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Es fing wieder an zu regnen. Schwiete hatte das Haus der Hermskötters noch keine dreißig Sekunden verlassen, da fielen ihm die ersten Tropfen auf den Kopf. Erst einer, dann zehn, und eine Minute später war der Polizist nass bis auf die Knochen. Gerade als ihm das erste Wasserrinnsal den Rücken hinunterlief, klingelte sein Handy. Es war Staatsanwalt Becker, der sich vernachlässigt fühlte und wollte, dass Schwiete umgehend bei ihm vorbeikam, um ihn auf den neusten Stand zu bringen. Angeblich beschwerten sich maßgebliche Persönlichkeiten Paderborns über die Vorgehensweise der Polizei.

Der Hauptkommissar beschloss, noch kurz nach Hause zu fahren und sich eine heiße Dusche zu gönnen, bevor er sich auf den Weg zum Gericht machte. Das heiße Wasser vertrieb die Kälte aus seinem Körper wie einen bösen Geist. Gut durchgewärmt ging Schwiete wieder aus dem Haus.

Wenig später saß er dem Staatsanwalt gegenüber und berichtete, was seine Abteilung zum Fall »Im Lohfeld« bisher in Erfahrung gebracht hatte. Als Schwiete zum Ende gekommen war, saßen sich die beiden Männer eine ganze Weile schweigend gegenüber. Geradeso, als spielten sie »Wer-sich-zuerst-bewegt-hat-verloren«. Der Staatsanwalt wäre der sichere Verlierer gewesen. Irgendwann räusperte er sich.

»Herr Schwiete, der ganze Fall ist eine verzwickte Angelegenheit, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, aber der ganze Fall ist eine verzwickte Angelegenheit. Das beginnt schon mit der Tatsache, dass die Ruine im Lohfeld einem der einflussreichsten Bürger der Stadt Paderborn gehört.«

Schwiete nickte.

»Vielleicht ist Ihnen der Name Hatzfeld ja ein Begriff? Der Familie gehört die halbe Stadt. Na ja, und Herr Hatzfeld hat mich angesprochen. Er möchte nicht, dass sein Name in der Presse auftaucht, schon gar nicht in Verbindung mit einer unbekannten Toten. Deshalb hat er mich um die nötige Diskretion gebeten.«

Wieder schwiegen die Männer eine Zeit lang. Eine latente Anspannung lag im Raum.

»Und nun, nachdem ich mir Ihren Bericht angehört habe, bin ich geneigt, den Fall wirklich abzuschließen. Das Ganze sieht mir doch sehr nach Selbstmord aus. Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Schwiete, ich spiele Ihnen gegenüber mit absolut offenen Karten. Klar, Hatzfeld ist ein guter Bekannter von mir, das will ich an dieser Stelle nicht verhehlen, aber ich will ihn nicht aus der Schusslinie nehmen. Wenn Sie mir gute Gründe nennen, ermitteln wir weiter. Sie haben das letzte Wort, Herr Hauptkommissar.«

Schwiete hatte kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, die Ermittlungen definitiv abzuschließen. Natürlich konnte er auch die Argumente des Staatsanwalts nachvollziehen. Doch irgendetwas in dem Polizisten hatte den Fokus auf Mord gesetzt. Sicher, es gab keine maßgeblichen Hinweise darauf, nur dieses diffuse Etwas in Schwietes Bauch. Und das bereitete selbst ihm Unbehagen. Der Staatsanwalt selbst wollte die Akte so schnell wie möglich schließen. Das war auch klar. Wenn Schwiete seiner intuitiven Kompetenz eine Chance einräumen wollte, dann durfte die Selbstmordthese nicht dazu führen, dass der Fall hier und heute abgeschlossen wurde. Jetzt war Fingerspitzengefühl gefragt. Zunächst blieb er bei seiner Strategie, den Nachdenklichen zu spielen und zu schweigen.

Er merkte, dass dies Verhalten sein Gegenüber nervös machte. Ein bisschen Unsicherheit ist vielleicht nicht schlecht, dachte Schwiete. Aber er durfte den Bogen nicht überspannen und den Staatsanwalt in eine Enge treiben, weder argumentativ noch emotional.

Was gab es im Moment überhaupt für Möglichkeiten, außer dem Wunsch der Anklage nachzukommen? Du musst dir ein Hintertürchen offenhalten, sagte etwas in Schwietes Kopf. Außerdem gab es noch einige lose Fäden, die es zu verknüpfen galt. Die Herkunft der Gasflasche war noch nicht geklärt und die Umfeldbefragung nicht abgeschlossen – immerhin zwei, wenn auch nur schwache Argumente. Tatsache war, dass er das gedankliche Puzzle in seinem Kopf noch nicht gänzlich geordnet hatte. Er brauchte einfach noch etwas Zeit.

»Rational stimme ich durchaus mit Ihnen überein«, antwortete Schwiete und sah, wie sich die Gesichtszüge von Staatsanwalt Becker etwas entspannten. Der Mann stand sichtlich unter Druck. Jetzt nur nichts falsch machen.

»Ich habe so ein komisches Bauchgefühl, wenn ich versuche, mir den sofortigen Abschluss des Falles vorzustellen.« Schwiete wiegte den Kopf. »Ihrer absolut rationalen und wahrscheinlich auch richtigen Vorgehensweise kann ich natürlich nichts entgegensetzen – außer mein blödsinniges Bauchgefühl.«

Schwiete bemühte sich um einen betretenen Gesichtsausdruck. Schließlich brauchte der Staatsanwalt in gewisser Weise auch das Wohlwollen des Hauptkommissars. Dazu kam die Grundhaltung aller Juristen, dass das Leben ein einziger, großer Teppichhandel sei. Und so begab sich Staatsanwalt Becker mitten in den juristischen Basar.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Schwiete! Wir gehen an die Öffentlichkeit und geben unsere Selbstmordtheorie zum Besten. Wir tun so, als wäre dies das Ende der Ermittlungen. Sie schließen den Fall formal aber noch nicht ab, sondern lassen ihn mehr oder weniger ruhen. Sollten sich innerhalb der nächsten vier Wochen keine neuen Erkenntnisse oder Ereignisse einstellen, schlagen wir das Buch endgültig zu.«

Schwiete hatte, was er wollte. Die Hintertür für weitere Ermittlungen stand sperrangelweit offen, und der Staatsanwalt wähnte sich in der Gewissheit, dass sich die Angelegenheit in absehbarer Zeit ohnehin erledigen würde. Und seinem Bekannten Hatzfeld konnte er signalisieren, dass das Ganze quasi vom Tisch war. Also spielte der Polizist noch für eine Minute den Bedenkenträger, dann stimmte er dem Vorschlag von Staatsanwalt Becker zu.