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Plötzlich flammte das Fernlicht der Planierraupe auf und erhellte die ganze Szenerie. Erschrocken und geblendet wichen Hatzfeld und Rademacher einige Schritte zurück. Verzweifelt versuchten sie, ihre Augen an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen. Sie waren gefährlich in der Defensive.
Werner Hatzfeld legte schützend eine Hand über die Augen. Schemenhaft konnte er erkennen, dass sich die Raupentür öffnete. Ein Mann stieg aus und kam langsam auf sie zu. Er warf so viel Schatten, dass Hatzfeld endlich wieder fast normal sehen konnte. Vor ihm stand Wilfried Kloppenburg.
»Du bist tatsächlich gekommen, Hatzfeld? Dann musst du wirklich ein verdammt schlechtes Gewissen haben. Hast du das Geld dabei?«
Als Bestätigung hielt Hatzfeld den schwarzen Aktenkoffer hoch und stellte ihn danach wieder ab.
»Warum hast du einen Bodyguard mitgebracht? Traust du mir nicht? Oder hast du vielleicht irgendeinen miesen Trick vor?«
Als Hatzfeld versuchte, Rademachers Anwesenheit kleinzureden, schnitt ihm Kloppenburg das Wort ab.
»Ich habe diesen langen Schlacks schon zur Genüge kennengelernt. Er soll die Hände hinter dem Kopf verschränken und zwei Schritte zurücktreten. Sag ihm das! Sonst breche ich die Aktion ab, bevor sie richtig begonnen hat. Dann wirst du dich mit der Polizei auseinandersetzen müssen.«
Hatzfeld drehte sich zu Rademacher um und gab Kloppenburgs Anweisung weiter. Rademacher wollte widersprechen, wurde aber durch eine energische Handbewegung gestoppt. Widerwillig hob er beide Arme und tat, wie ihm befohlen worden war.
Damit schien Kloppenburg zufrieden zu sein, denn seine Körperhaltung entspannte sich etwas. Als aber Hatzfeld nun seinerseits begann, Fragen zu stellen, hob Kloppenburg abwehrend die Hand und sagte entschlossen: »Kein Wort mehr! Wir hätten über alles reden können, wie erwachsene Männer und Geschäftspartner es eigentlich tun sollten. Aber mit deinem Mordversuch an mir bist du zu weit gegangen. Nun wird nicht mehr geredet. Nun will ich meine Entschädigung, und dann sieh zu, dass du Land gewinnst. Für immer. Ich will dich in Paderborn und Umgebung nicht mehr sehen, sonst mache ich dich fertig. Ich besitze übrigens exakt die gleiche Planierraupe wie diese hier und weiß, wie man so ein Monstrum kurzschließt. So, und jetzt gib den Koffer her!«
Er streckte fordernd die Hand aus. Hatzfeld zögerte kurz. Dann überwand er sich, machte einen Schritt nach vorn und drückte Kloppenburg den Koffer in die Hand.
»Er hat ein Zahlenschloss«, bemerkte er und nannte eine vierstellige Zahlenkombination. Kloppenburg tippte die Zahlen ein, und mit einem leisen Klicken sprang der Kofferdeckel auf. Gleichzeitig gab Hatzfeld ein Handzeichen.
Wilfried Kloppenburg öffnete den Kofferdeckel vollständig, schaute hinein … und erstarrte. Dann griff er hinein und holte ein Stück zusammengeknülltes Zeitungspapier heraus. Und noch eines. Völlig aufgelöst kramte er in dem Koffer, zerrte ein Papierknäuel nach dem anderen heraus und warf es auf den Boden. Schließlich warf er Hatzfeld mit einem wütenden Schrei den Koffer vor die Füße. Dann stürzte er sich urplötzlich wie ein Kampfstier auf ihn. Hatzfeld wich geistesgegenwärtig aus, indem er einen kleinen Schritt zur Seite machte. Doch Kloppenburg sah rot und war nicht mehr zu stoppen. Wieder stürzte er sich auf Hatzfeld, der diesmal nicht schnell genug war. Die beiden fast gleich großen und gleich schweren Männer prallten aufeinander.
