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Ich bitte Lenin anzuhalten. Wir befinden uns am Anfang der Hauptstraße von Vilcabamba, sie heißt »Avenida de la Eterna Juventud«, »Allee der ewigen Jugend«.

»Ich steige hier aus und gehe zu Fuß weiter«, sage ich, »wir sehen uns dann morgen.«

Lenin winkt fröhlich und fährt weiter.

Seufzend sehe ich mich nach einem Café oder einer Bar um. Ich muss eine Entscheidung treffen.

Als ich letzte Nacht ins Bad kam, entdeckte ich einen Skorpion. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Nach dem ersten Schreck ließ der zweite nicht lange auf sich warten: Ein Skorpion im Zimmer, um Himmels willen, dann fängt gleich bestimmt wieder die Erde an zu beben! Vorsichtshalber stützte ich mich schon mal mit beiden Armen im Türrahmen ab und wartete. Wartete, dass die Welt über mir einstürzte. Bis mir einfiel, dass es in dem Fall vielleicht klüger wäre, mich ins Freie zu begeben, wo ich kein Dach über dem Kopf hatte. |60|Lange starrte ich in den romantischen Nachthimmel mit seinem Sternenensemble. Nichts geschah, die Erde regte sich nicht.

Da hatte sich einfach ein Skorpion in mein Bad verirrt, das war alles. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, drehte das Radio auf volle Lautstärke und tat, was getan werden musste. Erst dann konnte ich in Ruhe schlafen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, kam mir ein Dokumentarfilm über Skorpione in den Sinn, den ich vor längerer Zeit zufällig beim Zappen durch die Programme erwischt hatte. Ich erinnere mich kaum mehr an Details, aber das ist mir im Gedächtnis geblieben: Die giftigen Arten leben monogam. Und plötzlich war ich mir ganz sicher, dass irgendwo in meinem Zimmer ein Witwer oder eine Witwe saß, dem oder der ich in der letzten Nacht den Partner genommen hatte.

Ich verlasse die Avenida und biege in eine Seitenstraße ein. Die Plaza de la Madre ist nicht mehr weit entfernt. Dort kenne ich inzwischen eine Bar mit dem Namen El Punto. Bestimmt ein guter Ort, um nachzudenken.

Ich suche mir ein schattiges Plätzchen. Am Nachbartisch fertigen drei Hippies aus einer nahegelegenen Kommune ihr Kunsthandwerk. Nur wenige Meter links von mir setzt sich der Schamane des Dorfes auf den Bürgersteig und stimmt |61|sich offenbar auf die Nachmittagshitze ein. Ich starre geradeaus vor mich hin. Auf der gegenüberliegenden Seite der Plaza steht die im Kolonialstil erbaute Kirche von Vilcabamba.

Doch das wahre Objekt meiner Begierde befindet sich um die Ecke, im dritten Regal rechts in der Apotheke: eine bunte Sprayflasche mit hellgrünem Deckel und der Aufschrift »Pix«. Ein Insektizid, das angeblich gegen alles wirkt, was kreucht und fleucht. Ich könnte endlich wieder ruhig schlafen, und vielleicht das Geheimnis des langen Lebens an diesem Ort entschlüsseln. Aber plötzlich nagen Gewissensbisse an mir: Werde ich ruhig schlafen können, wohl wissend, dass ich die Natur mit einem Giftspray aus dem Gleichgewicht gebracht habe?

Wahrlich keine leichte Entscheidung. An diesem Ort schon gar nicht.