Die Frau, die ich liebe, ist sauer auf mich. Und das Schlimme ist: zu Recht. Sie versteht nicht, dass ich alleine zu meinem Vater will. Ich erkläre ihr, dann gehe es schneller, und außerdem sei der Besuch bei meinem Vater alles andere als erhebend.
»Ich will dir das ersparen«, sage ich.
Sie erwidert, wenn es ihr im Leben nur um das Vergnügen ginge, wäre sie mit einem Clown liiert, und ich solle mir nicht immer ihren Kopf zerbrechen, sie sei erwachsen und könne gut selbst auf sich aufpassen.
»Sag bloß, das Leben mit mir ist kein Vergnügen?«
Offensichtlich nicht. Mein gezwungener Scherz misslingt gründlich. Ich lasse sie dennoch im Wartezimmer zurück und eile zu meinem Vater.
Mein Vater ist verzweifelt. Er wirft seinen Kopf auf dem Kissen hin und her, die Decke hat er mit den Beinen von sich gestoßen. Ich erschrecke: Seine Beine sehen aus wie Knochen in Pergamentpapier. An der Ferse hat er eine offene Stelle, er hat |85|sie sich am Laken wund gerieben. Er versucht, die Sonde aus seiner Nase herauszuziehen und die Sauerstoffmaske abzustreifen. Die Schwester verlangt nach Unterstützung. Mein Vater hat seit drei Nächten nicht geschlafen.
»Ich kann nicht mehr. Hol mich hier raus!« Mit diesen Worten begrüßt er mich.
Ich bitte ihn, er möge sich beruhigen, und wende mich zum Gehen.
»Ich werde mit dem Arzt sprechen und …«
»Warte!« Mein Vater reißt die Augen auf und schnaubt wütend. »Ich muss mit dir reden. Ich will mein Leben von Grund auf verändern … So wie du vor ein paar Jahren. Ich will am Meer leben. Wo auch immer, Hauptsache, es gibt ein Dialysezentrum. Ich will ein kleines Appartement mit Meerblick.«
»Schön, Papa, aber jetzt musst du erst mal wieder auf den Damm kommen.«
»Nichts da!«, brüllt er. Dann senkt er erschöpft die Stimme. »Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich fühle mich eingesperrt.«
»Papa, wie um alles in der Welt soll ich dich so ans Meer bringen?«
»Du machst das schon. Du hast so viele Dinge im Leben getan, die andere für unmöglich gehalten haben. Bring mich fort von hier!«
|86|In meinem Kopf rattert es. Ich könnte es tun. Alles eine Frage der Organisation. Ich vermiete seine Wohnung und suche für weniger Geld eine andere an der Küste. Im Dialysezentrum bitte ich um Verlegung, das ist nicht unüblich, schließlich machen auch Dialysepatienten mal Urlaub. Mir kommt ein anderer Gedanke: Ich verkaufe die Wohnung und setze mich mit ihm ins Flugzeug nach Vilcabamba. Dort hätte er noch viele schöne Jahre in Aussicht, und irgendwann, wenn ich fünfundneunzig bin, würde ich ihn immer noch mit Freuden pflegen. Bin ich ihm das nicht schuldig? Er hat mir das Leben geschenkt, und jetzt verlangt er etwas davon zurück.
Doch die Wirklichkeit holt mich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. In Vilcabamba gibt es kein Dialysezentrum – mangels Patienten. Ecuador ist somit vom Tisch. Und was die Küste angeht: Meine Mutter wäre niemals bereit, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, und sie hat immerhin fünfzig Prozent Mitspracherecht. Das Seltsame ist, dass ich an den gesunden Menschenverstand appellieren muss, um zu rechtfertigen, dass ich mich nicht mit meinem sterbenskranken Vater auf und davon mache.
Der Stationsarzt kommt herein. Die Schwester habe ihm Bescheid gegeben, dass ich bei meinem |87|Vater sei, das treffe sich gut, denn er wolle mit mir sprechen.
»Ihrem Vater geht es besser. Die Werte haben sich stabilisiert. In ein paar Tagen können wir ihn entlassen.«
Im ersten Augenblick bin ich sprachlos. Ich habe mit allem gerechnet, nur damit nicht. Ich höre, wie er sagt, dass die Infektion zurückginge, und den Fuß könne man sich in ein paar Wochen noch einmal ansehen.
»Er ist sehr erregt«, erwidere ich vage.
»Ja. Ich habe schon mit der psychiatrischen Abteilung gesprochen, aber bislang war noch niemand da. Er wird jetzt an die Dialyse angeschlossen, danach wird er sicher ruhiger. Insgesamt hat sich sein Zustand jedoch deutlich verbessert.« Dann wendet er sich an meinen Vater und fragt: »Wie fühlen Sie sich heute?«
»Besser, Herr Doktor. Danke.«
Kaum ist der Arzt aus dem Zimmer, kommen die Pfleger mit der Transportliege.
