Von Carols Anwesen aus hat man einen wunderbaren Ausblick auf den Mandango, den Berg des ruhenden Gottes.
Sie führt mich in ihr Arbeitszimmer, einen hellen, freundlichen Raum. Eine Wand wird komplett von einem Bücherregal eingenommen; mehrere von Einheimischen gefertigte Figuren dekorieren die Bibliothek. Außer einem Schreibtisch ist der Raum mit einem bequemen Stuhl und einem Sofa ausgestattet. Dort soll ich Platz nehmen, sie selbst setzt sich auf den Stuhl. Lächelnd fordert sie mich mit einem kurzen Kopfnicken auf zu reden.
Ich kann mir nicht helfen: Das Ganze hat etwas von einer psychoanalytischen Sitzung.
Ich berichte, was mich nach Vilcabamba geführt hat, und sie bittet mich, meinen Namen zu buchstabieren. Sie beugt sich über ihren Computer und gibt meine Daten in ein Suchprogramm ein. Sie will wissen, mit wem sie es zu tun hat. Erst dann entspannt sie sich.
|145|»Kommen Sie, wir gehen auf die Terrasse hinaus. Das Panorama ist atemberaubend.«
Sie ist einverstanden, dass ich unser Gespräch aufzeichne; ich solle das Aufnahmegerät einschalten, wann immer es mir beliebe, und wenn ich sie ablichten wolle, dann bitte mit dem Mandango im Hintergrund.
Nachdem das Hausmädchen den Tee serviert hat, wartet Carol mit ihrem Curriculum belli auf.
»Mein Name ist Doktor Carol Rosin. Ich bin die Vorsitzende des Institute for Cooperation in Space, außerdem Besitzerin des Madre Tierra, eines Hotels, das gleichzeitig als Tagungszentrum dient. Ich war der erste weibliche Corporate Manager in der Weltraumindustrie. Ich bin Spezialistin für Raketenverteidigung und habe lange Zeit Präsidenten, Oberkommandierende und Verteidigungsminister vieler Länder militärisch beraten.«
Sie erläutert mir, dass das Ziel des Institute for Cooperation in Space darin bestehe, die Waffen im Weltraum abzuschaffen. Damit es mit der Menschheit voranginge, sollte man nicht in Rüstung investieren, sondern in die Weltraumindustrie. Das wäre ein wirklicher Fortschritt.
Dank meiner Recherchen wusste ich, dass Carol Rosin für ein riesiges, weltweit agierendes Unternehmen tätig gewesen war, das millionenschwere |146|Verträge mit dem Militär geschlossen hatte. Sie lieferten Teile für Flugzeuge, Spaceshuttles, Satelliten. Darüber hinaus produzierten sie auch Raketen und Radaranlagen.
Carol hatte dort den deutsch-amerikanischen Wissenschaftler Wernher von Braun kennengelernt und avancierte irgendwann zu seiner offiziellen Sprecherin. Sie vertrat ihn bei Meetings und Konferenzen, an denen er aus gesundheitlichen Gründen – zu dem Zeitpunkt war er bereits schwerkrank – nicht mehr teilnehmen konnte.
Von Braun leitete das Projekt Apollo, er hat den Menschen zum Mond gebracht – ein Genie auf dem Gebiet der Raketentechnik, der über das nötige Wissen und die Erfahrung verfügte und von einer Regierung unterstützt wurde, die ihn mit Ehrungen überhäufte.
Im Dritten Reich hatte von Braun an der Entwicklung und Herstellung der verhängnisvollen V2-Raketen mitgewirkt, die am Ende des Zweiten Weltkrieges auf England und Belgien niedergingen. Die Amerikaner, die noch zu Kriegszeiten bereits daran interessiert gewesen waren, deutsche Wissenschaftler abzuwerben – Stichwort Operation Overcast –, holten von Braun in die Vereinigten Staaten. Sein Lebenslauf verschwand daraufhin im Archiv, und nur wenig später arbeitete er für die |147|NASA. Kurz vor dem Ende seiner Karriere erhielt er das Angebot von Fairchild Industries, wo er Carol Rosin begegnete.
»Von Braun erzählte mir, 1974 habe es einen Plan gegeben, den Weltraum zu militarisieren. Es ging um Milliarden, und er sagte, um eine solche Ausgabe vor dem Kongress zu rechtfertigen, erfand man sich schlichtweg Feinde. Als das Argument des Kalten Krieges nicht mehr zog, mussten die sogenannten Schurkenstaaten herhalten, danach die terroristische Bedrohung. Wenn die Terroristen einmal vom Tisch wären, müsste man sich gegen Asteroideneinschläge wappnen. Sollte auch dieses Argument sich irgendwann erschöpft haben, könnte man noch eine letzte Karte ausspielen.«
Carol verstummt. Lächelnd neigt sie den Kopf. Jetzt bin ich an der Reihe, eine Frage zu stellen.
