|174|Leseprobe aus

 

 

Ricardo Coler

 

 

Das Paradies ist weiblich

 

Eine faszinierende Reise

ins Matriarchat

 

 

Aus dem argentinischen Spanisch

von Sabine Giersberg

 

|176|Nach sechs Stunden Fahrt über einen holprigen Gebirgspass hält Dorje, ein fülliger Tibeter in den Dreißigern mit üppigem Haar, den Jeep an. Wir befinden uns in mehr als 3000 Meter Höhe, herabgestürzte Felsbrocken versperren uns den Weg, und zu unserer Linken lauert der Abgrund. Dorje steigt aus, um zu prüfen, ob und wie man dem Geröll ausweichen könnte. Ich beobachte ihn, wie er ein paar Schritte in diese, dann in jene Richtung macht, wie er in die Hocke geht, kritisch in den Schlamm fasst, den Kopf nach vorne fallen lässt und einen Augenblick reglos vor den Steinen verharrt – dieser Mann hat so gar nichts von einem tibetanischen Mönch, wie ich ihn mir vorgestellt habe.

Schließlich kommt er entschlossen zum Wagen zurück. Beherzt lässt er den Motor an und gibt Gas. Eines der Räder hängt frei in der Luft. Ich halte den Atem an und lehne mich, die Hände fest um den Rucksack geklammert, mit meinem ganzen Gewicht zur anderen Seite. Ich weiß nicht wie, aber |177|wir schaffen es und lassen die Hürde glücklich hinter uns.

Der Ort, zu dem wir unterwegs sind, heißt Luoshui und ist auf meiner Karte nicht eingezeichnet – ein eigenartiges Gefühl, sich auf diesem Höhenweg in einem Geländewagen durchrütteln zu lassen, um an einen scheinbar nicht existierenden Punkt zu gelangen. Dabei erinnere ich mich gut an Luoshui, ein malerisches Dorf an den Ufern des Lugu, eines der größten Gebirgsseen von ganz Asien; ein Ort, an dem man eines der letzten Matriarchate dieser Welt bewundern kann: Hier leben die Mosuo, und bei den Mosuo ist man im Reich der Frauen.

Vor knapp einem Jahr bin ich schon einmal in Luoshui gewesen, und als ich mich damals verabschiedete, wusste ich, dass ich wiederkommen würde. Ich war fasziniert von dieser Gesellschaft, in der die Frauen das Sagen haben, ihre Sitten und Gebräuche stellten alles in Frage, was für mich bis dahin logisch und erstrebenswert, schlicht die natürliche Ordnung der Dinge zu sein schien. Die Vorstellung, dass der Mann herrscht? Nicht in diesem Dorf. Dass es in der Natur der Frau liegt, heiraten zu wollen? Mitnichten. Dass man dem Vater Respekt zollen muss? Welchem Vater?

Diesmal bin ich darauf eingerichtet, eine Zeitlang mit den Mosuo zu leben, sie zu interviewen und |178|mit Muße dem auf den Grund zu gehen, was mich bei meinem ersten Besuch auf unerklärliche Weise so fesselte und bewegte.

Die Mosuo sind eine Gemeinschaft von fünfunddreißigtausend Menschen, in der die Frauen bestimmen, wo es langgeht, und Privilegien genießen, die den Männern versagt bleiben. Eine Art Paradies der Frauenbewegung. Ein Beispiel dafür, wie die Wirklichkeit aussehen kann, wenn die Spielfiguren einmal anders aufgestellt sind.

Was passiert, wenn eine Gesellschaft nicht von Männern geführt wird und Männer nicht die Hauptnutznießer sind? Wie verändern sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern? In Luoshui ist die Frau nicht durch eine vom Machismo geprägte Erziehung konditioniert, hier gibt es kein schwaches Geschlecht.

Ich selbst bin in einer genuin patriarchalischen Gesellschaft aufgewachsen. Wenn allerdings die Prognosen stimmen, dass in den westlichen Gesellschaften die Position des Mannes immer schwächer wird, kann es nicht schaden, sich schon jetzt damit vertraut zu machen, wie ein Matriarchat funktioniert.

