KAPITEL 4
Ich erwachte, weil etwas Warmes, Feuchtes
an meinem Gesicht leckte, und der scharfe Geruch von Zahnpasta
stieg mir in die Nase. Meine Augen verweigerten noch den Dienst,
und alles, was ich erkennen konnte, war ein großer, zotteliger
Umriss über meinem Kopf. Als meine Pupillen sich dann langsam
scharf stellten, erkannte ich, dass etwas meine Platzwunde sauber
leckte. Es fühlte sich unglaublich beruhigend an, bis ich begriff,
dass die fragliche Zunge zum Maul des schwarzen Höllenhundes
gehörte, der mich durch den Wald gehetzt hatte. Ich gab einen
erschrockenen Laut von mir und versuchte, mich aufzurappeln. Aber
dadurch kam ich mit dem Gesicht nur noch näher an das Maul des
Köters heran und stieß mich an seinen riesigen Zähnen, so dass
meine Wunde wieder zu bluten anfing.
»Top Taktik, Jane«, dachte ich noch, als sich alles
zu drehen begann und ich mit einem dumpfen Aufprall wieder nach
hinten kippte.
Ein Gesicht waberte in mein Blickfeld. Es gehörte
weder
zu dem riesigen Hund noch zu der netten alten Dame mit dem großen
Haarknoten. Das Wesen hatte schmutzbraune Augen und dicke grüne
Haarlocken wie Seetang.
Ihre Haut, denn ich hielt sie für eine Sie,
schillerte perlgrau, und sie hatte eine eigenartig flache Nase, die
sich kaum aus ihrem Gesicht erhob.
Was auch immer sie sein mochte, ein Mensch war sie
jedenfalls nicht.
Aber sie konnte sprechen.
»Lass ihn deine Wunde heilen«, sagte sie mit einer
unangenehm öligen Stimme, die wenig dazu beitrug, meine Angst zu
zerstreuen.
Der Klang ließ mich erstarren, und obwohl ich ihre
Anweisungen eigentlich nicht befolgen wollte, spürte ich wieder die
raue Zunge des großen schwarzen Hundes an meiner Augenbraue.
Hilflos lag ich auf dem Boden und fühlte mich so
unwohl und nervös wie noch nie, während der Hund weiter sanft meine
Stirn ableckte. Das graugesichtige Wesen grinste mich eigenartig
verschlagen an und streckte dann seine Hand nach mir aus, um mir
den Arm zu tätscheln.
Das ist gar kein Grinsen, bemerkte ich.
Es soll ein Lächeln sein. Die seltsame Frau versuchte, mich
zu trösten, was ungefähr so effektiv wie der stählerne Klammergriff
einer eisernen Jungfrau war.
Der Hund hatte aufgehört, meine Braue zu lecken,
die sich, das musste ich zugeben, schon viel besser anfühlte. Aber
jetzt war er dabei, das Blut abzulecken, das mir aus der Wunde
übers Gesicht gelaufen war, und fuhr dann an meinem Hals und am
Ausschnitt meines T-Shirts fort.
»Okay«, sagte ich mit einer Stimme, die bestimmt
klingen sollte. »Aus.«
Ich streckte meine Arme aus und stieß den großen
Hund zaghaft weg. Er rückte etwas von mir ab und wackelte mit dem
Schwanz, was auf höllenhündisch wohl so viel hieß wie: »Keine
Sorge, ich bin schon satt von deinem leckeren Blut, also werde ich
dich nicht fressen … zumindest nicht heute.«
Die graue Frau fasste mich fest am Arm und half
mir, mich aufzusetzen. »Halloho, Süße«, dachte ich, als ich einen
kurzen genaueren Blick auf sie geworfen hatte, denn sie war
ziemlich nackt und ziemlich offensichtlich weiblich. Und an ihren
ebenso nackten Füßen entdeckte ich Schwimmhäute und dicke schwarze
Zehennägel.
Sie war definitiv nicht menschlich.
»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte sie mich mit
ihrer öligen Stimme, meinen Arm weiterhin fest umklammert
haltend.
