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In Vilcabamba ticken die Uhren anders. Nicht nur, dass die Menschen dort einhundertzehn, einhundertzwanzig oder gar noch älter werden, sie erfreuen sich zudem einer beneidenswerten Gesundheit. Dabei verhallen medizinische Ratschläge meist ungehört, vielmehr lassen die Bewohner des Dorfes eine gewisse Neigung zum Exzess erkennen: Es wird geraucht und gezecht, was das Zeug hält. Und trotzdem: In einem Alter, in dem unsereiner bereits deutliche Anzeichen von Verfall zeigt, bereitet man sich in Vilcabamba frohen Mutes auf die nächsten vierzig Jahre vor. Mit einhundertzwanzig versorgen sich die Menschen immer noch selbst. Wie sie das machen? Das ist das Geheimnis dieses Tals.

Die einen glauben, es sei die gute Luft, die anderen tippen auf das Wasser, die meisten halten eine ausgewogene Ernährung für des Rätsels Lösung. Allerdings martert sich in Vilcabamba niemand, um fit und gesund zu sein. Sich selbst kasteien oder auf |9|etwas verzichten für ein längeres Leben? Nicht in diesen Breiten.

Ich habe ein Ticket nach Quito und für den Anschlussflug in die Provinz Loja gebucht – der Weg in das heilige Tal ist weit. Dort werde ich in einer Art New-Age-Tempel im Herzen des Dorfes Quartier beziehen, um mir aus nächster Nähe ein Bild davon machen zu können, was uns erwartet, wenn der medizinische Fortschritt es uns eines Tages ermöglicht, ein so biblisches Alter zu erreichen wie die Einwohner von Vilcabamba.

Internationalen Erhebungen zufolge ist im Fürstentum Andorra und auf der japanischen Insel Okinawa die Lebenserwartung am höchsten – Orte, wo die Wirtschaft floriert und man einen geruhsamen Lebensstil pflegt. Doch diese Statistik wird in Vilcabamba locker überboten. Es gibt hier zehn Mal mehr Hundertjährige als irgendwo sonst auf der Welt. Und das, obwohl die Menschen bei geringen Einkünften ihr Leben lang hart arbeiten müssen und die hygienischen Verhältnisse katastrophal sind.

Ich werde die Reise nach Vilcabamba freilich nur dann antreten, wenn es der Gesundheitszustand meines Vaters erlaubt. Vielleicht bekomme ich heute, morgen oder in den nächsten Tagen einen Anruf, dass es ihm wieder schlechter geht und man |10|damit rechnet, dass es bald zu Ende geht. Wie so oft werde ich bis zum letzten Moment nicht wissen, ob ich tatsächlich aufbrechen kann. Ein Klassiker. Ich richte mich in allem nach dem Befinden meines Vaters, selbst wenn es sich um eine Verabredung am Samstagabend handelt.

Mein Vater ist schon seit langem schwerkrank. Er hat unzählige Krankenhausaufenthalte hinter sich, Stunden und Tage auf der Intensivstation, Herz- und Hirninfarkte, Nierenversagen. Und manchmal denke ich: Es ist unglaublich, mein Vater muss unsterblich sein.