»Vergiss nicht, was wir besprochen haben«, flüstert mir mein alter Herr zu, als sie ihn hinausrollen.
Wir sitzen in einem neuen, wunderschön eingerichteten Restaurant, bei dem man eine Ewigkeit |88|auf das Essen warten muss – dafür wird man mit leiser Hintergrundmusik, dezentem Licht und einem angenehmen Ambiente entschädigt. Die Getränke haben wir bestellt, aber ich möchte mit meinem Bericht warten, bis wir uns auch für ein Menü entschieden haben.
»Danke, dass du mich ins Krankenhaus begleitet hast. Ich weiß, ich kann manchmal ganz schön stur sein.«
»Ja, du willst den Kampf um deinen Vater ganz allein bestreiten, wie ein Held.«
Hört sich gut an, aber ich bin mir nicht sicher, wie sie das meint. Besser, ich ziehe mich auf sicheres Territorium zurück.
»Soll ich dir von Vilcabamba erzählen?«
»Ja, bitte, ich will alles ganz genau wissen.«
»Es ist beeindruckend, was dort passiert … Es hat mein Denken komplett auf den Kopf gestellt.«
»Wie meinst du das?«
»Bisher habe ich das Alter immer für eine natürliche Lebensphase gehalten. Mittlerweile denke ich, es ist eine degenerative Krankheit wie viele andere.« Ich flüstere ihr zu, das könne ich natürlich nur ihr sagen, in Ärztekreisen würde man mich in der Luft zerreißen.
»Das verstehe ich nicht. Jedes Lebewesen stirbt irgendwann. Das ist ein Naturgesetz.«
|89|»Nicht ganz. Es sterben nur die Lebewesen, die sich auf sexuellem Wege fortpflanzen. Es gibt andere, geschlechtslose, die sich in einem bestimmten Moment teilen. Es entstehen zwei neue Individuen. Die ursprüngliche Zelle aber stirbt nie, zumindest nicht nach unserer Auffassung vom Tod.«
»Das gilt doch nur für Einzeller.«
»Richtig, sie bestehen nur aus einer Zelle. Aber man kann trotzdem darüber nachdenken, ob es so etwas wie ewiges Leben gibt. Sexualität und Tod sind offensichtlich eng miteinander verbunden, denn die Wesen, die sich anders fortpflanzen, werden wiedergeboren.«
»Aha … Ich sehe schon, du willst mir noch ein wenig Hirnakrobatik abverlangen.«
»Wie?«
»Schon gut, erzähl weiter.«
»Wir altern aus verschiedenen Gründen. Einer davon interessiert mich besonders: Unsere Zellen sind auf eine bestimmte Lebensdauer programmiert, und während dieser Zeit können sie sich teilen. Ist ihre Zeit abgelaufen, hören sie damit auf. Und jetzt stell dir vor, es gäbe eine Substanz, die sie anregen würde, mit der Zellteilung fortzufahren.«
»Dann wären wir unsterblich.«
»So weit würde ich vielleicht nicht gehen. Es gibt auch Tumore, die ein Zellwachstum auslösen, und |90|das hat bekanntermaßen katastrophale Folgen … Aber mal angenommen, bei den Menschen in Vilcabamba würde ein ähnlicher Prozess in Gang gesetzt, nur für gesunde Zellen. Das hieße doch, dass der Krebs, der uns tötet, für sie den Schlüssel zum ewigen Leben enthielte.«
»Ist das so?«
»Nichts davon ist bewiesen … Das sind nur so Gedankenspiele von mir. Es gibt etwa zehn Faktoren, die den Alterungsprozess auf Molekularebene steuern. Vielleicht können wir eines Tages Einfluss auf sie nehmen. Dann würde die jetzige Grenze von einhundertzwanzig Jahren möglicherweise auf einhundertfünfzig oder gar zweihundert Jahre nach oben korrigiert werden. Die Forschungen stehen zwar erst ganz am Anfang, aber ich glaube, man kann nicht mehr so kategorisch über das Leben und seine Dauer sprechen. Angesichts der Hundertjährigen, die ich kennenlernen durfte, kann man nur feststellen, dass Alter und Tod offenbar keine absoluten Begriffe sind … Aber ich bin kein Spezialist für das Thema. Und für das, was ich mit der Reise erreichen wollte, hat die Zeit nicht gereicht.«
»Dann fahr noch mal hin. Dein Vater ist über den Berg, und du hattest doch sowieso mehr Zeit für die Reise eingeplant. Wenn es dich so sehr interessiert, halte ich dir den Rücken frei.«