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»Da unten.«

Lenin kennt den Weg, Víctor folgt ihm. Ich bilde mit meiner Kameraausrüstung die Nachhut. Wir steigen den Berg hinunter und gelangen an das Ufer eines Flusses, des Rio Chamba. Dort wird Zuckerrohr angebaut. Manuel Picoita ist nicht zu sehen, aber man hört, wie sich jemand mit kraftvollen Machetenhieben auf der Plantage zu schaffen macht. Wir folgen dem Geräusch und entdecken Manuel: Mit gebeugten Beinen steht er da und entfernt Unkraut. Die Bewegungen des Mannes zeugen von einer Kraft und Zähigkeit, die man einem Alten nicht zutrauen würde. Zehn oder zwölf Mal hintereinander schlägt Manuel zu. Er hebt die Klinge auf Schulterhöhe an und lässt sie mit voller Wucht nach unten sausen. Dann hält er inne, begutachtet seine Arbeit und beginnt von vorn.

Víctor ruft seinen Namen, Manuel Picoita dreht sich um, nimmt die Baseballkappe ab und schwenkt |54|sie freudig durch die Luft. Wie die meisten alten Menschen freut sich Don Manuel, wenn er Besuch bekommt. Auch er trägt eine schwarze Stoffhose und ein weißes Hemd mit langen Ärmeln, das ist in Vilcabamba offenbar die Arbeitskleidung fürs Feld. Er ist sofort einverstanden, dass ich ein Interview mit ihm führe.

»Gehen wir ins Haus«, sagt er und macht sich auf den Weg bergan. Unglaublich, wie schnell dieser alte Mann den Hang hochläuft!

Ich bitte ihn anzuhalten, weil ich ein Foto von ihm mit dem Fluss im Hintergrund machen möchte. Dann müssen wir nach dem Interview nicht den ganzen Weg noch einmal hinunter und wieder hinauf. Picoita würde das nicht stören, er gehört nicht zu den Menschen, die schnell müde werden – anders als ich, der ich eben nicht in Vilcabamba geboren bin.

Manuel Picoita geht an das Ufer des Flusses zurück, der ihm angeblich vierzig Jahre mehr Leben geschenkt hat, und blickt ernst in die Kamera.

»Ein Lächeln, Don Manuel … Und jetzt mit erhobener Machete, so als würden Sie Zuckerrohr schneiden.«

Ich vergewissere mich, dass alle Einstellungen korrekt waren, und schon marschieren wir wieder bergauf.

|55|»Das war ein Erdbeben neulich, was, Don Manuel?«

»Ja, ja.«

Ich schwöre mir, dass das mein letzter Versuch war, das Erdbeben als Aufhänger zu benutzen, um mit den Bewohnern von Vilcabamba ins Gespräch zu kommen.

»Wie alt sind Sie, Don Manuel?«

»Ich habe ein Jahrhundert voll.«

Eine seiner Urenkelinnen kommt auf uns zu und sagt ihm, er solle aufhören zu schwindeln. Mir flüstert sie zu, er mogele gern ein paar Jährchen weg.

»Na gut … Einhundertvier.«

»Sag die Wahrheit.«

Von diesem Alter rückt Manuel Picoita jedoch nicht ab. Er hat zehn Kinder, dreißig Enkel und dazu Urenkel und Ururenkel.

Er geht gern tanzen, erzählt er. Morgen ist er zu einem Fest eingeladen, aber er kann wahrscheinlich wieder nur bis Mitternacht bleiben. Bis zum frühen Morgen hält er nicht mehr durch, irgendwie macht der Rücken in der letzten Zeit Probleme.

Vor kurzem ist er Witwer geworden. »Ich vermisse meine Frau sehr«, sagt er, »vor allem ihre Qualitäten als Köchin.«

Sie hatten einander sehr jung kennengelernt, auf einer dieser Tanzveranstaltungen, die Manuel so |56|liebt. Damals hatte er sich mit seinen Freunden getroffen, Schnaps getrunken und ein Mädchen nach dem anderen aufgefordert. Doch irgendetwas muss während einer der Pausen zwischen den Musikern vorgefallen sein. Sobald sie anfingen zu spielen, schauten sie einander nicht mehr an. Sie wirkten wie verloren, als seien sie zu einer Reise aufgebrochen und jeder von ihnen habe einen anderen Weg genommen. Im Publikum wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Das Fest geriet zum Debakel, und Manuel dachte, wenn er schon nicht tanzen konnte, würde er sich eben seiner anderen Leidenschaft hingeben, dem Essen.

