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Heute war Totensonntag. Eine treffendere Bezeichnung gab es für einen solchen Tag nicht. Eine widerlich nasskalte, graue Atmosphäre hatte sich über Paderborn gelegt und schien die Stadt erdrücken zu wollen. Dieses Gefühl jedenfalls überkam Horst Schwiete, als er nach dem Aufstehen einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster warf. Zum Glück konnte er dem Wetter auch etwas Positives abgewinnen: Seine gemütliche, warme Wohnung hatte bei einem solchen Sauwetter eine besonders angenehme anheimelnde Atmosphäre.

Horst Schwiete zog sich seinen Morgenmantel über, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Er legte ein Brötchen vom Vortag auf den Toaster, und nachdem es angenehm knusprig und warm war, bestrich er es dick mit Butter und Marmelade. Anschließend stellte er alles auf ein Tablett und trug es in sein Wohnzimmer. Hier setzte er sich an den Tisch vor dem großen Fenster, frühstückte in aller Ruhe und hing seinen Gedanken nach.

Er musste an die niedrige, dunkle Wohnküche denken, die der zentrale Raum in dem alten, kleinen Fachwerkhaus seiner Kindheit in Neuenheerse gewesen war. Hier war er als Sohn eines Waldarbeiters aufgewachsen. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Dies war wohl auch der Grund, dass der kleine Horst schon sehr früh in seinem Leben Aufgaben im Haushalt übernehmen musste. Schon mit sechs Jahren war es sein Job gewesen, morgens den Ofen anzufeuern.

Er konnte sich noch genau an die Überwindung erinnern, die ihn das frühe Aufstehen gekostet hatte. Er hatte damals ein regelrechtes Ritual entwickelt. Jeden Morgen räumte er sich fünf Minuten ein, um sich mental auf den Zeitpunkt einzustellen, in dem er das warme Bett verlassen musste. Genau fünf Minuten! Während dieser Zeit ließ er seinen mechanischen Wecker nicht aus den Augen. Er lauschte. Tick! Tack! Tick! Tack! Und nachdem der kleine Sekundenzeiger sich fünfmal um die eigene Achse gedreht hatte, zählte Schwiete, um noch etwas Zeit zu gewinnen, laut bis zehn. Dann riss er die Bettdecke zur Seite, trotzte der Kälte, die ihn augenblicklich umklammerte, zog hastig seine Pantoffeln an und lief in die Küche. Mit der Zeit hatte er es zu einer wahren Perfektion beim Entfachen der Flammen gebracht. Und wenn dann die ersten Flammen am Holz leckten und die Brennkammer erleuchteten, wenn die erste Wärme noch zaghaft gegen die Kälte ankämpfte, dann hastete Schwiete zurück in sein Schlafzimmer, kroch eilig wieder unter die warme Decke und wartete darauf, dass es in der Küche erträglich warm wurde.

Ein nasses Ahornblatt wurde vom Wind gegen die Wohnzimmerscheibe geklatscht und blieb an ihr haften. Schwiete sah sich das Blatt eine Zeit lang gedankenverloren an. In diesem Moment läutete es an seiner Wohnungstür. Es war seine Vermieterin Hilde Auffenberg.

»Kommen Sie heute Abend doch zum Essen. Unser Nachbar Herbert Höveken wird auch da sein. Ich koche etwas Gutes, und wir machen eine schöne Flasche Wein auf. Vielleicht gelingt es uns ja so, der Tristesse der Jahreszeit zu entgehen«, meinte seine Hauswirtin mit einem freundlichen Lächeln.

Er führte kein schlechtes Leben, fand Horst Schwiete und dankte seiner Vermieterin für die nette Einladung. Dann trank er mit ihr noch eine Tasse Kaffee, bevor er seine Wohnung in Ordnung brachte. Eine Tätigkeit, die höchstens zwei Minuten in Anspruch nahm, denn Schwiete war Pedant. Unordnung gab es bei ihm nicht.

Nach dem Abwasch widmete er sich seiner Sonntagszeitung. Doch immer wieder wanderten seine Gedanken zurück in seine Kindheit. Mit seinem Vater hatte er sich immer gut verstanden. Doch als sein Lehrer vorgeschlagen hatte, ihn aufs Gymnasium zu schicken, war sein Vater strikt dagegen gewesen.

Seit Generationen seien die Männer in seiner Familie Waldarbeiter, hatte er gesagt. Das sei ein ordentlicher Beruf. Ständig an der frischen Luft, und Holz würde immer gebraucht. Außerdem habe so eine Arbeit noch keinem geschadet. Das gelte auch für seinen Sohn.

Doch der junge Lehrer war hartnäckig geblieben. Immer wieder hatte er den Vater aufgesucht, und letztendlich war es ihm doch gelungen, ihn zu überreden.

Schwietes Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ja, er war aufs Gymnasium gegangen. Doch die Wurzeln waren für einen Holzfäller offenbar sehr wichtig, denn Horst Schwiete musste schon als kleiner Junge mit in den Wald. Hier hatte er alles über die Natur gelernt, was sein Vater ihm beibringen konnte. Auch das Holzfällen musste Schwiete lernen, und es hatte ihm ebenso viel Spaß gemacht wie das Büffeln in der Schule.