»Ja, ich glaube schon.« In dem Moment hätte ich
alles gesagt, nur damit sie mich endlich losließ.
Sie grinste, nein, lächelte mich wieder an und
schlenderte zu der winzigen Oma im Schaukelstuhl hinüber. Dort
angekommen, setzte sie sich ohne jede Rücksicht auf Schicklichkeit
im Schneidersitz hin, so dass ich freie Sicht auf ihren Schoß
hatte.
»Sie hat Schamhaare aus Seetang«, stellte mein
Gehirn wenig hilfreich fest. Ich blinzelte und ließ den Blick
stattdessen über meine kleine Bucht schweifen.
Der geheime Streifen Strand, der mir früher so
vertraut gewesen war wie mein eigenes Kinderzimmer, wirkte
plötzlich völlig fremd. Als wäre der riesige Höllenhund, die
Zwergen-Oma und Fräulein Seetang-Muschi noch nicht genug, schwebte
etwa zwei Meter über dem Kopf der alten Dame eine große Glühbirne.
Ich konnte nirgendwo ein Kabel erkennen, aber sie hing dort oben
wie ein Kronleuchter und tauchte meine kleine Bucht in ein
unheimliches Licht.
Ich spürte, wie es mir kalt den Rücken
hinunterlief, und starrte völlig entgeistert die rundliche alte
Dame im Schaukelstuhl an.
Sie strahlte mich an, was mir aber ein kein
bisschen besseres Gefühl gab.
»Es ist so schön, dich endlich kennenzulernen,
Jane«, sagte sie. »Anyan hat uns schon so viel von dir
erzählt.«
Der Hund jaulte wieder leise und streckte sich
bedrohlich nah neben mir aus, während die alte Dame mich weiter
anlächelte und ganz offenbar auf eine Antwort von mir
wartete.
»Ich freue mich auch, äh, Sie kennenzulernen?«,
sagte ich zögerlich, denn ich war nicht sicher, was ich hier
eigentlich sollte. Würden wir jetzt Tee trinken und
Hühnchensandwiches essen wie zwei feine Damen beim gemeinsamen
Mittagessen, oder wollten sie mich eigentlich nur ihren grausamen
Göttern opfern? Falls sie darauf hofften, dass ich noch Jungfrau
war, dann musste ich sie leider enttäuschen …
»Mir ist klar, dass du verunsichert sein musst,
weil du nicht weißt, was hier vor sich geht, aber keine Angst, du
bist hier absolut sicher«, sagte die winzige Alte. »Ich bin Nell
und das …«, sie zeigte auf die graue Seetang-Frau, »ist Trill.«
Trill schenkte mir wieder ihr verschlagenes Grinsen, aber nun, da
sie einen Namen hatte, wirkte auch das nicht mehr ganz so
beängstigend auf mich.
»Anyan hast du ja schon kennengelernt«, sagte sie
und zeigte auf den riesigen Hund. Wieder schien sie eine Reaktion
von mir zu erwarten.
»Er hat ziemlich frischen Atem«, sagte ich. Es war
das Erste, was mir in den Sinn kam. »Ich meine, für einen Hund …«,
präzisierte ich.
