Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der biologischen und der tatsächlichen Lebenserwartung. Die biologische Lebenserwartung kann man sich als eine lange Straße vorstellen, die etwa einhundertzwanzig Jahre misst. Wenn wir gesunde Gene haben, uns ausreichend vor Krankheiten schützen, in einer extrem sauberen Umwelt leben und unser Haus außer für Arztbesuche nicht verlassen, könnten wir mit etwas Glück dieses Alter erreichen, mehr nicht. Mit einhundertzwanzig Jahren stellen die Zellen, ganz gleich wie gesund und intakt sie sind, ihre Funktion ein. Davon wenigstens geht die Wissenschaft bisher aus und bestätigt damit einen weitverbreiteten Glauben: Wir alle werden irgendwann sterben.
Die tatsächliche Lebenserwartung hingegen bezieht sich darauf, wie lang der Abschnitt dieser Straße ist, den jeder Einzelne von uns erleben darf. Es ist müßig zu erwähnen, dass außer in Vilcabamba die Mehrzahl der Menschen das Ende nie |37|erreicht, irgendwann überqueren sie die Straße, und ihre Spur verliert sich auf der anderen Seite.
Eine unausgewogene Ernährung, Stress und Giftstoffe verkürzen unsere Lebenserwartung bekanntermaßen. Um bei dem Bild zu bleiben: Wenn die Straße sauber bleibt, werden wir es wahrscheinlich einige Meter weiter schaffen. Bis heute hat sich die Forschung darauf konzentriert, herauszufinden, wie man möglichst viel Strecke machen kann. Aber warum eigentlich einhundertzwanzig und nicht zweihundert oder dreihundert Jahre?
Unsere Zellen sterben aus verschiedenen Gründen ab. Einer davon ist, dass die Enden der DNA beim Reproduktionsprozess nicht vollständig dupliziert werden. So wird der Strang immer kürzer, bis die Zelle sich am Ende überhaupt nicht mehr teilt. Die Zellalterung ist kein Mysterium, sie ist ein biologischer Prozess; man kann versuchen, korrigierend auf ihn einzuwirken. Es gibt ein Enzym, das dafür sorgt, dass die Enden der DNA bei der Zellteilung nicht verkürzt werden. Seine Aktivität nimmt jedoch mit zunehmendem Alter ab. Einigen Tumoren gelingt es, dieses Enzym zu reaktivieren und ein ungehemmtes Zellwachstum auszulösen, das dem Organismus schadet.
Vielleicht erlaubt es uns der wissenschaftliche Fortschritt ja irgendwann, dieses Enzym nachzubauen, |38|so dass wir unsere Lebensstraße um ein Gutteil verlängern können.
Wir haben eine festgefügte Vorstellung über das Altern und den Tod: Sie sind unvermeidlich. Man könnte sich das Altern aber auch als Programm denken, das in einem bestimmten Moment gestartet wird und dafür sorgt, dass unsere Zellen ihre Funktion einstellen. Und dann käme ein Hacker, der dem Organismus vorgaukelte, dass die Zeit für die Aktivierung des Programms noch nicht gekommen sei … Wir könnten hundertzwanzig werden und wären immer noch jung!
Im Organismus läuft die Zeit nicht chronologisch ab. Das Alter, das der Kalender anzeigt, wirkt sich nicht bei allen Menschen gleich aus. Fünfzig ist nicht gleich fünfzig. Bis jetzt ist es unmöglich, die biologische Zeit mit der Präzision einer Armbanduhr zu messen.