KAPITEL 25
Daddy!«, schrie ich und rannte auf ihn zu,
um ihn zu umarmen.
Dass er überrascht war, mich aus einem Mercedes
steigen zu sehen, war eine dreiste Untertreibung. Ähnlich
überraschend war für ihn wohl auch die Heftigkeit, mit der ich ihn
begrüßte.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Jane?«, erkundigte
er sich besorgt. »Was ist denn passiert?«
Ich schluckte das überwältigende Gefühl der
Erleichterung hinunter, das mich beim Anblick meines Vaters und
meines Zuhauses überkam, und setzte stattdessen ein strahlendes
Lächeln auf. »Ach, alles in Ordnung, Dad«, sagte ich, als ich
meiner Stimme schließlich wieder trauen konnte. Der Fahrer hatte
mein Gepäck bereits vom Rücksitz geholt und stellte es auf unserer
Veranda ab, bevor er leise davonfuhr.
»Warum hat Ryu dich denn nicht zurückgefahren?«,
fragte mein Vater besorgt.
»Ach, ihm ist etwas dazwischengekommen. Aber mach
dir keine Sorgen, Ryu war toll. Die ganze Reise war toll.« Ich
hielt inne und sammelte mich. »Ehrlich, Dad, alles ist super
gelaufen, und Ryu hätte mich wirklich nicht besser behandeln
können. Aber er musste aus geschäftlichen Gründen in Quebec
bleiben, also hat er mich mit dem Wagen zurückbringen lassen. Das
Auto war sowieso bequemer als sein eigenes.«
Mein Vater sah mich weiterhin prüfend an, als wolle
er mich noch mehr fragen. Da wurde ich misstrauisch. Wie viel
wusste er über meine Mutter und ihre Welt? Er musste zumindest
irgendetwas geahnt haben, aber ich wusste nicht, was dieses
irgendetwas mit einschloss.
»Dad?«, fragte ich behutsam. »Möchtest du mich noch
irgendetwas fragen?«
Er zuckte zusammen und wich ein wenig vor mir
zurück. Er setzte an, etwas zu sagen, und sein Kinn bewegte sich
ein paar Sekunden lang hilflos, bevor er innehielt. Dasselbe
wiederholte sich ein paar Sekunden später noch einmal.
Doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Jane«,
sagte er schließlich. »Da ist nichts, was ich dich fragen
möchte.«
Ich konnte ein leichtes Gefühl der Enttäuschung
nicht unterdrücken. Ich hatte natürlich nicht vorgehabt, meinen
Vater mit der Wahrheit über die Existenz meiner Mutter zu
konfrontieren, aber nun, da sich beinahe die Chance dazu ergeben
hatte, wurde mir klar, wie sehr ich mir wünschte, ihm alles
erzählen zu können. Aber wenn er es nicht wissen wollte, würde ich
ihm die Wahrheit nicht aufdrängen. Er hatte schon genug
Enttäuschungen erlitten.
Ich musste eine Weile danach suchen, aber
schließlich fand ich ein Lächeln für meinen Vater, das er
erleichtert
erwiderte. »Also, was habe ich verpasst?«, erkundigte ich mich, um
das Thema zu wechseln. Er ließ sich dankbar darauf ein und erzählte
nur zu bereitwillig, was während meiner Abwesenheit passiert war.
Was nicht gerade viel war, doch mein Vater und ich waren Meister
darin, damit ein Gespräch zu bestreiten.
Nachdem wir Neuigkeiten ausgetauscht und zu Abend
gegessen hatten, ging ich nach oben, um auszupacken. Doch zuerst
legte ich mich in mein Bett aus Kindheitstagen und war noch nie im
Leben so glücklich darüber. »Ich liebe dich, Rockabill«, dachte
ich, überrascht darüber, wie ernst ich es meinte. Stuart und Linda
würden nie mehr so furchteinflößend sein. Nicht nach sechs Meter
langen Schlangen, einem Minotaurus und allem, was ich an diesem
Wochenende erlebt hatte.
Der Morgen nach dem Kampf war schrecklich gewesen.
Glücklicherweise waren alle, die ich im Verbund mittlerweile kannte
- außer Jimmu natürlich - in Sicherheit. Wally war anscheinend
immun gegen die meisten Todesformen, also war mit ihm alles in
Ordnung. Orin und Morrigan waren nie in Gefahr gewesen, da ihre
Untertanen dafür gesorgt hatten, dass ihnen niemand zu nahe kam.