Schüchternheit war nie Manuels Problem gewesen, er war von jeher aufgeweckt, und weil er außerdem nicht gerne wartete, marschierte er geradewegs in die Küche. Seine künftige Angebetete hatte sich hinter den Töpfen verschanzt, sie glaubte, indem sie sich mit Hingabe um die Häppchen kümmerte, könnte sie sich elegant den Aufforderungen zum Tanz entziehen. Als Manuel plötzlich vor ihr stand, reichte sie ihm hastig etwas zu essen, das er genüsslich verspeiste – der Beginn eines Rituals, das sie über annähernd achtzig Jahre fortsetzen sollten.

Im Hauseingang steht eine Holzbank; Manuel nimmt Platz und richtet seine Mütze. Ich frage ihn, was er den Tag über so treibt, er brummt etwas |57|Unverständliches und sagt dann: »Arbeiten tu ich jedenfalls nicht mehr.«

»Aber als wir ankamen, waren Sie doch mit Ihrer Machete im Einsatz.«

Für Manuel bedeutet arbeiten, neben der Bewirtschaftung der Finca noch bei jemand anderem in Lohn und Brot zu stehen. Jetzt habe er nur noch die eine Aufgabe, nämlich sich um seine Plantage zu kümmern, und das mache er jeden Morgen von sechs Uhr bis zum Nachmittag.

»Sechs Uhr? Das ist neu«, erklärt die Ururenkelin. »Bis zum vergangenen Jahr musste ich ihn einsperren. Um drei Uhr morgens stand er bei mir vor der Tür, weckte mich und bat, ich solle ihm Kaffee machen. Er wollte unbedingt in aller Herrgottsfrühe aufbrechen.«

»Trinken Sie viel Kaffee?«, erkundige ich mich.

»Jeden Tag.«

»Und was essen Sie?«

Auf diese Frage antwortet seine Ururenkelin. »Gemüse, Fisch, Obst. Viel Obst.«

Man merkt gleich, dass sie ihren Ururgroßvater sehr liebt. Sie weiß genau, was er tut, was er am liebsten isst und was er den Tag über braucht. Immer wieder streichelt sie ihm über den Kopf. Doch ich werde das Gefühl nicht los, dass wir den alten Mann alle wie ein struppiges Haustier behandeln, |58|wie ein liebenswertes, witziges und ein wenig schrulliges Wesen. Bestenfalls wie ein kleines Kind. Víctor, dem die Hundertjährigen in Vilcabamba großen Respekt entgegenbringen, will Manuel, wie er es zuvor auch bei José versucht hat, dazu überreden, ein Gedicht vorzutragen oder ein Lied zu singen, als ich meine Videokamera hervorhole.

Die Ururenkelin hat ihre Theorie, warum Don Manuel so alt geworden und dabei so rüstig geblieben ist. Die Ernährung, sagt sie, was sonst. Alles hier sei natürlich angebaut, ohne Pestizide. Bei den Picoita, erklärt sie stolz, werden auf den Tellern neben der Hauptspeise zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre mehr Leben gereicht. Sie lächelt, und Manuel glaubt ihr.

Keine Pestizide, dafür reichlich Zucker, Fett und Proteine, Chamico und Puro sowie eine ordentliche Portion Salz, mit der praktisch jede Speise in Vilcabamba nachgewürzt wird – die Internationale Gesellschaft für Kardiologie und die Gesellschaft gegen Bluthochdruck würden vehement ihr Veto einlegen.

Ich setze mich zu Don Manuel und bitte ihn, für ein letztes Foto die Kappe abzunehmen.

»Ich habe ihm heute das Haar geschnitten«, sagt die Ururenkelin. »Hier, sehen Sie, da war alles grau. Jetzt ist es wieder schwarz.«