»Ja«, antwortete sie und grinste noch breiter,
falls das überhaupt möglich war. »Er ist sehr reinlich. Und bei
deiner Stirn hat er ganze Arbeit geleistet.«
Ich tastete mit der Hand über meine Augenbraue und
konnte dort keine Wunde mehr spüren. Die Verletzung war völlig
verschwunden, nur wenn ich fester drückte, war die Stelle noch
etwas schmerzempfindlich. »Was zum Teufel?«, dachte ich und starrte
den Hund misstrauisch an. Wie zur Antwort wedelte Anyan mit dem
Schwanz und streckte sich im Sand aus. Für einen Höllenhund wirkte
er jetzt so niedlich, dass ich fast lächeln musste. Er sah mich an,
und ich hätte wetten können, er zwinkerte mir zu. Aber
wahrscheinlich hatte ich mir den Kopf nur härter angeschlagen als
angenommen. Apropos …
»Warum war er überhaupt hinter mir her?«, fragte
ich und musste wieder an meine panische Flucht durch den Wald
denken. »Wenn die drei hier so nett waren, warum haben sie mich
dann erst in Todesangst versetzt und in Kauf genommen, dass ich mir
beinahe selbst den Schädel einschlage?«
»Das tut uns leid«, hörte ich Trill mit glitschiger
Stimme sagen, als habe sie meine Gedanken erraten. »Es ist nur so,
dass der erste Kontakt immer ein wenig heikel ist. Normalerweise
überstürzen wir es auch nicht gar so, aber wir
konnten nicht länger warten. Wir mussten dich noch heute Nacht
treffen. Und heute treibt sich alles Mögliche im Wald herum, also
mussten wir ein wenig Aura zu Hilfe nehmen, um dich
hierherzulotsen.«
Sie sah mich an, als müsste ich verstehen, was sie
sagte. Also starrte ich einfach verständnislos zurück. Langsam
wurde mir dieses Spielchen wirklich zu bunt.
»Hören Sie, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon
Sie sprechen. Da müssen Sie mir schon etwas auf die Sprünge helfen.
Ich nehme mal an, dass Sie mit Aura keine Frauenzeitschrift
meinen. Welcher erste Kontakt? Und was meinen Sie bitte
schön überhaupt mit Aura?«
Jetzt, da ich angefangen hatte, Fragen zu stellen,
fiel mir plötzlich die naheliegendste ein. »Und was für komische
Wesen seid ihr überhaupt?«
Nell und Trill sahen sich vielsagend an, bis Nell
schließlich meinte: »Wie viel hat dir deine Mutter denn erzählt von
sich und… ihrer Familie?«
Jetzt war ich völlig baff. Mit nichts hätte ich in
diesem Moment weniger gerechnet, als dass sich dieses eigenartige
Gespräch plötzlich um meine geheimnisvolle Mutter und ihre
unbekannte Herkunft drehen würde.
»Von ihrer Familie? Gar nichts. Sie war
offensichtlich zu sehr damit beschäftigt, mich im Stich zu lassen,
als dass sie die Zeit gehabt hätte, mir von ihrer Verwandtschaft zu
erzählen«, sagte ich spitz. Okay, na und, dann war ich eben
verbittert.
Nell seufzte. »Dann ist es natürlich noch
komplizierter.« Sie hatte denselben angestrengten Gesichtsausdruck
wie meine Lehrer früher, wenn wir irgendeine Sache nicht verstanden
und sie wussten, dass sie nun die ganze Stunde damit verbringen
mussten, es in Idiotensprache zu übersetzen.
»Deine Mutter war wie wir nicht richtig …
menschlich«, sagte Nell schließlich. »Sie war eher … so wie Trill
hier.«
Ich verzog das Gesicht. Ich war zwar erst sechs
Jahre alt gewesen, als meine Mutter verschwunden war, aber ich
konnte mich sehr wohl daran erinnern, dass sie weder grau noch
glitschig noch seetangig gewesen war. Im Gegenteil - sie war
wunderschön. Und was sollte das bitte schön heißen: nicht
menschlich? Na gut, Trill war ganz offensichtlich kein Mensch, aber
meine Mutter war ebenso offensichtlich nicht wie sie gewesen, ergo
war meine Mutter auch nicht nicht menschlich. Ja, okay, ich
gebe es zu, ich hatte Rhetorik nur im Nebenfach.
»Na gut, nicht ganz«, riss Trill mich aus meinen
spitzfindigen Gedanken. »Ich bin eine Kelpie, und deine Mutter ist
eine Selkie. Wir sind ziemlich verschieden.«
»Na großartig!«, dachte ich vollkommen entnervt.
Jetzt treffe ich endlich einmal Leute, die behaupten, etwas über
meine Mutter zu wissen, und dann sprechen sie bloß in
Rätseln.
