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Im Allgemeinen war montags Totentanz für Taxifahrer. Das würde sich erst nächste Woche wieder ändern, wenn der Paderborner Weihnachtsmarkt eröffnet würde. In Erwartung eines ruhigen Abends hatte der Chef des Taxiunternehmens jedem zweiten seiner Leute freigegeben. Winter schnaubte, als er erfuhr, dass er heute Abend zu Hause bleiben könne. Das hörte sich nämlich großzügiger an, als es war. Klar, Winter brauchte nicht in seiner Droschke zu sitzen und den ganzen Abend auf den einen Fahrgast warten. Aber diese angenehme Seite des Abends hatte die unangenehme Begleiterscheinung, dass er heute auch kein Geld verdienen würde. In dem Taxiunternehmen, für das Winter arbeitete, trugen die Fahrer einen großen Anteil des unternehmerischen Risikos.
Das fand Winters Chef gut, ebenso wie die Tatsache, dass in seinem Laden absolute Flexibilität herrschte. Denn der Boss hatte die Vorstellung, dass Winter und seine Kollegen jederzeit Gewehr bei Fuß zu stehen hatten, zum Wohle des Taxiunternehmens. Wenn der Boss pfiff, dann hatten sie auf der Matte zu stehen. Und wer nicht spurte, der konnte gehen. Taxifahrer gab es genug in Paderborn.
»Nimm die Karre mit nach Hause«, hatte Winters Brötchengeber gesagt und sein Angebot als ungemein großzügig empfunden. »Dann kannst du morgen früh eine halbe Stunde länger schlafen und musst nicht erst zur Firma kommen, um den Wagen hier abzuholen. Die wird heute Nacht sowieso nicht mehr gebraucht. Ob die dann bei uns auf dem Hof herumsteht oder bei dir vorm Haus, ist mir völlig schnurz.«
Er drückte Winter den Schlüssel in die Hand.
»Aber keine Extratouren heute Abend! Das ist ein Taxi und nicht dein Privatwagen. Und morgen früh ab sechs fährst du dann die Krankentouren. Tschüss und schönen Feierabend.«
Winter hatte sich in seinen alten, aber gemütlichen Sessel gelümmelt und sich die Kopfhörer auf die Ohren gesetzt, um eine alte Scheibe von Eric Clapton mit der maximalen Lautstärke zu hören, die seine in die Jahre gekommene Anlage zuließ.
Gerade als sein Lieblingsgitarrist die ersten Akkorde des Songs Key to the Highway anspielte, fasste jemand Winter unsanft auf die Schulter. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder wie ein Stromstoß von hunderttausend Volt. Panisch drehte er sich um. Willi Künnemeier stand vor ihm.
Wie ist denn der hier reingekommen?, fragte sich Winter und war verärgert, dass der alte Mann ihn beim Musikhören störte.
Der Rentner bewegte die Lippen, doch das Gitarrensolo aus den Kopfhörern übertönte alles. Künnemeier erdreistete sich nun, den Klinkenstecker aus dem Verstärker zu ziehen.
»Sag mal, was soll das denn?«, raunzte Winter den Schützenoberst an. »Was hast du hier in meiner Wohnung zu suchen? Und wie bist du überhaupt reingekommen?«
Künnemeier wedelte mit einer Scheckkarte. »Wollte schon immer mal ausprobieren, wie man mit so einem Ding die Tür aufbekommt. Hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist.«
»Okay, du König der Diebe. Aber jetzt mach dich vom Acker! Ich will endlich mal wieder in aller Ruhe Musik hören.«
»Weißt du, Johnny, als ich eben dein Taxi da unten stehen sehen habe, da dachte ich mir, wir beiden könnten doch noch mal nach Bad Lippspringe fahren. Ich glaube, heute Abend passiert noch was, das hab ich im Urin. Und ich würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich hier untätig herumsitzen würde, während ich eigentlich ein Verbrechen verhindern könnte.«
»Du hast es im Urin?« Winter verdrehte die Augen. »Das ist die Prostata, alter Mann.«
Er hatte keine Lust, sein gemütliches Wohnzimmer zu verlassen, doch er kannte den alten Schützenoberst. Wenn der sich was in den Kopf gesetzt hatte, dann nervte der so lange, bis er seinen Willen bekam. Widerwillig erhob er sich und griff nach seiner Felljacke.
»Kostet dich aber zwanzig Euro, Willi. Schließlich muss ich jeden Kilometer mit meinem Chef abrechnen«, flunkerte Winter und dachte: Na, dann verdiene ich heute Abend wenigstens noch ein paar Euro. Außerdem ist es mit dem alten Künnemeier ja doch ganz amüsant. Der hatte immer den neuesten Klatsch zu erzählen.
Keine fünfzehn Minuten später stand das Taxi mit den beiden Männern in der Straße Zum See. Winter hatte das Fahrzeug im Schatten einer Hainbuchenhecke geparkt. Da ist ja auf dem Friedhof mehr los als hier, dachte Winter nach den ersten langweiligen Minuten.
Nach einer Weile bekam Winter kalte Füße und schlechte Laune. Gerade wollte er mit einer Nörgeltirade auch bei Künnemeier für miese Stimmung sorgen, da leckte das Licht von Autoscheinwerfern über den Asphalt.
»Runter!«, flüsterte Winter gerade noch rechtzeitig.