Ich muss nach Hause.
Mein Vater ist immer noch im Krankenhaus.
Für die Dialyse hatte man ihm, wie üblich, am Hals einen Zugang gelegt, über den er mit dem Gerät verbunden war. Unvermeidlich dringen an dieser Stelle hin und wieder Bakterien ein, und sind sie erst einmal an Bord, schwimmen sie im Blutstrom mit und siedeln sich in jedem Organ an, das ihnen beliebt. Der Körper tut, was er kann. Er erhöht die Temperatur, um ihnen den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen, und er entsendet seine Kampftruppen, die weißen Blutkörperchen, damit sie dem bunten Treiben ein Ende machen.
Doch wäre er in diesem Kampf sich selbst überlassen, wäre mein Vater vermutlich schon mehr als ein Mal verloren gewesen. Ein Segen, dass es Antibiotika gibt!
Allerdings ist auch bekannt, dass dort, wo übermäßig Antibiotika zum Einsatz kommen, die Bakterienstämme |77|immer resistenter werden. Deshalb sind Infektionen im Krankenhaus so gefährlich. Resistente Bakterien haben der pharmazeutischen Industrie ein Schnippchen geschlagen. Rebellisch und aggressiv vermehren sie sich, nichts kann sie aufhalten.
Genau das musste auch mein Vater erfahren. Die Infektion, die er sich außerhalb des Krankenhauses zugezogen hatte, war geheilt, aber als man ihn entlassen wollte, bekam er plötzlich wieder hohes Fieber. Die Ärzte probierten verschiedene Medikamentenkombinationen aus, doch keine zeitigte irgendeine Wirkung. Und dann ist da ja noch sein Diabetikerfuß. Er sah mit jedem Tag schlimmer aus, so dass einer der Chirurgen der Ansicht war, man solle ihn abnehmen. Er könne ein Infektionsherd sein, und es sei besser, das gesamte kranke Gewebe zu entfernen.
Hals über Kopf verlasse ich Vilcabamba.
Beim Abschied fragt mich Merci Jaramillo, die Angestellte des Madre Tierra, ob ich mit irgendetwas nicht zufrieden gewesen sei. Sie sei überrascht wegen meines überstürzten Aufbruchs und mache sich Sorgen. Ich erzähle ihr von meinem kranken Vater, den ich nicht seinem Schicksal überlassen möchte. Das verstehe sie gut, sagt |78|Merci. Sie habe ihren Großvater auch sehr gern gehabt, und als er starb, sei sie unendlich traurig gewesen, obwohl er schon einhundertneunundzwanzig war.
»Mein Vater wird nicht sterben. Es gibt Komplikationen, weiter nichts. Außerdem ist er erst sechsundachtzig. Verglichen mit Ihrem Großvater fast noch ein kleiner Junge.« Ich versuche ein Lächeln, das mir offenbar nicht überzeugend gelingt.
»Verzeihung«, sagt Merci, »aber weil Sie abreisen, dachte ich, es sei etwas Ernstes …« Sie blättert in einem Stapel Dokumente, findet schließlich, was sie gesucht hat, und reicht mir die Papiere über den Empfangstresen. Sie habe übrigens schon einen Termin mit dem Pfarrer ausgemacht, sagt sie, und außerdem wolle Carol mich kennenlernen.
»Carol?«, frage ich erstaunt.
»Carol Rosin, die Besitzerin.«
Sie deutet mit dem Kopf auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Ich folge ihrem Blick: Eine Frau mittleren Alters mit knallrotem Mund, sehr weißer Haut und platinblondem Haar sieht mich an. Sie hat etwas Wildes an sich. Aber auf eine elegante Weise. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
»Ist sie hier?«
|79|»Nein, sie kommt erst in ein paar Tagen wieder.«
»Dann müssen wir das Treffen wohl bei anderer Gelegenheit nachholen.« Bedauernd zucke ich mit den Schultern. »Jetzt muss ich leider los, vielen Dank für alles, Merci.«