Und was Elspeth betraf, die war zu dem Zeitpunkt nicht einmal in
der Halle gewesen - sie hatte sich nämlich mit einem der
Nahual-Akrobaten, die beim Abendessen am Tag zuvor aufgetreten
waren, vergnügt. Die Artisten waren alle außergewöhnlich biegsam
gewesen, und ich nahm an, dass sie in vielerlei Hinsicht eine sehr
glückliche Frau - oder ein sehr glücklicher Baum - war.
Andererseits, wenn ich an Elspeths unglaubliche
Geschmeidigkeit
dachte, war der Nahual-Akrobat vielleicht der Glücklichere. »Für
einen Baum ist sie ziemlich wenig hölzern«, stellte ich fest und
dann lachte ich über meinen eigenen Witz, weil ich manchmal eben
ein echter Idiot war.
Doch dass meine Freunde alle in Sicherheit waren,
war dann auch schon die einzige gute Nachricht gewesen. Die Zahl
der Todesopfer war erschreckend hoch, besonders wenn man in
Betracht zog, dass es so wenig Nachwuchs gab, der den Platz seiner
Eltern in der Gemeinschaft einnehmen konnte. Abgesehen von den neun
Nagas waren dreiundzwanzig andere Wesen so schwer verletzt worden,
dass sie nicht mehr gerettet werden konnten. Den Reaktionen der
Höflinge entnahm ich, dass dies ein enorm schwerer Schlag für das
gesamte Territorium war, und natürlich war es ein schreckliches
persönliches Unglück für die Angehörigen und Freunde der
Opfer.
Besonders bedenklich war jedoch, dass einige der
Getöteten offenbar auf der Seite der Naga statt gegen sie gekämpft
hatten. Der Kampf hatte einen tiefen Riss innerhalb der
Gemeinschaft offenbart, von dem vorher niemand etwas geahnt hatte,
und dieser Riss hatte etwas mit der Existenz von Halblingen wie mir
zu tun. In seiner Funktion als Ermittler würde Ryu in den nächsten
Monaten sehr viel zu tun haben, um die faulen Stellen innerhalb der
Gemeinschaft zu finden. Und ich in meiner Funktion als »blöde
Halblingsschlampe«, die die ganze Sache überhaupt erst losgetreten
hatte, hatte mich besser so schnell wie möglich aus dem Staub
gemacht.
Ryu hatte sich tausendmal entschuldigt und mich
dann in den Leihwagen gesetzt. Ich hatte absolut nichts gegen
diesen überstürzten Rückzug einzuwenden gehabt. Mehr noch, ich
hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal so froh sein würde,
wieder nach Rockabill zurückzukehren. Und jetzt, sicher in meinem
eigenen Bett, hätte ich vor Erleichterung heulen können.
Nach einer Weile stand ich doch noch einmal auf, um
meine Tasche auszupacken. Ich hängte die noch sauberen Klamotten
zurück in den Schrank und warf den Rest in den Wäschekorb.
Schließlich war nur noch die große, weiße Schachtel und ihr Inhalt
übrig.
Am Ende hatte ich meine Schuhe doch noch verloren.
Anscheinend musste man mich erst fast erwürgen, damit ich mich von
einem Paar schicker High Heels trennte. Doch am nächsten Tag waren
sie wie von Zauberhand wieder aufgetaucht und standen vor der
Eingangstür zu unserer Suite. Ich holte die Schuhe aus der
Schachtel und stellte sie in meinen Schrank. Dann nahm ich auch das
Kleid heraus.
Unglaublich, dass es noch ganz war, wenn man
bedenkt, wie zart das Material war und was ich darin durchgemacht
hatte. Außer natürlich, dass es über und über mit Blutspritzern
besudelt war. Es war Eds Blut, Ed, den Nyx entführt hatte und der
sterben musste, weil er zwischen mich und Jimmu geraten war.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett und
hielt das Kleid hoch. Es war so schön, ich sollte es reinigen
lassen. Doch stattdessen faltete ich es vorsichtig zusammen und
verstaute es wieder in der glänzenden Schachtel. Die Blutflecke
sollten mich an das erinnern, was ich nicht vergessen durfte: dass
hinter dem ganzen Glanz und dem Spektakel in der Welt meiner Mutter
eine dunkle Wahrheit lauerte.
Menschliches Leben bedeutete den Alfar nichts. Für die meisten von
ihnen waren wir bloß ein entbehrlicher Störfaktor.
Und, ob es mir nun gefiel oder nicht, ich war zur
Hälfte ein Mensch - eine Tatsache, die ich nie vergessen könnte.