 

Von Peking aus, wo ich vor vier Tagen gelandet bin, habe ich das Land einmal durchquert, um schließlich |179|Kunming zu erreichen, die Hauptstadt der weitläufigen Provinz Yunnan. Im 13. Jahrhundert war die offizielle Währung in dieser Stadt die Meeresmuschel. Marco Polo berichtet in der Chronik seiner Reisen, dass vierzig Meeresmuscheln einer venezianischen Währungseinheit entsprachen. Der Wechselkurs muss günstig für die chinesischen Kaufleute gewesen sein, denn Kunming florierte. Heute gilt »die Stadt des ewigen Frühlings«, wie sie wegen ihrer beständigen milden Temperaturen heißt, als kommerzielles Zentrum von Yunnan und verfügt über eine stattliche Anzahl von Fünf-Sterne-Hotels.

Weiterfliegen konnte ich von Kunming aus nur bis Lijiang, wo ich von Dorje, dem Fahrer, und Lei, meinem Dolmetscher, erwartet wurde. Zu zweit hielten sie ein improvisiertes Schild hoch, auf dem fehlerhaft mein Name geschrieben stand – was sich als vollkommen überflüssig erwies, denn ich war der einzige Nicht-Asiate im ganzen Flughafen.

Die Altstadt von Lijiang teilt ein Fluss, der wegen der Schneeschmelze immer kaltes Wasser führt, und sie ist durchzogen von engen Kopfsteinpflastergassen und Kanälen, die an manchen Stellen direkt vor den Häusern vorbeifließen. Dort sieht man die Bewohner Töpfe und Geschirr in dem stetig fließenden Wasser abspülen, die Hände blau von |180|der Kälte. In der Tür eines dieser Häuser steht eine alte Frau mit riesiger Pfeife im Mund und zwei großen Weidenkörben auf der Schulter. Alter, Sonne und Bergluft haben ihr Gesicht gegerbt, kein Millimeter ist faltenlos. Sie bläst den Rauch in die Luft und grüßt mich.

Die Provinz Yunnan weist weltweit die größte Konzentration an ethnischen Minderheiten auf. Es gibt hier mehr muslimische Chinesen mit weißen Wollmützen als Araber in ganz Saudi-Arabien. Die Naxi erkennt man an ihren blauen Schürzen, die Lisu überqueren, an einem Seil hängend, den Nujiang und kommen zum Einkaufen her, und die mit den roten Blumen an den Beinen, das sind die Bai-Mädchen. Die geschäftigen Zhuan tragen im Vergleich zu anderen Landsleuten immer das Doppelte an Gewicht auf ihren Schultern – ich weiß nicht, ob sie ihre Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen wollen oder ob sie vorsichtshalber stets das Doppelte von dem mitnehmen, was sie benötigen. Die Yi, wohl die zahlreichste Minderheit, sind auch schon von weitem unübersehbar: Die Frauen, bekleidet mit weißem Hemd und roter Weste, tragen schwarze Hüte von ungefähr einem Meter Durchmesser, die aussehen wie Dächer. Sie senken den Kopf, um fremden Blicken auszuweichen. Der Fremde bin ich. Unter all den traditionell gekleideten |181|Menschen bin ich mit Cargo-Hose, Reisehemd und Fotografenweste in diesem Teil von China eindeutig der exotischste Vogel und zweifellos der mit den meisten Taschen.

 

Inzwischen haben wir die Zivilisation hinter uns gelassen. Eine Stunde ist vergangen, seit wir uns auf dem Gebirgspass einen Weg durch die Felsbrocken gebahnt haben, jetzt befinden wir uns im Land der Yi. Am Straßenrand entdecke ich immer wieder dunkel gekleidete Frauen mit zurückgebundenem Haar und sogar kleine Mädchen, die sich, schwer beladen mit Körben voller Holzscheite, den Berg hinaufkämpfen – als wäre das Lastentragen Teil der weiblichen Natur.

Dorje und Lei verstricken sich in ein offenbar hochinteressantes Gespräch auf Mandarin, stundenlang diskutieren sie, bis irgendwann hinter einer Kurve der Lugu-See vor uns auftaucht.

