Es gibt ein Tal in Ecuador, das seinen Bewohnern vierzig Jahre mehr Leben schenkt. Niemand weiß, woher diese Jahre genommen werden, wie man an sie herankommt. Doch es gibt sie. Die lebenden Beweise dafür laufen in beneidenswert guter Verfassung im Dorf herum, nehmen aktiv an der Gemeinschaft teil, beackern ihr Land, gehen ihren Tätigkeiten nach.
Menschen, denen die Aussicht auf Alter und Tod panische Angst bereitet, bringt das Wissen um diese Möglichkeit, die man nicht nutzen kann, da bisher der Schlüssel zu ihrem Geheimnis fehlt, schier zur Verzweiflung. Man sucht nach Erklärungen. Eine gute Erklärung muss nicht wahr sein, es genügt, wenn sie glaubwürdig ist. Wichtig ist nicht, wie sie lautet, sondern dass sie beruhigt.
Die Gesundheitsfanatiker behaupten, in Vilcabamba würde man so lange leben, weil die Bewohner des Tales sich gesund ernährten, körperlich betätigten und reine Luft atmeten. Wenn sie die |165|betagten Herrschaften rauchen oder trinken sehen, joggen sie schnell vorbei.
Eine Reihe von Organisationen predigt die Selbstkasteiung und mahnt mit einem ganzen Katalog an Verhaltensmaßregeln zu mehr Disziplin. Iss dies nicht, tu jenes nicht. Wer den Anweisungen nicht folgt, sich nicht an die Vorschriften hält, muss wissen, dass er einsam und allein in die Todeszelle marschiert. Und zwar früher als nötig.
Bis jetzt geben die ernstzunehmenden Gesundheitsstudien ihnen recht. Die Prävention funktioniert. Doch die Prävention schlägt zuweilen in Perversion um. In Vilcabamba kasteit sich niemand. Hoffentlich versteht die Menschheit, wenn sie eines Tages in den Genuss der geschenkten Jahre kommt, diese entsprechend zu nutzen.
Sollte man »das Beet des langen Lebens«, wie Víctor es nennt, tatsächlich ausfindig machen, wird es erbitterter zugehen als im Kampf um Gold oder Erdöl. Man wird um Verteilung, Beschränkungen und den Preis ringen; Machtspiele und Gesetze werden den Markt regeln. Unterdessen beziehen umtriebige und entschlossene Wissenschaftler, Investoren, Unternehmer, Gläubige, Lobbyisten und Vertreter der Medienwelt, die über das nötige Kapital verfügen, schon einmal Stellung. Sie kaufen Land.
Die Vorstellung vom Dasein als reines Leben in |166|unberührter Natur bedeutet, dass man der Natur eine Weisheit unterstellt, für die wir erst im Urwald durch Moskitostiche empfänglich werden. Folgt man dieser Logik, verbirgt sich hinter der Suche nach einem längeren Leben die Auffassung, dass ein Mensch und sein Körper ein und dasselbe sind und dass sich alles auf Lust und Leiden reduzieren lässt – eine traurige Vorstellung.
Mit der Behauptung, der Mensch sei lediglich das Ergebnis seiner Biologie, ordnet man ihn letztlich dem Reich der Tiere zu. Wenn unser Denken und Handeln allein von unserer Chemie gesteuert würde, brauchten wir nicht länger darüber zu philosophieren, was der Mensch ist – dann wäre er eine Maschine. Auch wenn das in mancher Hinsicht zutreffen mag, ist unsere Gattung doch immer wieder für eine Überraschung gut.
Vielleicht wird man irgendwann, wenn man jemanden kennenlernen will, sich nicht mehr mit ihm unterhalten, sondern ihn um Einsicht in seine Blutwerte bitten. Möge dieser Tag niemals kommen.
Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den alten Menschen in Vilcabamba und meinem Vater: Die Bewohner des heiligen Tals werden über hundert und sind dabei gesund und munter. Mein Vater aber ist unsterblich.
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|167|Während des Schreibens an dieser Reisechronik haben mich einige Bücher begleitet. Mit einigen Themen habe ich Neuland betreten, für andere begeistere ich mich schon seit längerer Zeit.
Was die Theorie zur Langlebigkeit angeht, sind insbesondere die Forschungen von Leonard Hayflick zu Lebenserwartung und biologischen Grenzen hervorzuheben. Ebenso die Arbeiten von S. Jay Olshansky und Bruce A. Carnes (u. a. Das Streben nach Unsterblichkeit). Mein Blick auf die Wissenschaft veränderte sich entscheidend durch die Lektüre des Werkes Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von Thomas S. Kuhn, aber auch durch die Beiträge von Jakob von Uexküll, Alexandre Koyre und Gaston Bachelard sowie Georges Canguilhems Das Normale und das Pathologische. Weitere wertvolle Texte waren mir der erste Band von Foucaults Die Geschichte der Sexualität; Philippe Ariès’ Studien zur Geschichte des Todes im Abendland; Giorgio Agambens Homo Sacer: Souveräne Macht und bloßes Leben sowie Das Offene; Alain Badious Das Sein und das Ereignis; ein Band mit Aufsätzen von Deleuze, Foucault und Agamben zur Biopolitik; Paula Sibelias El hombre postorgánico. Und natürlich, nicht zu vergessen, Kafkas Brief an meinen Vater und Ein sanfter Tod von Simone de Beauvoir. Endlich fand ich auch |168|die Zeit, Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit und Das Universum in der Nussschale zu lesen.
Ich danke meinen Eltern, ohne die ich dieses Buch nicht hätte schreiben können.