Wesen wie Nyx oder Jarl würden es mich sowieso nie vergessen
lassen, aber das wollte ich auch gar nicht. Bis vor kurzem hatte
ich es für selbstverständlich gehalten, ein Mensch zu sein, und nun
klammerte ich mich an diesen Gedanken wie andere an einen
Verdienstorden.
Nachdem ich alles ausgepackt und eine Ladung Wäsche
in die Maschine gesteckt hatte, tat ich, was ich Ryu versprochen
hatte, und rief ihn an, um ihm zu sagen, dass alles in Ordnung war.
Wir unterhielten uns nur kurz; er klang erschöpft, und wir hatten
uns ja heute Morgen erst gesehen. Aber er versprach, mich besuchen
zu kommen, sobald sich alles wieder ein wenig beruhigt hatte. Er
sagte auch, er werde mich nächste Woche anrufen und dass ich mich
in der Zwischenzeit melden solle, falls ich irgendetwas brauche.
Nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, fühlte ich mich ganz warm und
wohlig, nicht zuletzt, weil ich ihn mir die ganze Zeit kämpfend mit
seinem Schwert vorgestellt hatte. Ich wusste, dass ich bei Gewalt
eigentlich nicht ins Schwärmen geraten sollte, aber die Vorstellung
machte mich einfach an.
Dann rief ich Grizzie und Tracy an, um ihnen von
Quebec zu erzählen. Das schmückte ich ein wenig aus, damit es so
klang, als habe dieser Teil der Reise die ganze Woche gedauert. Ich
versprach, ihnen am nächsten Tag in der Arbeit Fotos zu zeigen. Ich
freute mich schon sehr darauf, meine
beiden Freundinnen wiederzusehen, die ich schrecklich vermisst
hatte.
Als Grizzie sich verabschiedete, um das Abendessen
zu kochen, fragte Tracy mich am Telefon, wann ich Ryu wiedersehen
würde.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte ich
wahrheitsgemäß. »Ich weiß, dass er mich wirklich gern hat, aber
während wir weg waren, haben sich Dinge ergeben, die ihn in
nächster Zeit ziemlich beschäftigen werden. Also, mal sehen, was
weiter passiert.«
»Und du bist sicher, dass das alles okay für dich
ist?«, erkundigte sich Tracy.
»Nein«, antwortete ich und war davon selbst am
meisten überrascht. Ich hatte gewusst, dass ich mich irgendwann mit
allem, was ich während der letzten Woche erlebt hatte,
auseinandersetzen musste, aber ich hatte nicht erwartet, dass es
mich treffen würde wie ein Karateschlag. »Ich muss über vieles
nachdenken, Tracy. Aber nicht wegen Ryu. Er war wirklich toll.«
Plötzlich spürte ich, wie müde ich war. »Hör zu, ich muss jetzt
Schluss machen. Wir sehen uns morgen.«
Sie wünschte mir eine gute Nacht, und ihre Stimme
verriet, wie besorgt sie um mich war.
Nachdem die letzten Lichtstrahlen des Tages am
Himmel erloschen waren, machte ich mich auf den Weg zu meiner
Bucht. Als Tracy mich gefragt hatte, ob ich okay war, war meine
erste Intention gewesen, Ja zu sagen. Aber die letzten acht Jahre
lang hatte ich mir selbst gesagt, dass es mir nie wieder gutgehen
durfte. »Oh, Jason«, dachte ich, als ich unseren geheimen Ort
betrat, eine verborgene Welt, in der
wir gelacht und uns geliebt und entdeckt hatten, auf eine Art und
Weise, wie es nur wenige Menschen je erlebten. Durch Jason wusste
ich, was Liebe war, und weil ich das wusste, wusste ich, wer
ich war.
Ich kniete mich in den Sand und schaute hinaus aufs
Meer. Ich hatte die ganze Woche lang nicht an Jason gedacht, und
ich hatte mich lebendig gefühlt. Trotz des ganzen Wahnsinns,
der passiert war, hatte es Momente während meiner Reise mit Ryu
gegeben, die zu den glücklichsten seit Jasons Tod zählten. Kaum
hatte ich mir das eingestanden, machte sich der Splitter, der in
jener schrecklichen Nacht hier in der Bucht in mir festgefroren
war, wieder bemerkbar, und es fühlte sich an, als hätte ich Jason
ein zweites Mal getötet.
Heiße, schwere Tränen tropften mir von den Wangen.