»Könnt ihr bitte von vorne erzählen?«,
zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Da ergriff Nell das Wort, ganz die Stimme der
Vernunft. »Kelpies«, erklärte sie, »sind Formwandler, bimorphe
Wesen genau wie Selkies, die eine menschliche und eine Tierform
annehmen können, oder wie Kelpies eben eine menschenartige und eine
tierische Form. Trill hier wird dann zu einer Art Seepferdchen, nur
größer. Deine Mutter war eine Selkie; ihre zweite Gestalt war die
einer Seerobbe.«
»Verdammt!«, dachte ich. Natürlich hatte ich den
Kinderfilm Das Geheimnis des Seehundbabys gesehen. Wenn das,
was die winzige Frau behauptete, stimmte, dann würde das einiges
erklären …
Beim Gedanken, dass das plötzliche Verschwinden
meiner Mutter endlich plausibel wurde, fing mein Herz hoffnungsvoll
an zu klopfen, aber schon schaltete sich mein Sinn für Realität ein
und zerstreute alle meine zaghaften Hoffnungen wieder. Wie blöd war
ich eigentlich, so einen Schrott zu glauben?
»Okay, das reicht jetzt«, sagte ich unwirsch. »Ich
bin sicher, dass Linda oder Stuart oder wer auch immer euch gut
dafür bezahlt hat, dass ihr hierherkommt und mich wie einen
Vollidioten aussehen lasst, jetzt ihren Spaß hatten. Ich wette, sie
haben euch ganz tolle Gründe genannt, warum man mich ruhig
verletzen darf und mir vorhalten kann, was für ein Monster ich doch
bin. Und dass ich es verdient habe, so behandelt zu werden. Und
wisst ihr was, damit haben sie sogar Recht. Aber man kann mich
nicht mehr verletzen. Ich wurde schon so sehr verletzt, schlimmer
geht es nicht mehr, und nichts, was ihr mir noch antut, kann so
schmerzvoll sein, wie Jason zu verlieren. Also, jetzt nehmt eurem
Hund schon die falschen Reißzähne raus, wascht euch eure Schminke
ab und geht zurück in euren Zirkus. Und vergesst die
Riesenglühbirne nicht. Ich hätte meine Bucht gerne wieder so, wie
sie vorher war.«
Ich erhob mich umständlich. Meine verkrampften
Beine waren immer noch etwas wackelig, aber ich bemerkte nicht ohne
Stolz die verblüfften Gesichter von »Trill« und »Nell«.
»Meine Mutter mag uns vielleicht verlassen haben,
aber
sie hat keinen Trottel großgezogen«, dachte ich selbstgefällig.
Doch dann hielt ich inne, als die Luft um Trill herum plötzlich zu
flimmern begann. Eine schillernde Blase umgab sie. Sie hatte
dieselbe Farbe wie ihre Haut, nur durchsichtiger. Sie sah aus, als
bestünde sie aus reiner Energie, und sie pulsierte leicht, genau
wie die Glühbirne über Nells Kopf. Unter der Oberfläche der grau
schimmernden Blase passierte etwas, das aussah, als würde sich
darin im Zeitraffer ein Fötus entwickeln.
Als die Blase dann ploppend platzte, befand sich
dort, wo soeben noch Trill gestanden hatte, ein seltsames graues
Pferdchen mit einer Mähne und einem Schweif aus Seetang. Seine
kleinen schwarzen Hufe hatten dieselbe Farbe wie Trills Zehennägel
vorher, und ihre schmutzigbraunen Augen sahen mich nun aus dem
Ponygesicht an. Ganz schwach waren die Kiemen am Hals des Tiers zu
erkennen.
Vor dem heutigen Tag war ich noch nie in Ohnmacht
gefallen, aber jetzt hatte ich das deutliche Gefühl, dass ich da
gleich noch einmal nachlegen würde.
Anyan schlich sich sofort näher an mich heran.
Vielleicht, um mich am Weglaufen zu hindern, falls ich es doch noch
schaffen sollte, mich aufzurichten, vielleicht aber auch, um mich
aufzufangen, sollte ich wieder das Bewusstsein verlieren. Ich war
froh, als die Hand, die ich um Gleichgewicht ringend ausstreckte,
Halt an einem kräftigen, zotteligen, erstaunlich hohen Hunderücken
fand. Er reichte mir bis zur Taille. Ich war zwar nur knapp einen
Meter sechzig groß, aber das Vieh war trotzdem riesig.
