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Die Luft in dem kleinen Wohnzimmer war zum Schneiden. Den ganzen Tag über hatte niemand den Temperaturregler der Zentralheizung heruntergedreht. Walter Hermskötter seufzte erschöpft, aber zufrieden und knöpfte den obersten Knopf seines Hemdes auf. Die Idee, ein Fenster zu öffnen, kam ihm gar nicht. Schließlich war es Ende November, und draußen war es windig und rundum widerwärtig. Das feuchtkalte Herbstwetter war Gift für seine alten Knochen. Zum Glück konnte er einfach das Fenster schließen, die Heizung hochdrehen und seinem empfindsam gewordenen Körper die Illusion tropischer Wärme gönnen.
Er nahm die Fernbedienung des Fernsehers in die Hand und brachte das Gerät wieder auf die Lautstärke, die seinem schwächer werdenden Gehör entsprach. Seine Ehefrau, die nebenan in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine räumte, sollte ruhig schimpfen. Da sie fast acht Jahre jünger und noch gut beisammen war, hatte sie ihm im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr die Fäden aus der Hand genommen. Eine Entwicklung, die Hermskötter zwar bequem, aber auch leicht beunruhigend fand. Doch die Hoheit über die Fernbedienung würde er sich nicht aus der Hand nehmen lassen, mochte da kommen, was wollte.
Er rutschte in seinem Sessel so lange hin und her, bis er behaglich saß. Die Wetterfrau im Fernsehen kündigte mit strahlendem Lächeln für die kommende Woche die Fortsetzung des nasskalten Wetters an. Walter Hermskötter brummte unzufrieden, als müsste er tatsächlich hinaus in die raue Natur und sich bei harter körperlicher Arbeit im Dauerregen den Tod holen. Dabei war er seit vielen Jahren Rentner und würde auch den morgigen Tag gemütlich im warmen Wohnzimmer verbringen. Wozu hatte er schließlich ein Leben lang geschuftet? Jetzt waren andere an der Reihe. Sein Leben war zwar alles andere als ereignisreich, aber genau so mochte er es. Und so sollte es auch bleiben bis ans Ende seiner Tage. Da sein Haus direkt neben dem riesigen Paderborner Westfriedhof stand, würde auch der allerletzte Weg nicht allzu anstrengend werden.
Als seine Frau Maria sich müde aufs Sofa fallen ließ, warf er ihr einen schnellen, forschenden Blick zu. Zum Glück wirkte sie nicht angespannt, sondern machte einen gelösten Eindruck. Nein, es würde keine atmosphärischen Störungen geben, während die beiden, wie jeden Sonntag, den Tatort schauten.
Der Vorspann hatte eben begonnen, da schrillte die Haustürklingel.
»Wer kommt denn jetzt noch?«, schimpfte Hermskötter, blieb aber ganz selbstverständlich sitzen. Seine Frau hievte sich mit fragendem Blick vom Sofa hoch, fuhr sich kurz mit beiden Händen durch die Frisur und strich ihr Kleid glatt. Dann ging sie zur Haustür. Nun hielt es Walter Hermskötter doch für seine Hausherrenpflicht, nach dem Rechten zu sehen. Ächzend drückte er sich hoch, schlüpfte in seine Pantoffeln und ging, leicht hinkend, hinter seiner Frau her.
Ein Windstoß drang wie eine Riesenwelle herein, als seine Frau die Tür öffnete. Er raubte ihnen fast den Atem, und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder orientiert hatten.
Vor der Tür stand eine junge Frau, die vom Regen völlig durchnässt war. Auf dem linken Arm trug sie eine ebenso nasse kleine Katze, der das rechte Ohr fehlte. Mit der rechten Hand hielt sie eine gut gefüllte Plastiktüte. Die Frau, die noch keine dreißig Jahre alt sein, war trotz hübsch, schlank und mit ihrem dünnen Mantel für dieses Wetter völlig unzureichend gekleidet. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, auch wenn er im ersten Augenblick nicht hätte sagen können, wann und wo er es schon einmal gesehen hatte.