Ich wollte so verzweifelt endlich nach vorne schauen und wieder
leben. Während der letzten Woche hatte sich ein Pfad für mich
aufgetan. Ich musste nur mutig genug sein, ihm auch zu folgen. Und
dennoch konnte ich im Moment an nichts anderes denken als an all
das, was ich dann zurücklassen und dem ich mich stellen müsste. Ich
sträubte mich dagegen, all die Gedanken zuzulassen, die ich sonst
jeden Tag verdrängte. Meine Hände gruben sich krampfartig in den
Sand, als die Erinnerung an Jason mich überflutete: wie wir in der
Bucht Prinz und Prinzessin gespielt hatten und er mich vor dem
großen Stück Treibholz »rettete«, das wir immer als Bank benutzten,
wenn es in unserer Fantasie nicht zum Bösewicht mutierte; wie wir
uns zum ersten Mal auf eine Weise küssten, die sich nicht anfühlte
wie der Kuss zwischen Bruder und Schwester, und wie diese ersten
tastenden Küsse schließlich in einer Intimität mündeten, die
zwischen zwei so jungen Menschen eigentlich gar nicht möglich sein
sollte; wie wir in unserem Kummer zusammenhielten und erkannten,
dass uns das Wissen zusammenschweißte, dass es im Leben keine
Garantie gibt und keine Trostpreise. Aber trotz der Verluste, die
wir damals schon verwinden mussten, hatte ich niemals damit
gerechnet, dass auch er mir genommen werden könnte. Das war
undenkbar gewesen - bis es passierte.
Ich war so verzweifelt, dass ich nicht einmal
versuchte, mein Schluchzen zu unterdrücken. Da hörte ich das
Geräusch von großen Pfoten im Sand hinter mir. Ich war froh, dass
mein Besucher als Hund gekommen war. In dieser Form kam ich besser
mit ihm zurecht.
Anyan setzte sich neben mich in den Sand, ließ mich
jedoch in Ruhe, versuchte nicht, mich zu berühren oder irgendwie
einzugreifen, bis ich mich völlig ausgeweint hatte. Nachdem sich
das letzte bebende Schluchzen aus meiner Brust gelöst hatte und
meine Tränen versiegt waren, sagte er schließlich: »Er würde
wollen, dass du weiterlebst. Wenn er dich wirklich geliebt hat -
und du weißt, dass er das hat -, dann würde er wollen, dass du
weiterlebst.«
Meine Kehle fühlte sich so zugeschnürt an wie in
der Nacht, als Jarl mich angegriffen hatte. Ich hatte die
verschiedensten Versionen dieses Satzes schon tausendmal gehört,
von meinem Vater, von Grizzie, von Tracy, von meinen Ärzten und
Krankenschwestern, von Seelenklempnern und sogar von irgendwelchen
Fremden. Aber es aus Anyans Mund zu hören und die Art und Weise,
wie er es sagte, riss die Barrieren ein, die ich über Jahre
feinsäuberlich aufgerichtet hatte.
Ich dachte daran, wie sehr ich Jason geliebt hatte.
Ich liebte ihn nicht nur für das, was er mir gab, oder für das, was
ich mir mit ihm aufbauen wollte, sondern weil Jason eben Jason war.
Ich liebte ihn, weil er gütig und großzügig war und weil er so
lebte, dass er andere mit seinem Glück ansteckte. Wenn ich
gestorben wäre und Jason noch leben würde, dann hätte ich nicht
gewollt, dass er sich ändert. Ich hätte gewollt, dass er glücklich
ist. Weil er ein großartiger Mann war, und weil ich ihn
liebte.
Ich wusste, dass Anyan Recht hatte. Jason hätte
gewollt, dass ich weiterlebe, weil er eben Jason war.
Ich hatte wieder angefangen zu weinen, aber diesmal
mit einem vagen Gefühl der Erleichterung. Ich gestand mir endlich
ein, dass es in Rockabill zwar Menschen gab, die es mir nicht
leichtmachten, aber dass nicht sie es waren, die mich an meine
Trauer fesselten und mich in meiner Vergangenheit gefangen hielten,
sondern ich selbst.
Ich würde nie aufhören, Jason zu lieben, und ich
würde nie vergessen, welche Rolle ich ungewollt bei seinem Tod
gespielt hatte. Doch in diesem Moment, als ich meine Hände im Sand
unserer Bucht vergrub, in der wir uns mit solcher Leidenschaft
geliebt hatten, und ich das beruhigende Rauschen des Meeres hörte,
das mir flüsternd von Vergebung erzählte, verstand ich endlich die
tiefere Bedeutung unserer großen Liebe.