Ich ließ mich schwerfällig zurück in den Sand
fallen, und
Anyan postierte sich so hinter mich, dass ich nicht wegsacken
konnte.
Ungläubig beobachtete ich, wie sich die Blase noch
einmal um Trill herum ausdehnte, und mit einem weiteren Ploppen sah
sie wieder menschenähnlich aus.
Falls Lindas und Stuarts Komplott keine
Halluzinogene beinhaltete und man mich nicht in eine
Matrix-artige virtuelle Realität versetzt hatte, dann musste
das, was da gerade vor meinen Augen passierte, wahr sein. Vor Angst
lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, und ich musste mehr als
einmal durchatmen, um mich etwas zu beruhigen.
»Okay, Jane«, befahl ich mir, »reiß dich zusammen.
Was auch immer diese Wesen hier sind, der Höllenhund hätte dich
schon längst zerfleischen können, hat es aber nicht getan, also
kannst du wohl davon ausgehen, dass sie dich lebend wollen. Und
auch wenn dir nicht gefällt, was sie zu sagen haben, erfährst du
durch sie zumindest etwas über deine Mutter.« Dieser Gedanke gab
mir neuen Mut, also hielt ich mich an ihm fest. »Zum ersten Mal in
deinem Leben triffst du jemanden, der dir die Wahrheit über deine
Mutter erzählen kann«, dachte ich. Mittlerweile atmete ich schon
wieder ruhiger, und auch wenn ich mich nicht gerade fantastisch
fühlte, so war ich doch zuversichtlich, dass ich den Geschehnissen
hier nun ins Auge blicken konnte.
Anyan fuhr mir mit seiner weichen Zunge über die
Wange, und ich konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Es war schon
erstaunlich, wie sensibel Tiere auf die Stimmung von uns Menschen
reagierten. Man konnte meinen, er begriff, wie schwer das alles für
mich war.
»Also gut …«, sagte ich und sah zu Nell hinüber.
Trill
anzuschauen vermied ich lieber, denn nach ihrer kleinen
Verwandlungseinlage stockte mir bei ihrem Anblick immer noch der
Atem. Vielleicht wäre das eine oder andere Gläschen Jack Daniels
jetzt ganz hilfreich gewesen. »Ihr seid also nicht … menschlich.
Und es hat euch auch keiner geschickt, um mir eins auszuwischen.
Also was seid ihr dann, und warum seid ihr hier? Was habt ihr mit
mir und meiner Familie zu schaffen?«
Meine Stimme zitterte nicht. Ich war stolz auf
mich.
Verdammt, Nell strahlte immer noch vor sich hin wie
das Werbegesicht auf einer Sirupflasche. »Du schlägst dich wirklich
ganz tapfer, Jane«, sagte sie, und ich konnte mir gerade noch
verkneifen, ihr den Mittelfinger zu zeigen. »Wie schon gesagt,
deine Mutter war eine Selkie, eine Formwandlerin, die sowohl in der
Form eines Seehundes und eines Menschen in Erscheinung treten
konnte. Aber sie ist weder Mensch noch Robbe, sondern ein
übernatürliches Wesen.«
Ich grunzte. Das war natürlich kein besonders
qualifizierter Kommentar, aber es drückte ziemlich genau den
Strudel der Gefühle aus, der in mir tobte. Einerseits wollte ich
schreien, dass das alles nicht wahr sein konnte, dass meine Mutter
doch kein Monster aus irgendeiner Sage war. Aber neben dieser
lauten, wütenden Stimme in mir gab es noch eine leise flüsternde
Resonanz auf die Ereignisse, die dennoch nachhaltiger war und mir
die Augen dafür öffnete, dass das, was Nell sagte, durchaus Sinn
ergab.
Die Erinnerungen an meine Mutter, wie wir zusammen
schwammen, wie glücklich sie im Wasser war, die Art und Weise, wie
sie mich ins Wasser tauchte, als würde sie mich heimholen, all das
waren keine gewöhnlichen Erinnerungen.
