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Auch wenn Horst Schwiete sich nur ungern in Krankenhäuser aufhielt, beschloss er, einer Meldung der Ambulanz des St. Johannisstiftes selbst nachzugehen. Gestern spätabends war dort ein Mann eingeliefert worden, der nicht nur übel zusammengeschlagen worden war, sondern dem man auch noch ein halbes Ohr abgetrennt hatte. Laut den Papieren, die er bei sich trug, handelte es sich um einen achtunddreißigjährigen Mann, der ursprünglich aus Russland stammte. Schwietes Leute hatten die Personaldaten rasch durch den Computer laufen lassen und herausgefunden, dass der Herr Angestellter des Erotik-Clubs Oase war. Mit diesem Club schien einiges nicht zu stimmen, fand Schwiete und erklärte die Angelegenheit zur Chefsache.

Der verletzte Türsteher war von der Intensivstation bereits in ein normales Krankenzimmer verlegt worden, erfuhr Schwiete an der Rezeption. Man nannte ihm die Station und die Zimmernummer. Auf der Station angekommen, ging er zur Stationsleitung, um sich ordnungsgemäß anzumelden. Die Stationsschwester musterte ihn kritisch und versprach dann, den Oberarzt zu holen.

Sie kehrte zurück in Begleitung eines autoritär wirkenden Arztes, der sich immerhin bereiterklärte, einige Auskünfte zu geben. Offenbar ging es dem Verletzten, den Umständen entsprechend, wieder ganz gut. Die Schlagverletzungen würden noch eine ganze Weile brauchen, bis sie abgeheilt seien, aber keine von ihnen sei wirklich bedrohlich gewesen. Der abgetrennte Teil der Ohrmuschel war schon eher ein Problem, aber die Wunde sei sauber ausgeblutet und stelle ebenfalls keine Gefahr dar. Der Blutverlust hätte allerdings einem schwächeren Menschen schon sehr zu schaffen gemacht.

»Aber der Mann hat eine Natur wie ein Bulle«, meinte der Arzt und hob dann entschuldigend beide Hände, ehe er mit leicht boshaftem Lächeln fortfuhr: »Oh, verzeihen Sie, Herr Kommissar. Das war natürlich nicht als Anspielung auf Ihren Beruf gemeint.«

»Hauptkommissar, Herr Doktor, Hauptkommissar. Und ich habe schon verstanden, was Sie meinen. Keine Sorge.«

Der Oberarzt schien nicht recht zu wissen, wie er Schwietes Replik einzuordnen hatte. Dann entschied er sich, sie zu ignorieren und berichtete stattdessen, dass der Verletzte bereits heute Nachmittag das Krankenhaus auf eigenen Wunsch und eigene Gefahr verlassen werde.

»Könnte ich bitte mit dem Mann unter vier Augen sprechen?«, erkundigte sich Schwiete. »Es handelt sich immerhin um eine polizeiliche Vernehmung, und wenn er heute ohnehin wieder nach Hause geht, kann er doch wohl auch sein Krankenzimmer verlassen.«

Der Arzt betrachtete ihn von oben bis unten und meinte dann generös, als täte er Schwiete einen persönlichen Gefallen:

»Sie können einen kleinen Raum in der Stationsleitung nutzen. Ich werde Ihnen den Patienten gleich schicken. Lassen Sie sich von der Schwester schon mal in den Raum führen.«

Geschlagene fünfzehn Minuten später wollte Schwiete eben aufstehen und sich in aller Form beschweren, als endlich die Schwester in Begleitung eines jungen, auffallend breitschultrigen Mannes hereinkam, der zum größten Teil aus Gips und Verbandszeug zu bestehen schien. Der Kopf war bandagiert, der mächtige Brustbereich ebenfalls, und der rechte Arm steckte in einem Gips. Mit diesen Verletzungen würde sich bei uns jeder Beamte zu Recht erst mal vier Wochen krankschreiben lassen, dachte Schwiete beeindruckt. Der Mann mit der Natur eines Bullen setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Dabei konnte selbst er ein leises Stöhnen nicht unterdrücken.

»Herr …« Schwiete hatte Probleme, den russischen Nachnamen korrekt von seinem kleinen Notizbuch abzulesen.

Sein Gegenüber schlug vor: »Nennen Sie mich einfach Mike! Alle nennen mich so. Freunde wie Feinde. Bei Ihnen muss ich aber erst noch rausfinden, was Sie sind.«

Schwiete war platt. Die etwas lallende, schleppende Aussprache konnte bei den vielfältigen Verletzungen im Gesicht nicht überraschen. Aber seine entwaffnende Offenheit irritierte ihn einfach. Prüfend schaute er Mike an, konnte sich aber nicht festlegen, wie er ihn einzuschätzen hatte. Mike erwiderte seinen Blick ebenso direkt, wie er seine Worte wählte. Zumindest war dieser Mann sehr selbstbewusst, vielleicht aber auch nur etwas schlichten Gemütes, dachte Schwiete.

»Okay, Mike«, begann er die Vernehmung. »Erzählen Sie bitte, was genau gestern Abend passiert ist. Denken Sie in aller Ruhe nach, auch Unwichtiges kann von Bedeutung sein.«

»Zum Nachdenken hatte ich heute Nacht genug Zeit. Ich habe vor Schmerz keine Sekunde schlafen können, das dürfen Sie mir glauben. Also, ich habe trainiert. Ziemlich gut trainiert sogar. Dann habe ich geduscht, mich angezogen und bin rausgegangen zu meinem Auto. Draußen war Scheißwetter. Dunkel, windig und nass. Ich habe mir die Kapuze über den Kopf gezogen und zugesehen, dass ich ins Auto komme, und habe nicht erst großartig von draußen reingeschaut. Hätte ich mal machen sollen, wäre gesünder für mich gewesen. Na ja, hinterher ist man ja immer schlauer. Ich habe mich natürlich gewundert, dass die Karre nicht verriegelt war, aber das vergisst man ja schon mal. Hab nicht weiter drüber nachgedacht. War auch ein Fehler. Als ich drinsaß und losfahren wollte, hat mir so ein Drecksschwein von hinten was an die Birne geschlagen, und ich habe nur noch Sterne gesehen. Als ich aufgewacht bin, lag ich auf einem Bett in der Notfallambulanz. Mehr weiß ich nicht, Herr Kommissar.«

»Hauptkommissar«, korrigierte ihn Schwiete. Es musste schließlich alles seine Ordnung haben. Dann war ihm plötzlich seine eigene Pingeligkeit peinlich, und er fragte schnell weiter: »Mike, in der letzten Zeit ist bei ihrem Arbeitgeber so einiges vorgefallen. Können Sie dazu etwas sagen?«

Mike schaute ihn überrascht an. »Vorgefallen? Was ist denn vorgefallen? Ich habe davon jedenfalls nichts mitbekommen. Ich fand die letzten Tage sogar eher ruhig. Was soll denn gewesen sein?«