Das Buch war bereits fertiggestellt, da erhielt ich unerwartet das Angebot, nach Japan zu reisen. Mitte Mai kam ich in Tokio an, und nachdem ich ein paar Tage lang die Stadt erkundet hatte, flog ich weiter nach Okinawa, die größte der Ryukyu-Inseln. Am dichtesten besiedelt ist der Süden. Dort befindet sich auch die Hauptstadt Naha, wo ich mit dem Flugzeug ankam. Wie so oft lag der Ort, den ich besuchen wollte, Ogimi, fünf Autostunden entfernt im Norden der Insel.
Ogimi ist ein kleines Dorf mit dreitausendfünfhundert Einwohnern am Südchinesischen Meer. Am Ortseingang erhebt sich ein dunkles, dreieckiges Steindenkmal von der Größe eines Menschen. Es ist dem langen Leben geweiht. Das Dorf ist stolz darauf, dass seine Bewohner so lange leben. Länger als irgendwo sonst in Japan.
Okinawa ist eine Referenz in der medizinischen Literatur zur Langlebigkeit. Die Bewohner gelten als ein Musterbeispiel für gesundes Leben, und den |170|ersten Platz auf der Ehrentafel der Insel nehmen die alten Leute Ogimis ein.
Die sehr alten Menschen haben hier den Status von Filmstars. Als Ältester in Ogimi genießt man Weltruhm. Journalisten aus aller Herren Länder reisen an für eine Reportage rund um das Geheimnis des Jungbleibens. Sie möchten aus berufenem Munde etwas hören, das sie veröffentlichen und das andere nachahmen können.
Warum leben sie so lange? Weil sie Musterschüler sind, wenn es darum geht, ärztliche Ratschläge zu befolgen. Ogimi ist gewissermaßen die Kehrseite von Vilcabamba.
Sie essen wenig. Obst und Gemüse bauen sie in eigenen Gärten an, und Algen sind fester Bestandteil des Speiseplans. Man könnte den Verzehr von Fisch und seine positive Auswirkung auf die Gesundheit betonen. Aber sie essen auch Schweinefleisch, und das mehr als an anderen Orten Japans.
Sie rauchen nicht, genießen Alkohol in Maßen, und es gibt keine Hinweise darauf, dass unter den alten Herrschaften Drogen kursierten. Umweltschädliche Fabriken gibt es nicht; in Ogimi atmet man reine Seeluft. Sie treiben Sport, und selbst betagte Greise schwingen sich noch aufs Rad – das Fahrrad ist ohnehin das ideale Transportmittel in den engen Straßen des Dorfes. Grüner und schwarzer |171|Tee sind sehr beliebt, und beide Sorten enthalten viele Antioxidantien.
Die Bewohner von Ogimi führen ein beschauliches Leben in der Gemeinschaft. Darum kümmert sich die Ortsverwaltung in Ogimi. Sie hat Geld, Zeit und das nötige Personal.
Die alten Menschen werden verehrt; Altsein ist hier gleichbedeutend mit Glamour. Überall, in Geschäften und an öffentlichen Plätzen, sieht man Plakate mit den Gesichtern der ältesten Bewohner. Das medizinische Vorsorgeprogramm ist gut und das Gesundheitssystem effektiv und für jedermann zugänglich. Das durchschnittliche sozioökonomische Niveau ist hoch.
Es gibt in Japan zwei Hauptreligionen: den Buddhismus und den Schintoismus. Viele Menschen folgen beiden Pfaden. Hier wird nicht ständig von Sünde und Strafe gepredigt oder mit der Hölle gedroht. Warum auch sollte man Hundertjährigen vor der Zukunft Angst machen?
Trotz all dieser Vorteile leben die Menschen in Ogimi nicht so lange wie die Bewohner Vilcabambas, wo die hygienischen Verhältnisse zu wünschen übriglassen und das Geld knapp ist. Würde man die körperliche Fitness nach Altersgruppen testen, schnitten die Bewohner Ogimis schlechter ab.
Der Arzt in Ogimi, mit dem ich gesprochen |172|habe, Doktor Hueis, berichtete mir, dass seine betagten Patienten an Bluthochdruck, Osteoporose und hohen Cholesterinwerten litten. Außerdem würden die Frauen älter als die Männer. Doktor Wilson Correa aus Vilcabamba hingegen bescheinigte seinen weit älteren, zumeist männlichen Schützlingen einen guten Gesundheitszustand.
Vilcabamba birgt ein Geheimnis. Sollten wir es eines Tages lüften, geriete der historisch verbürgte Absolutheitsanspruch des Todes ins Wanken. Hoffen wir, dass der Sensenmann uns das nicht übelnehmen wird.