Mir gegenüber sitzt Víctor Carpio und wartet ungeduldig darauf, dass ich endlich das Aufnahmegerät einschalte.
Als Erstes erwähnt er Mario Moreno.
»Mario Moreno?«
»Ja, Mario Moreno, alias Cantinflas, der populärste Komiker der spanischsprachigen Welt.«
Víctor lacht, er ist stolz, dass Cantinflas, ein internationaler Star, fast ein Jahr in Vilcabamba verbracht hat. Als hätte etwas von seinem Glanz auf das Tal abgestrahlt. Eine Berühmtheit wie Cantinflas hätte überall auf der Welt absteigen können, aber er wählte Vilcabamba, Víctors Dorf.
Mario Moreno ist vor allem in einer Rolle berühmt geworden: Er spielte einen einfachen Mexikaner, den er als Meister des Wortspiels inszenierte und der seine Gesprächspartner – meist hohe Persönlichkeiten – zur Verzweiflung brachte, indem er die Sätze verdrehte, bis sie keinerlei Sinn mehr ergaben. Wer sich auf eine Unterhaltung mit dem |72|Mexikaner einließ, wusste am Ende nicht mehr, was er eigentlich sagen wollte. Schnell eroberte Moreno alias Cantinflas mit dieser Figur das Publikum, ständig kamen neue Filme heraus. Im Jahr 1978 jedoch gab er nur wenige öffentliche Auftritte, bis er eine Weile komplett von der Bildfläche verschwunden war. Während dieser Zeit hatte er sich in Vilcabamba aufgehalten, inkognito, in einem zwischen Bäumen versteckten Haus.
Im Ort erzählt man sich, die Ärzte seien mit ihrem Latein am Ende gewesen. Moreno habe Herzbeschwerden gehabt, und ein Aufenthalt in dem Tal war ihm als letzte Rettung erschienen. Und man erzählt sich weiterhin, dass die Jahre, die er anschließend noch auf der Bühne gestanden habe, ihm in Vilcabamba geschenkt worden seien: Die Erde habe seine Erschöpfung absorbiert und der Fluss seine Arterien geweitet.
Víctor Carpio bezeichnet Vilcabamba als »Zentrum für Herzimmunisierung« und »Beet des langen Lebens«. Die Einheimischen hätten alle ein gesundes Herz, behauptet er, und wer herzkrank das heilige Tal aufsuche, gesunde mit der Zeit. Wenn ich ihm nicht glaubte, solle ich ins Zeitungsarchiv gehen und nachlesen, wie Nadao Kimura, der persönliche Assistent des ehemaligen Premierministers von Japan, Nakasone Yasuhiro, völlig geschwächt |73|in Vilcabamba eintraf. Nach wenigen Schritten bekam er keine Luft mehr, sein Herz sei erschöpft gewesen. Die Herzinsuffizienz, gegen die man in Tokio nichts ausrichten konnte, sei in Vilcabamba innerhalb von achtunddreißig Tagen kuriert worden. Kimura sei darüber so glücklich gewesen, dass er den damaligen Präsidenten von Ecuador bat, seinem Heimatort den Namen Vilcabamba geben zu dürfen. Der Ort, an dem er geboren worden war, sollte genauso heißen wie der seiner Wiedergeburt.
Cantinflas und Kimura waren nicht die einzigen Berühmtheiten, die in Vilcabamba Linderung suchten. Es heißt, auch andere Stars hätten sich für längere Zeit im Dorf aufgehalten. Die Bösewichte berühmter Serien haben es den Einwohnern besonders angetan. Sie sagen, Larry Hagmans Gesundheit habe Schaden genommen, weil er als J. R. mit seinen schmutzigen Tricks den anderen in Dallas so zugesetzt habe. Deshalb sei er in das Tal gekommen, um sich zu regenerieren. Ähnlich sei es auch Jon Cypher ergangen, einem der Erzfeinde der Familie Carrington in Denver Clan. Jon hat in zahllosen Filmen und Fernsehserien mitgespielt und ist jetzt mit der Besitzerin des Madre Tierra verheiratet.
Als ich mit Lenin durch die Randgebiete des |74|Dorfes schlendere, habe ich die Gelegenheit, die Anwesen der Millionäre zu bewundern, die sich in Vilcabamba niedergelassen haben und sich darauf vorbereiten, den Rest ihrer Tage in dieser Gegend zu verleben. Es sind richtige Luxusvillen darunter mit allen vorstellbaren Annehmlichkeiten, Haushalte, in denen ganze Heerscharen von Ecuadorianern damit beschäftigt sind, die Zugezogenen zu versorgen. In der Bar El Punto erzählen die Hippies, die ihren Tand auf den Straßen feilbieten, es würden ausgerechnet diejenigen das Paradies suchen, die alles dafür tun, es zu zerstören.
Es fällt mir schwer zu glauben, dass Vilcabamba eine Art Naturklinik sein soll, in der die Menschen, einfach weil sie dort leben, Heilung finden. Auch wenn viele berühmte Leute darauf schwören, klingt es wie ein Märchen. Man müsste die Krankheitsgeschichten einmal genauer unter die Lupe nehmen. Viele Krankheiten lassen sich durch die sogenannte Chronotherapie kurieren; die Chronotherapie besteht darin, dass man die Zeit verstreichen lässt und darauf wartet, dass die Symptome von selbst verschwinden. Die Heilungsquote ist gut. Wie bei allen Therapien bedarf es allerdings auch hier einer genauen Indikation und der Überwachung durch einen Spezialisten.
Aus Víctors Erzählung ziehe ich noch einen |75|weiteren Schluss: Wären pseudowissenschaftliche Theorien Pflanzen, wäre Vilcabamba ein wuchernder Urwald. Doch die Hundertjährigen sind keine Erfindung. Man sieht sie im Dorf durch die Straßen gehen, die meisten von ihnen in guter körperlicher Verfassung.
Unser Wissen darüber, was ein längeres Leben begünstigt, greift an diesem Ort nicht. Obwohl sie Salz, tierisches Fett und Alkohol konsumieren, werden die Menschen hier vierzig Jahre älter als in unseren Breiten üblich. Deshalb zieht der Ort nicht nur Wissenschaftler, sondern mehr und mehr die Multimillionäre, die Gläubigen, die Politiker und die Heilsuchenden aus aller Welt an. Sie kommen, weil sie hoffen, ein längeres Leben zu finden, so wie man früher im Fernen Osten dem Gold und im Nahen Osten dem Öl nachjagte.