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Bevor ich in die Klinik zu meinem Vater fahre, will ich bei meiner Mutter vorbeischauen. Ich weiß, wie sehr sie sich immer sorgt, wenn er im Krankenhaus ist. Da inzwischen weder meine Mutter noch mein Vater mehr in der Lage sind, sich selbständig fortzubewegen, halten sie sich meistens im selben Zimmer auf, Tag und Nacht, und das seit zehn Jahren. Mich würde das zur Verzweiflung bringen, sie empfinden das als normal.

Etwas müssen sie richtig gemacht haben, denn sie sind nach all der langen Zeit immer noch ein Paar. Manchmal hört man um drei Uhr morgens Geräusche aus dem Zimmer meiner Eltern. Die Pflegerin eilt zu ihnen, um nachzusehen, ob sie etwas benötigen, doch sie unterhalten sich lediglich.

»Ihr Vater lässt Ihre Mutter nicht schlafen. Und morgens wollen sie nicht aufstehen.«

Ist das wirklich ein Problem?

Wenn einer von beiden nicht schlafen kann, wacht der andere auf, und sie beginnen ein endloses |81|Gespräch, ich vermute, dasselbe wie seit vielen Jahren. Sie gehen die komplette Familie durch: die Kinder, die Angeheirateten, die Cousins und Cousinen, die Eltern, die Onkel und Tanten. Die meisten Begegnungen liegen schon Jahre zurück, und einen Großteil der Verwandtschaft werden sie wahrscheinlich nie mehr sehen, er lebt für sie nur noch in den vergangenen Geschichten, und dorthin kehren sie so oft wie möglich zurück, dafür muss man nicht laufen können.

Selbstverständlich haben sie auch nie aufgehört zu streiten, das Beschwerdebuch liegt stets aufgeschlagen auf dem Tisch. Doch immer sind sie dabei aufeinander bezogen, immer hat man das Gefühl, dass sie sich selbst dann sehr nahe sind.

Ich habe zwar einen Hausschlüssel, doch zur Vorwarnung klingele ich – es weiß ja niemand, dass ich komme. Die Pflegerin öffnet die Tür.

Im Wohnzimmer steht ein Laufstall, in dem ein mir unbekannter kleiner Junge sitzt. Zwei massive, mir ebenso unbekannte Damen haben es sich in den Sesseln bequem gemacht und schauen gemütlich bei Tee und Gebäck eine Telenovela. Aus einem anderen Raum dringt lautes Babygeschrei.

»Ich habe Besuch«, erklärt die Pflegerin, als sie meinen fragenden Blick gewahrt. »Ihre Mutter war einverstanden, dass ich meine Schwester und meine |82|Schwägerin hierher einlade … Aber sie müssen ohnehin gleich gehen.«

Die Schwester wirft mir einen Blick zu, als wäre ich der Störenfried und unerlaubt in ihre Damenrunde eingedrungen.

»Wo ist meine Mutter?«

»In ihrem Zimmer, sie hat bis eben mit meinen Neffen gespielt. Ihre Mutter mag die Kinder sehr, glaube ich.«

Bevor ich die Atmosphäre mit meinem Missmut aus dem Gleichgewicht bringe, gehe ich zu meiner Mutter. Zur Begrüßung drücke ich ihr einen Kuss auf die Wange.

»Warst du nicht in Ecuador?«

»Doch, aber ich bin zurückgekommen, um zu sehen, was mit Papa los ist.«

Sie sieht mich ganz niedergeschlagen an, schließt die Augen und lässt das Kinn auf die Brust sinken. »Geht es ihm so schlecht?«

»Ich weiß nicht, ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus … Was haben eigentlich all diese Leute hier zu suchen?«

Meine Mutter zuckt mit den Achseln und gibt mir zu verstehen, dass sie nicht mehr die Herrin im Haus ist. Sie kann ihren Mann nicht begleiten, darf nicht mehr entscheiden, was auf den Tisch kommt oder wer ihre Wohnung betritt. Selbst auf dem kurzen |83|Weg zur Toilette benötigt sie Hilfe, und sie ist darauf angewiesen, dass man sie gut behandelt, wenn sie mit der Pflegekraft allein ist.

Nur an manchen Tagen begehrt sie auf. Das sind die Tage, an denen sie sich weigert, ihre Medikamente zu nehmen. Alle zwei oder drei Wochen lässt sie für vierundzwanzig Stunden nicht mit sich reden. Wenigstens für einen Tag hat sie dann wieder das Sagen.