe immer zu meiner Frau gesagt, das sind alles Bordsteinschwalben. Sehe ich doch auf den ersten Blick.«
»Aber Walter«, warf sich seine Frau mutig für ihre Nachbarinnen in die Bresche. »Was du immer gleich denkst. Woher willst du das denn wissen? Du kennst dich doch mit so etwas gar nicht aus.«
Schwiete, der sich schon über den völlig veralteten Ausdruck Bordsteinschwalbe amüsiert hatte, musste ein Schmunzeln unterdrücken, als er den leicht erschrockenen Gesichtsausdruck des alten Mannes sah, der offenbar das Gefühl hatte, in eine selbst gestellte Falle getappt zu sein.
»Also, in dem Haus haben drei junge Frauen gewohnt. Aber jetzt sagen Sie doch mal, welchen Eindruck hatten sie denn, als diese Frau mit ihrer Katze vor Ihnen stand?«
Nun preschte Frau Hermskötter vor. »Also, ich bin ganz sicher, dass dieses arme Ding völlig am Ende war. Verzweifelt. Konnte einem richtig leidtun. Deswegen haben wir ja auch diese Katze genommen. Normalerweise haben wir nicht so gerne Tiere im Haus. Wegen dem ganzen Dreck, wissen Sie? Aber ich konnte diesem traurigen Mädchen das einfach nicht abschlagen. Es hätte mir das Herz zerrissen.«
»Also, für mich ist die Sache klar«, ergänzte ihr Mann. »Die Katze war das Einzige, was ihr noch etwas bedeutet hat. Die wollte sie retten. Dann ist sie wieder ins Haus gegangen und hat die Gasflasche aufgedreht, um sich umzubringen. Und irgendwie ist wahrscheinlich ein Funke dagewesen, und die ganze Bagage ist die Luft geflogen. Rumms! Das hatte sie bestimmt nicht so geplant. Aber im Ergebnis war es das Gleiche. Also für die Frau, falls Sie wissen, was ich meine. Nur gut, dass die beiden anderen gerade nicht zu Hause waren. Oder gibt es etwa noch weitere Leichen?«