Das Panorama ist überwältigend: ein himmelblauer Spiegel aus stillem Wasser mit ein paar Inseln. Am liebsten würde ich aussteigen und mich ganz und gar in die Betrachtung dieser Naturschönheit versenken.

Endlich erreichen wir Luoshui. Vor dem Haus, in dem ich untergebracht sein werde, empfängt mich eine freundliche Dame und zeigt mir, wo ich mein |182|Gepäck abstellen soll. Nach und nach finden sich die anderen Bewohner des Hauses ein und beäugen mich neugierig, aber auch misstrauisch. Sie sprechen mit Lei und zeigen auf mich. Derweil sehe ich mich ein wenig um und gewahre, in gebührendem Abstand gegen einen Pfeiler der Galerie gelehnt, die Matriarchin. Zu meiner Überraschung ist es eine junge Frau. Mit ernstem Gesichtsausdruck und einem kurzen Kopfnicken begrüßt sie mich.

***

Was hat mich hierher geführt?, frage ich mich, als ich endlich auf einer Pritsche in meinem Gastzimmer sitze, vor mir das noch unangetastete Gepäck. Ich wohne in einem für diese Gegend typischen Haus: Es ist aus Holz gebaut und verfügt über ein Erdgeschoss und ein weiteres Stockwerk. Die Zimmer gruppieren sich um einen überdachten Innenhof, auf den die Fenster hinausgehen. Meines ist offen, so dass ich deutlich die Stimme der Matriarchin vernehme, die ihre strengen Befehle erteilt. Sie heißt Yasi, ist, wie ich bereits erwähnte, auffallend jung, aber auch auffallend attraktiv und auffallend energisch und hat mich offenbar völlig vergessen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich gut untergebracht bin.

|183|In einer Ecke des Hofes sitzen zwei Männer. Schnurstracks marschiert die Matriarchin mit ausgestrecktem Arm auf sie zu und herrscht sie lautstark an. Die Kerle springen auf, schnappen sich jeder einen Korb und rücken ab.

Als wieder Ruhe einkehrt, wage ich, den Kopf aus dem Fenster zu stecken. Keiner mehr da, auch die Matriarchin ist verschwunden. Also traue ich mich in den Hof und erkunde das Terrain. Die Außenwände sind in Rot-, Blau- und Gelbtönen gestrichen. Wie bei einer Pagode haben die vorragenden Gesimse und Dächer spitze, nach oben gezogene Enden. Sie sehen aus wie türkische Pantoffeln. Die Tür zur Straße ist der Haupteingang, durch den soeben zwei mit Körben beladene Männer gesenkten Hauptes das Haus verlassen haben.

Ich schlendere zum ältesten Gebäudeflügel hinüber, dem sogenannten traditionellen Haus. Auf dem Boden in der Mitte eines großen Raumes brennen den ganzen Tag über Holzscheite. Die Feuerstelle ist in jedem Mosuo-Haushalt von zentraler Bedeutung. Und natürlich ist die Frau dafür verantwortlich, dass das Feuer nie ausgeht.

Die Wände um das Feuer sind verrußt, und in der Decke befinden sich fingerbreite Ritzen, durch die der Rauch entweichen kann. In diesem Teil des Hauses ist es immer warm. Hier wird gekocht, in |184|riesigen gusseisernen Töpfen, und später auch gegessen. Auf einem breiten Tisch steht schon das Geschirr bereit, von den Querbalken hängen ganze Schinken herab. In der Nähe des Feuers stehen an privilegiertem Platz zwei mit Lammfellen bedeckte Bänke. Sie sind besser gepolstert als die übrigen und dienen den älteren Frauen des Haushalts als Schlafstätte. Auf einem dunklen Möbel harrt ein von Opfergaben umgebener Buddha der Gebete. Der Raum ist Küche, Esszimmer, Schlafsaal und Altar zugleich, ein Versammlungsort, an dem sich der größte Teil des Alltags abspielt und wo Besucher mit einer Tasse Buttertee empfangen werden.

