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Das Ganze wurde immer unübersichtlicher. Was hatte die Frau, die bei der Explosion Im Lohfeld umgekommen war, mit Kloppenburgs Entführung zu tun? Gab es zwischen den beiden Begebenheiten überhaupt einen Zusammenhang? Und der Angriff auf den Türsteher der Oase, wie passte der ins Bild? Gab es im Hintergrund einen Krieg zwischen unterschiedlichen Gruppierungen des organisierten Verbrechens? War vielleicht die Gasexplosion der Auftakt zu einer Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Banden des Rotlichtmilieus? Und welche Rolle spielte dieser Hatzfeld, angeblich ein honoriger Bürger der Stadt? War er der Pate der Paderstadt oder nur ein reicher Mann, der versehentlich in ein für Schwiete unbekanntes Schussfeld geraten war?

Vor allem aber: Welche Motive standen dahinter? Den Tatbestand der Zuhälterei, den Karen Raabe ins Spiel gebracht hatte, wollte Schwiete zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht erst in seine Überlegungen mit aufnehmen.

Beim Gedanken an Karen Raabe bekam Schwiete feuchte Hände und einen trockenen Mund. Er musste dieses unselige Rendezvous heute Abend absagen.

»Der gute Hatzfeld ist ja ziemlich nervös«, meinte Kükenhöner grinsend. »So ganz sauber ist seine Weste bestimmt nicht.«

»Ich glaube auch, dass Hatzfeld irgendwas zu verbergen hat«, stimmte Schwiete ihm zu. »Wir müssen unbedingt mit Kloppenburgs Frau reden. Und wir müssen diese Irina Koslow finden. Zumindest müssen wir ihre Wohnung durchsuchen. Vielleicht entdecken wir da noch Hinweise.«

Kükenhöner nickte. Die Zusammenarbeit mit Schwiete funktionierte eigentlich ganz gut, wenn die dämliche Kollegin Klocke nicht dabei war, dachte er. Laut sagte er: »Sehe ich genauso, Horsti. Wilfrieds Frau sollten wir sofort besuchen. Die Wohnung von dieser Nutte kann ruhig warten, die nehmen wir uns am Montag vor. Es sei denn, es passiert noch was Gravierendes. Dann gehen wir da sofort rein. Von wegen Gefahr im Verzug.«

»Wer ist denn Wilfried?«, hakte Schwiete nach und fragte sich, warum Kükenhöner die Leute immer so abwerten musste. Warum benutzte er das Wort Nutte, statt von Frau Koslow zu sprechen? Versuchte er sich durch die Herabwürdigung anderer Personen zu einem besseren Menschen zu machen?

»Sag mal, du wirkst so unkonzentriert, so fahrig. Wilfried Kloppenburg natürlich«, konterte Kükenhöner. »Ich bin doch mit ihm in einer Klasse gewesen, darum Wilfried.«

Schwiete nickte. »Hatte ich kurz vergessen, Karl. Ja, da fahren wir jetzt hin. Ich muss nur eben noch ein privates Telefongespräch führen.«

Schwiete erwartete, dass Kükenhöner nun diskret den Raum verließ, doch weit gefehlt. Der Kollege setzte sich auf einen Stuhl und wartete.

Daher entschloss sich Schwiete, die Örtlichkeiten zu wechseln. »Ich bin gleich wieder da, Karl.«

Auf dem Flur drückte er auf seinem Handy die inzwischen einprogrammierte Nummer von Karen Raabe. Nach dem fünften Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Schwiete hinterließ keine Nachricht. Dann endlich fiel bei ihm der Groschen. Heute war ja Samstag. Da waren die wenigsten Büros besetzt. Er würde Karen Raabe bis heute Abend bestimmt nicht mehr erreichen. Die Schweißproduktion seiner Handflächen verdoppelte sich von einem Moment zum nächsten, während sich die Trockenheit in seinem Mund der einer Sandwüste näherte.

Er würde heute Abend wohl oder übel zu der Verabredung gehen müssen – ob er wollte oder nicht. Jemanden versetzen, das kam für ihn nicht in Frage. Warum bin ich nur so ein Prinzipienreiter?, schalt er sich selbst, doch er konnte einfach nicht aus seiner Haut.

Da kam ihm eine Idee. Vielleicht gab es ja bei dem Verein Theodora eine Notfallnummer? Doch noch bevor er das herausfinden konnte, stand Kükenhöner neben ihm.

»Horsti, Horsti, du hast Geheimnisse vor mir!« Der Kollege hatte jetzt dieses hämische Grinsen aufgesetzt, das Schwiete so anwiderte.

»Nein, Karl, ich habe keine Geheimnisse vor dir. Du sollst nur nicht alles wissen.«

Den Satz verstand Kükenhöner nicht. Wenn ich was nicht wissen darf, dann ist das für mich ein Geheimnis, überlegte er. Kükenhöner hasste Wortspiele. Wollte Schwiete ihn auf den Arm nehmen, oder war er selbst zu blöde, den Sinn des Satzes zu begreifen? Er traute sich nicht nachzufragen. Womöglich war die Antwort so simpel, dass er dumm dastehen würde.

Schwiete reichte ihm die Autoschlüssel und sagte: »Du fährst!«

Kükenhöner pfiff leise durch die Zähne, als er das Polizeifahrzeug in die Straße Zum See lenkte. Hier wohnten reiche Leute. War die Familie Kloppenburg damals schon so wohlhabend gewesen, dass sie sich an solcher Stelle ein Anwesen leisten konnte? Oder hatte sein ehemaliger Schulkollege Wilfried diesen Reichtum geschaffen? Kükenhöner konnte sich nicht mehr an den gesellschaftlichen Status der Familie erinnern.

