Elf Uhr morgens auf dem Hauptplatz des Dorfes. Es ist ein milder Tag, wie eigentlich immer … Das Klima wird ja auch gern als Grund für die Langlebigkeit der Bewohner Vilcabambas angeführt. Aber das findet man andernorts ebenso, ohne dass sich die Lebenserwartung dadurch drastisch erhöhen würde. Wie dem auch sei, es denkt sich besser bei zweiundzwanzig Grad als bei über vierzig oder bei zehn Grad minus.
Von meiner Bank aus blicke ich auf ein Geschäft mit dem Schild: »Mini Market – Der Langlebige«. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Am Eingang der Kirche lutscht ein Mädchen an einem blauen Eis, und ein kleiner Junge, höchstens vier oder fünf, hilft einem alten Mann die Treppe hinunter.
Sonntagmorgen im Dorf, Messezeit, Männer mit blankgeputzten Schuhen und schneeweißen Hemden und Frauen in bunten Kleidern. Nur wenige tragen Schwarz. Es heißt, im Dorf gebe es mehr Witwer als Witwen. Bleibt eine Frau zurück, trägt |99|sie Trauer; die alten hinterbliebenen Männer hingegen suchen sich bald wieder ein junges Mädchen.
Eine Gruppe Jugendlicher kommt über die Straße und versammelt sich aufgeregt um eine schwarze Kawasaki. Unter den neidischen Blicken der anderen schwingt sich einer von ihnen auf den Sitz und lässt den Motor aufheulen. In der Kirchentür steht, ganz in Weiß, eine Nonne und beobachtet sie mit nachsichtigem Blick. Sie ist froh, dass die jungen Leute sich überhaupt in die Gemeinde einbringen. Man muss die Schöpfung genießen und dankbar sein – vor allem das. Eine offenbar gerade eingetroffene japanische Touristin versorgt ihr verletztes Bein. Vier Teenies amüsieren sich über einen alten Hippie mit roter Hose und gelber Mütze und lassen ihre jüngeren Schwestern nicht an ihrem Vergnügen teilhaben. Auf dem Rücken eines Esels reitet Segundo Guerra heran, er ist achtundneunzig und bärbeißig, einer der berühmtesten alten Männer im Tal. Als er mich und meine Kamera mit dem Teleobjektiv erspäht, wirft er die Zigarette weg und zieht den Hut tief ins Gesicht.
Es sind an diesem Morgen so gut wie keine Autos unterwegs. Nur ein LKW mit Anhänger bricht plötzlich hupend in die sonntägliche Idylle ein und versperrt die Straße. Auf der Plastikplane |100|des Lasters stehen verführerische Schriftzüge: »Nationale Lotterie« und »Goldgrube«. In null Komma nichts ist eine Bühne aufgebaut, und zwei junge Mädchen auf Stilettoabsätzen verkaufen die Chance auf unzählige Preise, vom Bargeld bis zum praktischen Haushaltsgerät ist alles dabei. Die Möglichkeit auf Glück lockt die Menschen an. Als die versammelte Menge groß genug ist, übernimmt der Fahrer das Mikrofon. Die Leute betrachten ihre Lose, prägen sich die Nummern ein – dann wird es mucksmäuschenstill. Doch anstatt die Namen der glücklichen Gewinner zu verkünden, schließt der Mann die Augen und fängt an zu singen. Die Anlage ist ein wenig übersteuert. Vor seinem Auftritt hat der Mann sich umgezogen: Er trägt jetzt einen glänzenden Anzug, der farblich auf das Dekor des Anhängers abgestimmt ist. Und eine riesige Sonnenbrille. Der Lärm, seine Aufmachung und überhaupt, dieser ganze Lotteriezirkus sprechen gegen ihn – doch er singt unglaublich gut, auch ohne instrumentale Begleitung. Seine raue Stimme geht unter die Haut. Er bringt ein tieftrauriges Lied dar, über einen Mann, der völlig verzweifelt wegen einer Frau ist.
Víctor erinnert sich plötzlich an einen Tag, an dem sich auf dem Dorfplatz ebenso viele Menschen versammelt hatten wie heute. Es war der Tag, |101|an dem Yukio Yamori auf dem Platz sprach; fast das ganze Dorf sei da gewesen.
Yamori ist ein bedeutender Mediziner und Experte der WHO, eine Autorität in Fragen gesunder Lebensführung. Unter anderem hat er sich mit dem Phänomen der überdurchschnittlich alten Menschen in Okinawa beschäftigt und einige Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt. Wie viele andere kommt auch er zu dem Schluss, dass es einen Zusammenhang zwischen dem hohen Alter und der Ernährung geben muss. Hundert Gramm Fisch, fünfundzwanzig Gramm Soja und vor allem kein Salz. Das habe er auch den Leuten in Vilcabamba ans Herz gelegt, die einen enormen Salzkonsum haben. Das Erstaunliche ist übrigens, dass sie trotzdem einen niedrigen Blutdruck haben.
