Der Stationsarzt ist nicht da. Die Schwester sagt, er habe sich mit Fieber krankgemeldet. Das bedauere ich sehr, denn es ist für mich immer eine Erleichterung, einen Eingeweihten anzutreffen, wenn ich meinen Vater wieder ins Krankenhaus bringen muss. Oder was von meinem Vater noch übrig ist, müsste ich eigentlich sagen.
Nach mehreren Infarkten sind die Funktionen von Hirn und Herz stark beeinträchtigt. Auf dem einen Auge sieht er nichts mehr, und eigentlich müsste man ihm die Nebenschilddrüse entfernen. Er hat Diabetes und Bluthochdruck und muss regelmäßig an die Dialyse-Maschine. Eines Tages haben seine Nieren den Dienst versagt. Er hatte mehrere intestinale Blutungen, wurde an der Prostata operiert und leidet unter Herzrhythmusstörungen, die man jedoch mit Medikamenten in den Griff bekommen hat. Er kann nicht mehr laufen, die Muskeln haben sich inzwischen zurückgebildet. Außerdem hat er einen sogenannten Diabetikerfuß. Am |28|rechten hat er eine kleine Wunde, die nicht mehr heilt. Am linken fehlt ihm ein Zeh, der vor einem Jahr in einer Blitzaktion amputiert werden musste.
Anfangs gab es Reibereien mit dem Arzt, weil er der Ansicht war, dass mein Vater in seinem Alter und in seinem Gesundheitszustand nicht für eine Dialyse geeignet sei.
»Bei Leuten über siebzig und in dem Zustand, in dem Ihr Vater ist, führt man keine Dialyse mehr durch. Das Gesetz legt keine Grenzen fest, aber wenn man jeden an die Dialyse hängen würde, bräche das Gesundheitssystem irgendwann zusammen. Außerdem ist das Leben für den Patienten eine Qual. Die Entscheidung liegt in Ihrer Hand.«
Wenn man alt und krank ist und nicht mehr für sich sorgen kann, reduziert sich die Existenz auf das biologische Dasein. Und dafür ist im System kein Platz, man ist der Ansicht, Aufwand und Nutzen stünden in keinerlei Verhältnis, die Ressourcen sollten den jungen Leuten vorbehalten bleiben. Mein Vater ist nicht mehr produktiv, kann sich nicht mehr bewegen. Sein Leben ist heilig, doch man könnte ihn ungestraft töten. Solche Entscheidungen treffen Familien, seit es Familien gibt. Das läuft hinter verschlossenen Türen ab, meist ohne es offen auszusprechen. Und vielleicht ist es der einzige Weg.
|29|Dass man herbeisehnt, das Leid möge ein Ende haben, ist normal. Doch damit gehen andere Empfindungen einher, derer man sich schämt. Der Wunsch, wieder frei zu sein, ist latent immer vorhanden. Das Schuldgefühl auch.
An diesem Morgen aber bin ich zu einer solchen Entscheidung nicht bereit.
Ich strecke dem Vertreter des Stationsarztes, einem großen, schlanken Mann in weißem Kittel, zu dem er eine Krawatte trägt, wie sie nur Ärzte tragen, die Hand entgegen.
»Guten Tag, ich bin der Sohn des Herrn von Zimmer 412.«
Das missfällt ihm. Er hat keine Sprechstunde, und ich habe mir auch keinen Termin über die Schwester geben lassen, sondern ihn einfach auf dem Flur abgepasst.
»412?«
»Ja«, sage ich und deute auf die Zahl, die im Flur immer wieder aufleuchtet, wie im Flugzeug, wenn ein Passagier die Stewardess ruft. In dem Fall ist der Passagier mein Vater, und seine Begeisterung, in den Himmel aufzusteigen, hält sich in Grenzen.
»Unverändert, man muss abwarten.«
Ich frage nach, ob man eine Dialyse bei ihm durchführen wird. Am Vortag hat man sie ausfallen |30|lassen, und ich vermute, dass er aus diesem Grund so unruhig ist.
»Vorerst nicht, wir warten die Ergebnisse der Blutuntersuchung ab, und dann wird ihn der Nierenfacharzt untersuchen.«
So schnell lasse ich mich nicht abwimmeln.
»Er kommt dreimal in der Woche an die Dialyse, ein über den anderen Tag, und die letzte ist jetzt schon zweiundsiebzig Stunden her. Laborergebnisse hin oder her, ich kann Ihnen versichern, er ist nur deswegen so außer sich.«
»Nun, das entscheiden immer noch wir.« Und dann fragt er, so zumindest empfinde ich es, süffisant: »Oder sind Sie vielleicht Arzt?«
Ich antworte nicht sofort und koste den Moment aus, bis ich sage: »Ja, ich bin Arzt.«
Verblüfft sieht der Herr Kollege mich an. »Sie sind Arzt?«
»Ja, niemand ist vollkommen«, erwidere ich.
Er lacht und meint, da hätte ich recht. Wenigstens das. Er versichert mir, mein Vater würde heute noch an die Dialyse angeschlossen. Ich möge entschuldigen, ich wüsste ja, wie die Patienten seien.
»Ja, kann man wohl sagen. Sie sind das Schlimmste, das es gibt.« Und das meine ich nicht einmal ironisch.