Ich gehe wieder hinaus und über den Hof in den gegenüberliegenden Flügel, wo sich die Wohnräume der erwachsenen Frauen der Familie befinden und wo das Liebesleben der Mosuo stattfindet. Während die Männer in den Gemeinschaftsräumen bei ihren Müttern leben, hat jede Frau nach der Initiationszeremonie, die den Eintritt in das Erwachsenenalter markiert, Anrecht auf ein eigenes Zimmer, in das sie sich zurückziehen kann, in dem sie ihre persönlichen Habseligkeiten aufbewahrt und ihre Liebhaber empfängt. Es kommt nur der hinein, dem sie gewillt ist, Einlass zu gewähren. An der Zimmertür ist ein Haken aus Holz angebracht. |185|Dort hängt die Mütze des Begleiters, den sie für die jeweilige Nacht ausgewählt hat. Sie ist das untrügliche Zeichen für jeden, der sein Glück versuchen will, dass die Frau beschäftigt ist und nicht gestört werden möchte.

Eine Besuchsehe hat wenig mit dem zu tun, was man in westlichen Kulturkreisen gemeinhin unter Ehe versteht. Jeder lebt in seinem Haushalt, unter dem Dach der Matriarchin seines Clans. Nur in der Nacht und unter Einhaltung größter Diskretion besucht ein Mann die Frau, mit der er eine Verabredung getroffen hat, in ihrem Zimmer; die Verwandten sollen davon nichts mitbekommen. Über das Sexualleben einer Frau wird nicht gesprochen, Anspielungen darauf, zumal aus dem Mund männlicher Familienmitglieder, sind verpönt.

Vor dem Zubettgehen drehe ich eine letzte Runde zum Ufer des Sees. Dort treffe ich auf eine Gruppe von Freunden, die sich nach dem Abendessen bis Mitternacht hier versammeln. Danach machen sie sich auf den Weg zu ihren Geliebten, wo sie mit einem leisen Klopfen an die Tür darum bitten, empfangen zu werden. Immer ist die Frau diejenige, die empfängt, der Mann muss zu ihr kommen, sie in ihrem Gemach aufsuchen. Das Gegenteil ist tabu.

Die Besuchsehe beinhaltet keinerlei verpflichtende |186|Bindung. Man verbringt eine Nacht zusammen, und nicht zwangsläufig pflegt man darüber hinaus den Kontakt. Wenn ein Treffen nicht zuvor vereinbart wurde, weiß nur der Mann, zu wem er geht. Die Wartende in ihrem Zimmer muss sich überraschen lassen, wer des Nachts an ihre Tür klopft.

Sowohl Männer aus anderen Dörfern als auch Reisende können mit den Mosuo-Frauen eine Besuchsehe eingehen. Aber selbstverständlich entscheiden die Damen, ob sie ihre Tür öffnen oder nicht.

Wenn ein Besucher von weither kommt, ist die Frau stolz darauf, dass die Kunde von ihrer Schönheit offenbar in die Welt getragen wurde. Die Mosuo sind eine Gemeinschaft, die starke, dominante und eigenwillige Frauen hervorbringt, doch attraktiv und verführerisch möchte eine Mosuo wie jede andere Frau auch sein.

Ich mache mich auf den Weg zurück zu meiner Unterkunft und bemerke gerade noch, wie die Matriarchin das Haus durch den Haupteingang verlässt. Als sie längst außer Sichtweite ist, hört man immer noch das Klimpern des von ihrer Hüfte baumelnden Schlüsselbundes.

Von meinem Fenster aus kann ich in eines der Frauengemächer sehen: Ein junges Mädchen sitzt |187|vor einem Spiegel und frisiert sich mit einer silbernen Bürste das schwarze Haar. Sie wiederholt ein jahrhundertealtes Ritual: Auf einem der Stühle liegt ein Kopfputz, das Mädchen nimmt ihn und richtet die drei ihn schmückenden Perlenreihen. Dann neigt sie den Kopf, um ihn aufzusetzen. Das schwarze Kunsthaar lässt ihr eigenes noch dichter erscheinen. Sie beginnt einen Zopf zu flechten und schaut dabei verträumt aus dem Fenster, das zum See hinausgeht.