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Was mag das wohl für ein Gefühl sein, wenn man mit siebzig noch ein Drittel des Lebens vor sich hat? Bis vor einiger Zeit galt man in dem Alter schon als Greis – heutzutage wäre das eine Beleidigung. Die Medizin dehnt die Grenze des Lebens immer weiter nach oben aus, und schon bald wird es möglich sein, mit achtzig noch zu arbeiten oder noch einmal zu studieren, abends auszugehen und jemanden zu verführen, ohne sich lächerlich zu machen; vor allem bliebe einem die Zeit, begangene Fehler wiedergutzumachen.

Im Mittelalter wurde man im Durchschnitt vierzig Jahre alt, mit fünfunddreißig gehörte man bereits zum alten Eisen. In einem Alter, in dem heute so mancher Nesthocker anfängt, darüber nachzugrübeln, ob er allmählich erwachsen werden und das Hotel Mama verlassen soll, ist man früher an der Spitze eines Heeres ausgezogen, um Europa zu erobern, und hat Geschichte geschrieben.

Alexander der Große bestieg mit zwanzig den |12|Thron, der argentinische Freiheitskämpfer José de San Martín focht 1813 mit fünfunddreißig die Schlacht von San Lorenzo. Kolumbus und Napoleon starben mit etwa fünfzig, ebenso Shakespeare. Je kürzer das Leben, desto jünger die Protagonisten. Vielleicht ist das eine Erklärung, warum man die Liebe zwischen Romeo und Julia so ernst nahm, obwohl beide – aus heutigem Blickwinkel betrachtet – noch Teenager waren. Mozart wurde mit fünfunddreißig, Schubert sogar schon mit einunddreißig dahingerafft. Wären sie und all die anderen jung verstorbenen Künstler, Wissenschaftler, Politiker und Denker in den Genuss des medizinischen Fortschritts gekommen, hätten sie womöglich das siebzigste Lebensjahr erreicht und die Menschheit mit doppelt so vielen Werken erfreut.

Betrachtet man die Antike, eine Zeit, in der die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte, stellt man fest, dass Philosophen und Wissenschaftler in der Regel älter wurden als Künstler, Feldherrn und Politiker, häufig sogar ein gesegnetes Alter erreichten. Sokrates war siebzig, als man ihn zwang, den Schierlingsbecher zu leeren, Platon erreichte das achtzigste Lebensjahr, Pythagoras starb mit knapp fünfundsiebzig und Parmenides mit siebzig, Konfuzius wurde immerhin zweiundsiebzig. Ich weiß nicht, ob der rege Gebrauch des Verstandes das |13|Leben verlängert, aber um eine Idee reifen zu lassen und sie mit Argumenten zu untermauern, sind vierzig zusätzliche Jahre sicherlich eine gute Sache.

Es kann ebenso gut anders kommen, trotz vierzig gewonnener Jahre: etwa, dass der Körper seine Dienste versagt, oder der Geist. Oder die Seele, wenn ein Mensch sich in dem Umfeld, in dem er lebt, nicht mehr zurechtfindet. Dann ist es nur noch eines, das zum Weitermachen antreibt: die Angst zu sterben.

Man behauptet gern: Wer mehr hat, lebt länger. Doch die Kaufkraft allein ist keine Garantie für ein würdiges Alter. Machen wir uns nichts vor: Am Ende leben wir nicht mehr nur selbstbestimmt, sondern sind im Wesentlichen Körper; Körper, die in den letzten Lebensjahren häufig mehr leiden denn genießen.

Meine große Hoffnung ist, dass medizinischer Fortschritt in Zukunft auch bedeutet, dass das Alter für mehr Menschen nicht länger ein unwürdiges Dahinsiechen ist.