Hatzfeld wollte erneut ausweichen, brachte aber nur eine zu kurze Drehung zustande. In diesem Moment schlug Kloppenburg, der nun jede Kontrolle über sein Handeln verloren hatte, zu. Die aufgestaute Wut, alle Demütigungen, die er während seiner Gefangenschaft erfahren hatte, die Sorgen, die er sich um Alicija gemacht hatte – alle lagen sie in diesem Schlag, der Hatzfeld an der Halsschlagader traf. Dieser drehte sich einmal um sich selbst, kippte nach hinten, fiel krachend auf den Stapel Holzpaletten und blieb regungslos dort liegen. Kloppenburg trat ihm mit voller Wucht in den Bauch. Im selben Augenblick spürte er hinter sich eine Bewegung, drehte sich um … und sah in eine Pistolenmündung.
Rademacher stand mit erhobener Waffe vor ihm. Seine Körpersprache und sein genüssliches Lächeln ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass er abdrücken würde. Völlig unabhängig davon, wie sich Kloppenburg verhielt. Es war, als hätte jemand einen Pfeil abgeschossen, der nun auf dem Weg zu seinem Ziel war und von nichts und niemandem aufgehalten werden konnte. Rademacher hatte das Monster in sich entdeckt, als er in der Hütte einen wehrlosen Gefangenen quälen durfte. Jetzt war es wieder erwacht und verlangte nach Futter. Er hob die Waffe noch ein wenig höher, bis sie direkt auf Kloppenburgs Stirn zielte.
Diesem brach der Angstschweiß aus, doch er war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Rademacher an. Ihm war klar, dass er keine Chance hatte.
In diesem Moment sprang ein schwarzer Schatten hinter der Raupe hervor und schrie mit heller Stimme: »Die Waffe runter! Aber sofort!«
Rademacher drehte sich blitzschnell um, doch in diesem Moment krachte schon der Schuss. Rademacher taumelte nach hinten, versuchte sich zu fangen, stolperte aber und blieb auf dem bewusstlosen Werner Hatzfeld liegen. Wie ein Hubschrauberlandekreuz lagen die beiden Männer quer übereinander und rührten sich nicht mehr.
Der zierlich gebaute Schütze trat ins Licht der Planierraupe und prüfte, ob noch Leben in Rademacher war. Als er sich eine schwarze Wollmütze vom Kopf riss, fiel dichtes dunkles Haar auf die schmalen Schultern, und große, braune Augen schauten tieftraurig zu Kloppenburg.
»Tot!«, flüsterte die Frau so leise, dass ihre Worte kaum zu hören waren, und steckte die Waffe unter ihre Jacke. »Das wollte ich nicht.«
Kloppenburg löste sich aus seiner Schreckstarre, ging zu ihr und wollte ihr tröstend den Arm um die Schulter legen. Aber sie schüttelte ihn energisch ab und trat einen Schritt zur Seite. Ratlos blieb Kloppenburg stehen, unsicher, was er nun tun sollte.
»Alicija, du … du hast ihn erschossen!«, rief er verwirrt.
»Wir müssen weg! Und zwar schnell!«
»Aber zuerst müssen wir diese Spuren hier beseitigen«, meinte Kloppenburg und zeigte auf Hatzfeld und Rademacher. »Ich mache das schon!«
Er stieg in die Fahrerkabine der Planierraupe und machte sich dort zu schaffen. Alicija wurde unruhig und rief ihm zu:
»Was machst du denn da? Wir müssen los!«
Aber dann hörte sie das laute Wummern eines anspringenden Dieselmotors. Die Raupe setzte sich rückwärts in Bewegung, drehte ein wenig und fuhr dann langsam wieder vor. Ganz vorsichtig schob Kloppenburg den Palettenstapel mit den darauf liegenden Männern in Richtung des nächsten riesigen Sandhaufens. Immer weiter bugsierte er das Ganze in den weichen Sand hinein, bis sich durch den Druck schließlich von oben eine gewaltige Sandlawine löste, die die beiden Männer unter sich begrub.