Frau Hermskötter war eine warmherzige ältere Dame, die bei diesem Wetter niemanden draußen vor der Tür stehen ließ. Sie bat die Besucherin mit einem freundlichen, wenn auch leicht unsicheren Lächeln herein. Als Maria die Haustür wieder geschlossen und damit die ungemütliche Außenwelt ausgesperrt hatte, fiel Hermskötter auch wieder ein, woher er dieses hübsche Gesicht mit den großen, traurigen Augen kannte. Diese junge Frau hatte er schon mehrfach in das freistehende Haus auf der anderen Straßenseite gehen sehen, wo sie offenbar wohnte. Aber miteinander gesprochen hatten sie noch nie. Nach Meinung der anderen Nachbarn war sie, wie auch die beiden anderen jungen Damen, die dort lebten, nicht ganz koscher, irgendwie anders. Man konnte nur mutmaßen, womit sie ihr Geld verdienten.
Die durchnässte junge Frau schüttelte abwehrend den Kopf, als Frau Hermskötter sie in das Wohnzimmer geleiten wollte.
»Danke«, sagte sie leise in einem osteuropäisch gefärbten Deutsch und streichelte der kleinen Katz über das feuchte Fell. »Aber ich möchte Sie nicht mehr als nötig belästigen. Mein Name ist Alicija. Wie Sie vielleicht wissen, wohne ich seit einem halben Jahr im Haus gegenüber. Ich muss heute noch dringend für einige Tage wegfahren und möchte Sie bitten, für diese Zeit auf meine Katze aufzupassen. Tut mir leid, wenn ich Ihnen damit zur Last falle, aber ich habe sonst niemanden und weiß wirklich nicht, wohin mit der Kleinen. Sie heißt Natascha. Ich habe ein bisschen Futter und Spielzeug für sie mitgebracht. Ansonsten geht sie gerne raus, sie müssen sich also keine Gedanken um die Katzentoilette machen.«
Natascha schien sich bereits wie zu Hause zu fühlen, denn sie sprang vom Arm und machte sich munter daran, den Hausflur der Hermskötters zu untersuchen. Walter Hermskötter wollte energisch Nein sagen, aber seine Gattin kam ihm mit einem freundlichen: »Meine Liebe, das ist gar kein Problem, wir helfen doch gern!« zuvor.
Er schluckte wortlos seinen Widerspruch herunter. Das Mädchen sieht tatsächlich ziemlich verzweifelt aus, tröstete er sich. Er betrachtete ihre blonden, schulterlangen Haare, ihren dünnen Mantel mit den auffälligen roten Knöpfen, sah die kleine Regenwasserpfütze, die sich um ihre hochhackigen Sommerschuhe herum bildete. Dann schaute er ihr ins Gesicht und sah in die dunklen, traurigen Augen. Diese junge Frau wirkte so verstört und hilfsbedürftig, dass sein Ärger darüber, ein paar Tage lang eine einohrige Katze ertragen zu müssen, augenblicklich verblasste.
Wortlos nahm er seiner Nachbarin die Plastiktüte ab und beobachtete mit zwiespältigen Gefühlen, wie seine Frau die Katze auf den Arm nahm und streichelte. Er persönlich mochte Katzen nicht, aber es wäre der falsche Zeitpunkt gewesen, dies zu sagen. Resigniert schlurfte er ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen. Von hier konnte er hören, wie seine Frau die Nachbarin verabschiedete und die Haustür hinter ihr schloss. Dann kam auch sie mit der Katze auf dem Arm zum Sofa.
»Das arme Mädchen!«, sagte sie mitleidig. »Hast du gesehen, wie verzweifelt sie wirkte? Wo sie wohl heute noch hin muss? Hoffentlich ist es nichts Unangenehmes.«
Hermskötter verdrehte die Augen und schaute in den nächsten anderthalb Stunden schweigend der Tatort-Kommissarin zu, die wie immer ihren Fall souverän löste. Es war exakt 22.15 Uhr, als er auf die Fernbedienung drücken wollte, um den Fernseher auszuschalten und nach diesem ruhigen Tag ins Bett zu gehen.
In diesem Moment brach die Hölle los.
Alles geschah gleichzeitig: Erst der infernalische Lärm einer Explosion, die das ganze Haus erzittern ließ wie bei einem Erdbeben. Die beiden Wohnzimmerfenster zersprangen, kleinere und größere Glasscherben flogen ihm um die Ohren. Dann traf ihn ein harter Schlag an der Stirn. Wie durch eine rote Nebelwand sah Hermskötter die kleine Katze panisch aus dem Wohnzimmer rasen, sah seine Ehefrau, die mit schreckensstarrem Blick zu ihm schaute, dann schwanden ihm die Sinne.