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Anscheinend lief heute alles aus dem Ruder. Schon morgens bei der Besprechung hatte Kükenhöner sein typisches egozentrisches Verhalten an den Tag gelegt. Er war zu spät gekommen, hatte schlechte Laune verbreitet und sich nicht an Absprachen und Anweisungen gehalten. Schwietes Ärger darüber hatte letztlich dazu geführt, dass er sich gegenüber Krügermeyer ungerecht verhalten hatte. Das konnte so nicht weitergehen, fand er.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war ein sehr wütender Herr Rademacher, der sich als Geschäftsführer des Clubs Oase vorstellte. In den nächsten Minuten ließ er seinem Ärger über den Besuch von Kükenhöner freien Lauf. Schwiete hörte zu, entschuldigte sich aufrichtig und versprach, mit dem Kollegen zu reden. Nach dem Gespräch hätte er den Hörer am liebsten aufgebracht aufs Telefon geknallt, doch er zwang sich zur Ruhe. Atmete dreimal tief durch. Dann griff er sich seinen Mantel und stürmte ins Freie. Er musste hier raus – der Laden machte ihn wahnsinnig!
Am Eingang der Kreispolizeibehörde stieß er mit einer blonden, fast hager wirkenden Frau zusammen, die ihn mit ihren grünen Augen durch eine altmodische Nickelbrille ansah. Sie trug einen schwarzen, langen Mantel und rote Handschuhe. Ihr ganzes Erscheinungsbild erinnerte Schwiete an die Mode der achtziger Jahre.
Umständlich entschuldigte er sich, und die Frau gab ihm mit einem charmanten Lächeln zu verstehen, dass sie ihm den Rempler längst verziehen hatte. Während sie im Gebäude verschwand, sah Schwiete ihr noch eine Weile gedankenverloren nach.
Dann trat er ins Freie. Es nieselte, doch das nahm er kaum wahr. Eigentlich wollte er darüber nachdenken, wie er künftig mit Kükenhöner umgehen sollte, doch das Gesicht dieser Frau ging ihm nicht aus dem Kopf. Nach einigen Minuten war er im Riemekepark. Hierher kam er oft zum Nachdenken. Meist stellte er sich unter einen Baum, von wo aus er auf einen kleinen See blicken konnte, der vor Urzeiten einmal angelegt worden war.
Die Regentropfen, die auf die Wasseroberfläche fielen, bildeten ständig neue konzentrische Kreise, die sich ausbreiteten und dann wieder verschwanden. Schwiete wusste nicht, wie lange er das Schauspiel auf der Seeoberfläche beobachtet hatte, doch als der Regen irgendwann direkt vor seinem linken Auge von der Kante seines Hutes nach unten tropfte und so eine ganz neue Choreografie entstehen ließ, wurde Schwiete aus seiner Trance zurück ins Hier und Jetzt geholt. Im nächsten Augenblick bemerkte er die klamme Kälte, die von seinem durchnässten Mantel ausging, doch seine Gefühle waren geordnet.
Auf dem Rückweg zum Büro nutzte er die wenigen Minuten, um über den aktuellen Fall nachzudenken. Wie war es nur zur Explosion gekommen? Eine solche Gasflasche, die die Detonation offenbar verursacht hatte, durfte eigentlich nicht in geschlossenen Räumen zum Einsatz gebracht werden. Wie war sie in das Haus gekommen und warum? Vielleicht hatten die Kollegen ja mittlerweile eine Erklärung dafür gefunden.
In der Kreispolizeibehörde zog Schwiete sich den nassen Mantel aus und hängte ihn sorgfältig auf den Bügel. Auf seinem Schreibtisch lagen schon seine wohlgeordneten Unterlagen, die er für die anschließende Besprechung benötigte.
Als er etwas zu früh den Sitzungsraum betrat, war Kükenhöner schon da. Er vermittelte den Eindruck, ein schlechtes Gewissen zu haben. Anscheinend wollte er nun Schadensbegrenzung betreiben, denn kaum hatte Schwiete die Tür hinter sich zugezogen, da sprach Kükenhöner ihn schon an.
»Hör zu, Horsti, ich hab Stress zu Hause. Meine Frau arbeitet wieder. Sie ist seit Ende der Sommerferien im Schuldienst. Jetzt schafft sie ihre Hausarbeit natürlich nicht mehr und verlangt von mir, dass ich meinen Teil übernehme. Ich drehe echt am Rad. Mir sind einfach die Nerven durchgegangen.«
Entweder hat Kükenhöner noch mehr Mist gebaut, von dem ich noch nichts weiß, dachte Schwiete, oder es geht Kükenhöner verdammt dreckig, wenn er hier so zu Kreuze kriecht.
»Karl, darüber und über ein paar weitere Punkte reden wir nach der Besprechung in meinem Büro!«
Zu Schwietes Verwunderung nickte Kükenhöner devot. Er wollte noch etwas sagen, doch da trat Linda Klocke ein. Die Polizisten setzten sich auf ihre gewohnten Plätze. Anschließend wurden die neuen Ergebnisse zusammengetragen.
»Dieser Hatzfeld muss Geld ohne Ende haben«, erzählte Linda Klocke. »Der wusste nicht einmal, dass ihm das Haus im Lohfeld gehörte.«
»Die Hatzfelds sind eine alte Immobilienmaklerdynastie in Paderborn. Denen gehört die halbe Stadt«, bemerkte Kükenhöner mit einer gewissen Boshaftigkeit.
Linda Klocke berichtete, dass sie inzwischen trotzdem die wichtigsten Informationen beisammenhabe. Das Anwesen habe eine gewisse Irina Koslow gemietet. Sie selbst wohne aber nicht im Lohfeld, sondern sei in der Marienloher Straße gemeldet.