In Vilcabamba ticken die Uhren eben anders …
Und nicht nur gegen Bluthochdruck und Arteriosklerose scheinen die Menschen aus Vilcabamba gefeit zu sein. Die Mehrzahl der Hundertjährigen im Dorf kann sich außerdem einer vollständigen Garnitur gesunder Zähne rühmen – und das hat nun wirklich nichts mit den Arterien zu tun. Bedenkt man weiterhin, dass die Zentenare kaum ergrauen, ohne Brille lesen können und keinerlei Knochenprobleme haben, ist das sicher nicht allein auf gesunde Ernährung zurückzuführen.
|102|Ich möchte noch einmal die Vorstellung vom Alterungsprozess als eine Art Krankheit bemühen, dann werden einige Zusammenhänge vielleicht deutlicher. Nehmen wir an, irgendwo in einem abgeschiedenen Winkel der Welt litte die Bevölkerung unter Vitamin-B3-Mangel; die Menschen würden die daraus resultierende Krankheit Pellagra als unausweichliches Schicksal betrachten, obwohl man sie leicht heilen könnte, indem man ihnen die fehlenden Stoffe zuführte. Wäre es nicht denkbar, dass es in Vilcabamba Faktoren gibt, die auf vergleichbare Weise den Alterungsprozess beeinflussen?
Es hat immer etwas Aufrührerisches, in eine neue Richtung zu denken. Doch wissenschaftlicher Fortschritt ist nur um den Preis der Bequemlichkeit zu haben; er wirbelt unsere Weltsicht durcheinander und führt uns zu der Erkenntnis, dass das, was wir bis dato für unumstößlich gehalten haben, nur ein Trugbild mit hypnotischer Wirkung war.
Ich frage Lenin, ob er die Messe besucht. Er schüttelt den Kopf. Es widerstrebe ihm, für seine Sünden gegeißelt zu werden. Und dann die ständige Drohung mit der Hölle … Er sei schließlich erwachsen!
Víctor hat den Eindruck, dass es in Vilcabamba ohnehin immer weniger Gläubige gibt und nur die |103|älteren Menschen in die Kirche gehen. Die Jungen sähen sich nicht als Sünder, sie glaubten nicht, dass sie eine Strafe verdient hätten, und Angst vor der Hölle hätten sie auch keine.
Ich denke, es ist nicht gerecht, in der Kirche allein die vorwurfsvoll Anklagende zu sehen. Wenn die Religion so lange überdauert hat, muss sie den Menschen irgendetwas gegeben haben. Wir sind der Ansicht, dass wir stets nach dem streben, was uns guttut – aber stimmt das wirklich? Entspräche es unserer natürlichen Neigung, das Glück zu suchen, wären wir alle glücklich. Wie oft erreichen wir etwas Ersehntes und stellen dann fest, dass es uns nicht das gibt, was wir uns davon versprochen haben? Wir möchten ungetrübtes Glück genießen, aber andererseits üben Schuld, Strafe und die Vorstellung der Hölle eine gewisse Faszination auf uns aus. Das Paradies unterscheidet sich im Grunde gar nicht so sehr von der Hölle. Ein Ort, an dem nichts geschieht und alle nett zueinander sind. Am dritten Tag würde ich mich in das Leben zurückwünschen.
Die Wissenschaft schenkt uns die Illusion, wir seien fortschrittlich. So vertritt die heutige Medizin die These, Sexualität sei gesund. Es wird so viel darüber berichtet, wie man ein erfülltes Sexualleben erreicht, dass derjenige, der nicht auf bestimmte |104|Weise und in bestimmter Häufigkeit sexuell aktiv ist, sich wie ein Ignorant vorkommen muss. In gewisser Hinsicht hat uns die Medizin mit dem Hinweis auf den Gesundheitsaspekt das Recht auf Lust wieder geschenkt; eine Lust, die das begleitende Marketing schnell zunichtezumachen droht.
Und überhaupt: Wenn Sex so gesund ist, wie geht das mit der von der Kirche postulierten Keuschheit zusammen? Dann steht Gott gegen Medizin, schwarze Soutane gegen weißen Kittel, das Gute gegen das Wohlbefinden. Klar, wer mehr Zulauf hat. Und als Ventil für seine Schuld- und Angstgefühle findet der Mensch auch in der Medizin eine Kasteiung durch Kontrollwahn.
Hoffentlich, denke ich, vergeht mir bei diesem ganzen Gerede über gesunde Ernährung nicht irgendwann der Spaß am Essen. Glücklicherweise aber, das muss ich zugeben, ist die Küche im Madre Tierra exzellent. Leicht und köstlich.