Als es nach dem Abitur ans Studieren ging, fehlte es am Geld, und ein Kredit kam weder für den Vater noch für den Sohn infrage. Also wurde Schwiete Polizist. Auch heute noch, nachdem er diesen Beruf seit über zwanzig Jahren ausübte, war er froh, ihn ergriffen zu haben. Klar, er war immer ein Sonderling gewesen. Am Gymnasium war er als Sohn des Holzfällers belächelt worden, doch er war schlau und stark. Das eine war nützlich im Klassenzimmer, das andere auf dem Schulhof. Die Mädchen mochten ihn, doch er war viel zu schüchtern, sich dies zu Nutze zu machen. Bis heute hatte er keine Freundin.

In der Polizeischule war er wieder ein Einzelgänger. Er soff nie und war immer leise. Manche seiner Kollegen nannten ihn einen Streber. Doch Schwiete hatte sich für einen Beruf entschieden, der ihm gefiel, den er sich ausgesucht hatte und der ihm, wie er fand, lag.

Er liebte es, an Fällen herumzuknobeln, er verfügte über so etwas wie Intuition und ließ bei der Polizeiarbeit auch seinem Gefühl den nötigen Raum. Manche Kollegen fanden ihn eigenbrötlerisch und verschlossen, manche sogar linkisch. Er passte eben an vielen Stellen nicht ins Bild. Aber er war mit sich im Reinen. Er hatte sich für einen Weg entschieden, der zwar schwierig war, aber es war seiner. Und das, was ihm der Vater beigebracht hatte, wenn sie Tiere beobachteten, das Warten, war eine seiner Stärken – damals im Wald und heute als Polizist. Doch das Wichtigste, was er bei der Waldarbeit gelernt hatte, war: Die Sicherheit steht vor allem.

Heute hatte sich in seinen penibel durchstrukturierten Tag eine unerwartete Eigendynamik eingeschlichen und jede Ordnung über den Haufen geworfen. Beim Grübeln und Zeitunglesen war die Zeit vergangen, ohne dass Schwiete es bemerkt hatte. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass er nur noch eine Viertelstunde hatte, um sich ausgehfertig zu machen.

Zwar musste er nur eine Etage tiefer gehen, nämlich in Hilde Auffenbergs Küche, doch das hinderte Schwiete nicht daran, sich zu duschen, einen Anzug und ein frisch gebügeltes Hemd anzuziehen. Für ihn war es undenkbar, die Wohnung im Trainingsanzug oder in legerer Freizeitkleidung zu verlassen, wenn er eingeladen war, und sei es auch nur bei seiner Vermieterin.

Herbert Höveken, der Nachbar und Besitzer eines Beerdigungsinstitutes, war schon da, als Schwiete die Küche betrat, die so etwas wie das Kommunikationszentrum des Ükernviertels war.

Schwiete wunderte sich, dass der große Esstisch tatsächlich nur für drei Personen gedeckt war. Das war für Hilde Auffenbergs Verhältnisse eine wirklich überschaubare Gästezahl. Zwar hatte sie ihm morgens schon diese kleine Runde angekündigt, doch Schwiete wusste, dass der Tag lang war und seine Hauswirtin eine umtriebige Person. Da konnten innerhalb von ein paar Stunden schnell drei bis vier Personen dazukommen.

Vielleicht traute sich ja aufgrund des Sauwetters niemand auf die Straße, und so hatte es seiner Hauswirtin an Möglichkeiten gemangelt, weitere Gäste und Nachbarn einzuladen.

Hilde Auffenberg und Herbert Höveken waren schon seit Urzeiten Nachbarn. Und seit Schwiete hier wohnte, konnte er sich kaum an einen Tag erinnern, an dem Höveken nicht in Hilde Auffenbergs Küche gesessen hatte. Schon als er den Beerdigungsunternehmer zum ersten Mal gesehen hatte, war sein Eindruck gewesen, dass der Mann ist in seine Hauswirtin verliebt war. Bei diesem Verdacht war es die ganzen Jahre über geblieben. Die beiden, Hilde Auffenberg und Herbert Höveken, begegneten sich täglich, sie gestalteten gemeinsam ihre Freizeit, aber aus ihnen war bis heute kein Liebespaar geworden. Wahrscheinlich sehr zum Leidwesen von Höveken.

Als Schwiete die Küche betrat, unterbrach Hilde Auffenberg ihre Arbeiten am Herd. Sie begrüßte ihn freundlich, holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und bat Höveken, sie zu öffnen. Kurze Zeit später waren die Gläser und Teller gefüllt, und die drei ließen es sich schmecken. Es gab dicke Bohnen in einer Schnittlauchrahmsoße, grobe Bratwurst und Bratkartoffeln und zum Nachtisch Schokoladenpudding.

Die Zeit verstrich. Sie plauderten über dies und das. Eine weitere Flasche Wein wurde aus dem Kühlschrank geholt. Es herrschte eine angenehme Stimmung.

»Ein Abend mit netten Leuten ist doch das Beste gegen eine Novemberdepression«, bemerkte Hilde Auffenberg und hob ihr Glas. Doch ihre kleine Ansprache wurde von einem dumpfen Dröhnen unterbrochen. Die Fensterscheiben vibrierten von einer Druckwelle. Selbst das Geschirr auf dem Küchentisch schepperte kurz. Was war das? Eine Explosion?

Schwiete trat ans Fenster und blickte hinaus.

Es hatte aufgehört zu regnen.