Sie waren nicht normal, zumindest nicht nach menschlichen
Maßstäben.
»Übernatürlich«, dachte ich und versuchte das Wort
in all seinen Facetten zu begreifen. Ich war überrascht, dass es
sich gar nicht so schlimm anfühlte. Oder vielleicht fühlte es sich
einfach endlich wie etwas an, wo vorher nichts gewesen
war.
»Übernatürliche Wesen umgeben die Menschen bereits
von jeher überall, das beweist allein schon der Einfluss, den wir
auf ihre Mythen und Sagen haben. Die Menschen kennen uns alle, aber
nicht unbedingt in unserer wahren Form. Ich zum Beispiel bin ein
echter Zwerg, aber die Menschen haben aus uns kleine Keramikfiguren
gemacht, die ihre Gärten bewachen. Das ist auch nicht ganz falsch.
Wir Zwerge sind bodenständig, und unser Territorium verteidigen wir
bis aufs Blut - normalerweise das des Eindringlings. Selkies wie
deine Mutter tauchen in Geschichten aus aller Welt auf. Nur häuten
sie sich in Wahrheit nicht, und sie sind auch nicht die Gefangenen
desjenigen, der ihr Seehundfell stiehlt. Sie kommen aus freien
Stücken zu Menschenfrauen und -männern an Land, meist in der
Absicht, ein Kind zu zeugen.« An dieser Stelle zögerte Nell kurz,
und ich konnte sehen, dass sie die folgenden Worte mit leichtem
Unbehagen sprach, obwohl sie nicht aufhörte zu lächeln. »Uns
übernatürlichen Wesen fällt es schwer, uns untereinander
fortzupflanzen, aber wenn wir uns mit Menschen verbinden, gibt es
weniger Komplikationen. Du, Jane, bist das Ergebnis einer solchen
Verbindung.«
Ich bemühte mich, nicht allzu verächtlich
dreinzuschauen, aber das war nun wirklich lächerlich. Ich war Jane
True aus Rockabill in Maine. Aber ich war doch nicht der
halb-übernatürliche
Spross aus der Liebesaffäre einer Robbenfrau mit einem
Menschenmann. Wenn dem so wäre, dann wäre ich sicher größer geraten
… auf jeden Fall irgendwie imposanter.
Doch als ich Nell forschend ansah, wurde mir klar,
dass diese Gedanken völlig abwegig waren.
Ich musste auch daran denken, wie meine Mutter
erschienen war, wie aus dem Nichts, und dass sie dann auf genauso
unerklärliche Weise wieder verschwunden war. Auch mein
außergewöhnliches Schwimmtalent und meine Unempfindlichkeit Kälte
gegenüber kamen mir in den Sinn. Ich erschauderte. Mein Hals war
wie zugeschnürt, als ich langsam anfing zu akzeptieren, dass die
winzige Frau vielleicht die Wahrheit sprach.
»Wir hatten ein wachsames Auge auf dich, seit deine
Mutter fort ist. Sie musste ins Meer zurückkehren. Du hast leider
die Fähigkeit, deine Gestalt zu wandeln, nicht geerbt, also war sie
gezwungen, dich zurückzulassen. Wenn du fast ausschließlich
menschlich gewesen wärst, hätten wir dich dein Leben einfach leben
lassen, ohne uns zu offenbaren. Aber du hast außergewöhnliche
Kräfte. Trotzdem wollten wir eigentlich erst auf dich zukommen,
wenn du noch etwas reifer geworden bist, doch was du neulich Nacht
getan hast, machte es erforderlich, dass wir uns nun früher
kennenlernen.«
»Meine Kräfte?«, fragte ich verwirrt. »Was habe ich
denn getan?«
Nells Lächeln erstarb. »Der Tote, den du im Meer
gefunden hast, war auch ein Halbling wie du. Er war halb
übernatürliches Wesen, halb Mensch. Peter Jakes stand anscheinend
im Dienst von … von einigen sehr mächtigen Wesen. Er
scheint sich in ihrem Auftrag hier in dieser Gegend aufgehalten zu
haben. Sein Mord muss von unserer Gemeinschaft untersucht werden,
und da du die Leiche gefunden hast, werden wir dich im Rahmen der
Ermittlungen befragen müssen.«
Das war ein viel prosaischerer Grund für den
»ersten Kontakt«, als ich mir ausgemalt hatte, und ziemlich
ernüchternd.