»Finde Frieden, mein Geliebter. Es ist Zeit für
uns, die Dinge ruhen zu lassen...«
Anyan neigte den Kopf neben mir, und seine weiche
Zunge streifte meine Fingerknöchel. Es gelang mir, ihm in sein
großes Hundegesicht zu lächeln. Plötzlich wollte ich
meine Arme um seinen Hals schlingen. Ich vergrub meine Nase in
seinem dichten Fell. Er roch nach warmem, sauberem Hund mit einem
Hauch Zimt. Gutmütig duldete er, dass ich mich eine Minute lang an
ihn klammerte, bevor er sich langsam aus meiner Umarmung löste und
mir die letzten, langsam versiegenden Tränen von den Wangen
leckte.
Unsere Blicke trafen sich, und zum ersten Mal seit
langer Zeit lächelte ich aus vollem Herzen.
»Geh schwimmen, Jane«, sagte er und stupste mich
mit seiner Schnauze in Richtung Wasser. »Nell will morgen mit
deinem Training beginnen. Dafür brauchst du so viel Energie wie
möglich.«
Aufgeregte Vorfreude überkam mich bei dieser
überraschenden Ankündigung. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass
sich die Dinge so schnell entwickeln würden. »Mein Training...«,
dachte ich. »Morgen fange ich mit dem Training an.« Was genau ich
dabei lernen würde, war mir zwar ein Rätsel, aber allein der
Gedanke, bald die Kraft nutzen zu können, die ich jetzt schon unter
meiner Haut pulsieren spüren konnte, verschlug mir die
Sprache.
Ich musste an die Tricks denken, die ich bei Ryu
und all den anderen gesehen hatte: die Magielichter, die Sache mit
der Aura, die Lichtschwerter, mit denen man Tiger zweiteilen
konnte. Nicht, dass ich den Wunsch hegte, Tiger zu zerlegen, aber
trotzdem. Die Vorstellung, dass ich eines Tages vielleicht nur ein
Viertel von alldem beherrschen würde, faszinierte mich. Ich konnte
es kaum erwarten, herauszufinden, welche Fähigkeiten ich
hatte.
»Wow«, hauchte ich und träumte bereits davon, dass
beim nächsten Mal, wenn Ryu mich an den Strand mitnehmen
würde, um mich mit Picknick und Nacktbaden zu verführen, ich
diejenige sein würde, die die Magielichter entzündete. Wer weiß,
vielleicht bekam ich ja sogar eine Diskokugel hin.
Boom tschaka boom boom, schaltete sich meine
Libido mit ihrer besten Imitation eines
Siebzigerjahre-Porno-Soundtracks ein.
»Und das nächste Mal, wenn dich ein fieser Elb am
Hals packt, kannst du dir selbst den Arsch retten«, dachte ich, um
mich auf andere Gedanken zu bringen.
Ich zog meine Chucks und die Socken aus und machte
mich daran, meine Hose auszuziehen. Erst als ich sie schon fast bis
zu den Knien heruntergezogen hatte, fiel mir etwas ein.
Anyan sah mich mit seinen sturmgrauen Augen
unschuldig an.
»Böser Hund«, schimpfte ich, »kusch!«
Er stieß ein knurriges Lachen aus, das wenig mit
dem vollen Gelächter, an das ich mich von ihm in Menschenform
erinnerte und das mir einen wohligen Schauder durch den Körper
gejagt hatte, zu tun hatte. Er erhob sich und schüttelte sich den
Sand aus dem Fell.
»Wir sehen uns, Jane. Arbeite hart und tu, was Nell
dir sagt.« Er sah mich lang und eindringlich an, und plötzlich
fühlte ich mich verunsichert.
»Ja, Boss«, sagte ich scherzend, um die angespannte
Stimmung zu vertreiben. Darauf lachte er wieder und verschwand
durch die Felsspalte, die in die Bucht führte.
Ich streifte rasch die restlichen Sachen ab und
rannte in den Atlantik. Er bäumte sich zu meiner Begrüßung auf, zog
mich an sich und erfüllte mich mit seiner kühlen Kraft. Ich ging
in seinen Wogen auf, tanzte in seinen Strömungen und sog seine
Energie in mich auf.
»Sollen sie doch kommen«, dachte ich über Jarl und
Nyx und alle anderen, die wie sie annahmen, ich sei schwach. »Denn
das nächste Mal bin ich vorbereitet.«