Als Linda Klocke die Hausnummer vorlas, sprang Kükenhöner aufgeregt auf. »Das ist doch die Adresse von dem Puff, in dem ich war. Ich habe schon immer geahnt, dass Hatzfeld Kontakte zum Rotlichtmilieu unterhält.«
»Nun mal langsam, Karl«, ergriff Schwiete das Wort. »Du kannst doch nicht davon ausgehen, dass Hatzfeld seine Finger im Rotlichtmilieu hat, nur weil diese Frau Koslow ein Haus von ihm gemietet hat. So wie ich das sehe, gibt es bei Hatzfeld keinerlei Ansatzpunkte für irgendwelche Gesetzesverstöße, oder sehen Sie das anders, Frau Klocke?«
Die Polizistin schüttelte den Kopf.
»Gut, kommen wir zu dem Club Oase, den du dir netterweise vorgenommen hattest, Karl.«
Kükenhöner zuckte mit den Schultern. »Ich habe mit einem gewissen Rademacher gesprochen, das ist vielleicht ein Milchbubi. Schwer zu sagen, an wessen Tropf der hängt. Wenn ihr mich fragt, ist er eine Marionette. Ansonsten das Übliche, jedes Pferdchen arbeitet in die eigene Tasche und so weiter. Zuhälter gibt es nicht. Ihr kenn das ja, immer dasselbe. Diese Koslow ist mir allerdings nicht über den Weg gelaufen. Da muss ich dann wohl noch mal hin.«
»Gut, und was ist mit den beiden alten Leuten, Karl? Hast du mit denen gesprochen?«
Kükenhöner wand sich wie ein Aal. »Nein, die habe ich verpasst. Die waren wohl im Laufe des Tages mal da, sind dann aber wieder gegangen, nachdem sie mich nicht angetroffen haben. Die Adresse der beiden habe ich. Da kann ich ja dann morgen oder so mal hingehen.«
Schwiete merkte, wie er wieder wütend wurde. Doch er riss sich zusammen und nickte nur. »Gut, dann noch ein paar weitere Informationen von mir: Die Frau, die wir im Lohfeld festgenommen haben, wird noch psychologisch betreut. Zieldienliche Informationen gibt es von dieser Frau Solowjow noch nicht.«
»Psychologisch betreut, dass ich nicht lache!«, bemerkte Kükenhöner. »Diese Nutten können mit so einer Behandlung doch gar nicht umgehen. Einen an die Fresse, das ist doch das Einzige, was diese Weiber verstehen.«
Linda Klocke und Schwiete versuchten sich auch diesmal nicht provozieren zu lassen.
»Die Leichenteile, die wir in dem Haus im Lohfeld gefunden haben, konnten noch nicht identifiziert werden«, fuhr Schwiete fort. »Es handelt sich um eine unbekannte DNA. Bis jetzt sind sich die Kollegen von der Spurensicherung und die Helfer von der Feuerwehr sicher, dass sich zum Zeitpunkt der Explosion in dem Haus nur eine Person befand, nämlich die Tote. Das war es.«
Schwiete schloss den Deckel seiner Akte, und Kükenhöner machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
»Moment, Karl, wir beide haben noch was zu klären.«
Linda Klocke nickte den beiden Männern zu und schloss die Tür hinter sich.
»Jetzt erzähl mal, Karl, deine Frau arbeitet also wieder?«
Kükenhöner nickte und raufte sich die Haare. »Sie ist auf einem Egotrip, Midlife-Crisis oder so. Sie macht ihr Ding, und es ist ihr völlig egal, wie ich damit klarkomme. Als sie die Anstellung an der Schule in der Tasche hatte, hat sie mir eines Abends einen Zettel hingelegt, auf dem stand, was sie zukünftig im Haushalt zu tun gedenkt und was ich zu erledigen habe. Und als ich ihr sagte, dass ich die Aufteilung nicht gerecht fände, da sie ja mittags schon zu Hause sei, da hat sie mir mein Bettzeug vor die Schlafzimmertür gelegt und hat mich drei Wochen auf dem Sofa schlafen lassen. Und meine Töchter, diese Grazien, lassen sich von uns durch die Gegend kutschieren. Ansonsten legen sie ihre Füße auf meinen Tisch, sind rotzfrech und stinkfaul.«
Schwiete schwieg eine Weile. Er konnte sich gut vorstellen, wie diese neue Situation seinem Kollegen zusetzte, der bis dato wahrscheinlich nie irgendwelche Hausarbeiten übernommen hatte. Doch das gab ihm noch lange nicht das Recht, seine Launen auf der Arbeit auszuleben, geschweige denn seinen Job zu vernachlässigen. Schwiete erklärte ihm, was er von ihm erwartete, und Kükenhöner hörte sich die Meinung seines Chefs schweigend an. Dabei versuchte er einen reumütigen Eindruck zu vermitteln, den ihm Schwiete allerdings nicht ganz abnahm.
»Noch was«, fuhr er fort und berichtete Kükenhöner von Rademachers Anruf und seiner Beschwerde. »Um im Club Oase etwas zu deeskalieren, nehme ich dich da aus der Schusslinie. Und das Gespräch mit den beiden alten Leuten führe ich.«
»Alles klar.« Kükenhöner sah nervös auf die Uhr. »Aber jetzt muss ich wirklich los. Ich bin sowieso schon spät dran. Ich muss meine pubertierende Tochter zu einer Party bringen. Jahrelang war die Göre die Unpünktlichkeit in Person, aber wenn es um solche Dinge geht, macht sie einen Aufstand um jede Minute, die ich zu spät bin.«