»Und was ist die letzte Karte?«
»Aliens.«
»Aliens?«
»Ja, Außerirdische. Man behauptet, wir müssten uns gegen Außerirdische verteidigen, und deshalb gelte es, den Weltraum weiter aufzurüsten.«
»Was für ein Wahnsinn!«
»In der Tat. Man hat eine Reihe von Raumschiffen entwickelt, die wie fliegende Untertassen aussehen, |148|so kann man den Menschen vorgaukeln, es gäbe einen Massenangriff von Außerirdischen auf die Erde. Auf die Presse ist Verlass, sie würde das Ihrige dazutun, solange es die Auflage steigert.«
»Und wer hat sich diesen Angriff ausgedacht?«
»Die Industrie.«
»Wahnsinn. Und das alles, um Waffen zu verkaufen?«
»Nicht nur Waffen, dahinter steckt noch mehr.«
»Noch mehr?«
»Es soll nicht ans Licht kommen, dass es bereits eine Energie gibt, die das Erdöl ersetzen kann und die Umwelt nicht verschmutzt.«
»Und Sie wissen, um was es sich dabei handelt?«
»Ja, von Braun hat es mir erklärt, es ist eine Technik, bei der die Magnetfelder der Erde genutzt werden.«
»Tja, eigentlich wollte ich Sie ja zu den alten Menschen hier befragen.«
»O ja, eine ganz andere Welt. Dieser Ort ist ein Paradies«, schwärmt Carol und fährt düster fort: »Und die Leute kommen hierher und haben nichts Besseres zu tun, als es zu zerstören.«
Solche Klagen hatte ich im Dorf auch schon gehört. Für Carol scheint dieses Paradies eine echte Herzensangelegenheit zu sein.
»Die Bauherren zerstören Vilcabamba. Sie haben |149|es sicher gesehen: Auf dem Weg hierher stehen inzwischen neunzig Neubauten, fünfundzwanzig sind im Entstehen und für weitere vierzig werden im Augenblick Käufer gesucht. Das natürliche Gleichgewicht im Tal gerät total aus dem Lot.«
»Und dieses Haus?«
»Das stand bereits. Ich habe es erworben, als es im Dorf gerade mal drei motorbetriebene Fahrzeuge gab.«
»Warum sind Sie nach Vilcabamba gekommen?«
»Ich will dieses Tal schützen, verhindern, dass es verschmutzt wird. Die Neuankömmlinge sollen sich hier wohlfühlen. Deshalb leite ich den Verein für alte Menschen. Um sie dabei zu unterstützen, ihre Traditionen zu erhalten und um von ihnen zu lernen. Die Hundertjährigen verstehen etwas von Naturmedizin, sie vermeiden Antibiotika und leben im Einklang mit der Natur. Sie machen Vilcabamba zu dem, was es ist: eine besondere Stätte der Begegnung.«
Während sie mit mir spricht, sortiert sie Fotos. Bestimmt ist sie mit vielen berühmten Persönlichkeiten abgelichtet worden. Das kann ihrer Mission nur zugutekommen. Vor allem wenn man bedenkt, wie mächtig die Gegner sind. Ich habe es ja eben gehört.
Carol kommen die Tränen. Sie sagt, es bedrücke |150|sie sehr, mitansehen zu müssen, wie das Tal kaputtgemacht wird.
Sie hat alle alten Menschen von Vilcabamba gezählt und aufgelistet – es sind sehr viele, aber sie leben abgeschieden in den Bergen. Man solle sie in Ruhe lassen.
»Manchmal reite ich auf meinem Pferd hinauf, um sie zu besuchen. Es fasziniert mich, zu sehen, wie sie sich allein von dem ernähren, was die Erde hergibt, wie sie tanzen und ihre Lieder singen.«
»Sicher eine traurige Musik.«
»Nein, ganz im Gegenteil, pure Lebensfreude.«
Carol zeigt mir einige der Fotos, die sie gerade sortiert hat. Leider könne sie mir die Bilder nicht überlassen. Wie schade. Ich bedanke mich bei ihr für die Zeit, die sie sich genommen hat, und breche auf Richtung Madre Tierra.