Zwei Minuten später öffnete eine gutaussehende, aber hart wirkende Frau die Haustür. Sie starrte Kükenhöner an wie einen Menschen von einem anderen Stern. Noch bevor sich die beiden Polizisten ausweisen konnten, fragte Brigitte Kloppenburg überrascht: »Karl? Karl Kükenhöner? Bist du das?«

»Brigitte? Brigitte Wanzleben?«

»Schön, dass du dich an mich erinnerst, Karl.«

»Allerdings, Brigitte, ich erinnere mich. Und wie ich mich erinnere!«

Frau Kloppenburg drohte Kükenhöner fast schelmisch mit dem Finger.

Schon wieder so ein Auftritt, der so gar nicht ins Bild passte, wunderte sich Schwiete. Reagierte so eine Frau, deren Mann entführt wurde?

»Kommt doch rein. Ihr seid sicher wegen der angeblichen Entführung meines Mannes hier.« Sie schloss Schwiete in das joviale Du gleich mit ein. Doch in dem Augenblick, als sich die Unterhaltung um Wilfried Kloppenburg drehte, hatte sie wieder diesen harten Zug um den Mund.

»Ja, mein Mann ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Aber das ist nichts Neues, der robbt ja seit Jahren durch die Betten Paderborns. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er entführt worden ist. Wenn dem etwas zustößt, dann nur durch die Fäuste eines gehörnten Ehemanns. Kidnappen tut den keiner. Andernfalls wäre doch schon längst eine Lösegeldforderung eingegangen. Oder etwa nicht?«

Plötzlich herrschte Stille. In das eben noch so harte Gesicht von Frau Kloppenburg traten plötzlich Tränen.

»Ich halte das nicht mehr aus!«, schluchzte sie jetzt. »Ewig neue Liebschaften, immer wieder verschwindet Wilfried mit einer neuen Bekanntschaft oder einer Prostituierten für mehrere Tage und taucht dann wieder auf. Das ist alles so entwürdigend.«

Brigitte Kloppenburg wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, doch schon bald hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg und verschmierte ihr Make-up.

»Wir haben jahrelang eine wirklich gute Ehe geführt. Na ja, Krisen erlebt jede Beziehung. Aber seit zwei Jahren rennt der Kerl jedem Rock nach, der seinen Weg quert. Midlife-Crisis – dass ich nicht lache. Der Kerl macht sich und mich permanent lächerlich. Seit Wilfried mich betrügt, streiten wir ständig. Die Auseinandersetzungen sind immer heftiger geworden. Stellt euch vor, letzte Woche habe ich einen Sarg in unserer Garage gefunden. Das ist doch eine Drohung, die Wilfried an mich richtet. Der will mich umbringen! Ich mache das nicht mehr mit. Letzte Woche ist eine schöne Stadtwohnung von uns frei geworden. Da ziehe ich ein. Ich habe die Nase voll! Montag bin ich hier weg!«

Jetzt meldete sich Schwiete zu Wort. »Sagen Sie, Frau Kloppenburg, sind Sie sicher, dass Ihr Mann den Sarg auf Ihr Anwesen gebracht hat? Vielleicht wollte jemand Ihrem Mann damit drohen?«

»Sie meinen …? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber warum soll jemand das tun?«

»Wo steht denn der Sarg, Frau Kloppenburg?«

»In der Garage.«

»Dürfen wir uns mal umsehen?«

»Natürlich. Ich will, dass diese schaurige Geschichte mit dem Sarg möglichst bald aufgeklärt wird. Egal für wen er gedacht war – für mich oder für meinen Mann – der Scherz oder auch die Drohung ist der Gipfel der Geschmacklosigkeit.«

»Wir müssen noch heute die Spurensicherung kommen lassen«, beschloss Schwiete. »Vielleicht finden wir ja etwas, das uns weiterhilft. So lange darf keiner die Garage betreten.«

»Ich gebe dir gleich den Schlüssel, Karl«, schlug Brigitte Kloppenburg vor. »Dann könnt ihr sie selbst abschließen und ihn an die Spurensicherung weitergeben, nachdem ihr euch umgesehen habt.«

Schwiete nickte. »In Ordnung, Frau Kloppenburg, so machen wir es. Wenn Ihr Mann wieder auftauchen sollte, soll er sich umgehend mit uns in Verbindung setzen. Bitte sagen Sie ihm das. Wir sehen uns noch die Garage an, rufen die Spurensicherung und sind dann weg.«

Nachdem Schwiete und Kükenhöner den Sarg begutachtet hatten, fuhren sie zurück nach Paderborn. »Brauchst du mich heute Abend noch, oder kann ich Feierabend machen?«, erkundigte sich Kükenhöner.

»Nein, lass uns Feierabend machen. Soll ich dich bei dir zu Hause absetzen?«

Wenige Minuten später hielt Schwiete vor dem Gartentor des Kollegen. Am Zaun standen ein paar Möbelstücke im Regen. Kükenhöner verschlug es die Sprache. Das war doch die Zimmereinrichtung seiner Tochter Maren! Was führte die jetzt schon wieder im Schilde? Hastig verabschiedete er sich und rannte den Gartenweg entlang zum Hauseingang, während Schwiete den ersten Gang einlegte und das Auto im Schritttempo auf die Straße rollen ließ.

Er sah auf das Display des Bordcomputers. Es war kurz vor sechs. Plötzlich wurde ihm klar, dass er die Verabredung mit Karen Raabe nicht mehr absagen konnte. Er musste sich dem ersten Rendezvous seines Lebens stellen.