Meiner Stimme war meine Verärgerung anzuhören. »Das
heißt also, wenn ich nicht zufällig Peters Leiche gefunden hätte,
dann hättet ihr mich noch ein paar Jahre länger über meine Herkunft
im Ungewissen gelassen? Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Wann
hattet ihr denn bitte vor, mich einzuweihen - wenn ich in Rente
gehe, oder was?«
Nells Lächeln kehrte strahlend zurück. »Kind, denn
für mich bist du noch ein Kind, das Menschenalter hat für uns
nichts zu bedeuten, und für dich wird es auch nicht so wichtig
sein. Du beherrschst die Elemente außergewöhnlich gut. Obwohl du
keine Formwandlerin bist, hast du von deiner Mutter so starke
Kräfte geerbt, als wärst du eine. Das Alter wird sich auf dich
weniger auswirken als auf die Menschen. Glaub mir, du hast erst
einen winzigen Bruchteil der Lebenszeit, die sich vor dir
erstreckt, hinter dich gebracht.«
Mir war klar, dass Nell dachte, das wäre eine gute
Nachricht, aber mein Kopf rebellierte mit aller Macht gegen das,
was sie mir da sagte.
»Das ist doch verrückt. Ich war im Krankenhaus. Und
damit meine ich richtig im Krankenhaus. Dort hat man mich
gründlich untersucht und so ungefähr jeden Test gemacht, den es
gibt, und niemals kam dabei etwas heraus wie: gute Herz- und
Lungenfunktionen und Seehundblut, das bedeutet, sie wird ewig
leben. Das ist doch irre! Ich
kann nicht ewig leben, ich will es auch gar nicht. Mein Leben ist
jetzt schon ätzend genug …« Erst jetzt überkam mich das wahre
Grauen dessen, was Nell mir gerade so unbekümmert mitgeteilt hatte.
Würde ich für ganze Generationen in Rockabill etwa die verrückte
Jane sein?
»Wenigstens wirst du so die Gelegenheit haben, auf
Stuarts und Lindas Gräbern zu tanzen«, steuerte wenig hilfreich
eine hämische Stimme in meinem Kopf bei.
Nell unterbrach meine boshaften Gedanken. »Keine
Sorge, mein Kind«, sagte sie. »Du wirst nicht ewig leben. Nur
ziemlich lange. Auf jeden Fall bist du nicht unsterblich. Du kannst
durchaus getötet werden. Aber menschliche Sorgen wie Zeit, Alter,
Geburtstage und so etwas werden dir nach ein paar Jahrhunderten
immer weniger bedeuten.«
»Na großartig. Das glaube ich allerdings auch«,
schnaubte ich sarkastisch. »Wahrscheinlich genau dann, wenn ich vor
Einsamkeit durchdrehe, weil ich in einer abgeschiedenen Hütte vor
mich hin vegetiere und niemand mehr die Alte, die einfach nicht
sterben will, besuchen kommt. Das wird ein tolles Leben! Vielleicht
sollte ich in Immobilien investieren, jetzt wo der Markt dafür
schwach ist. Was so eine Einsiedlerhöhle heutzutage wohl kostet?
Ich werde ja offensichtlich nur ein Zimmer brauchen.«
Nell schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht allein
sein, mein Kind.« Bei diesen Worten sah sie mich eindringlich an.
Auf ihrem Gesicht war keine Spur eines Lächelns mehr zu erkennen.
»Dein Leben hat doch gerade erst begonnen.«
Ich weiß nicht, ob das ein Versprechen oder eine
Warnung war. Oder beides.
Ich sah ihr stumm dabei zu, wie sie von ihrem
kleinen
Schaukelstuhl kletterte. Dann wickelte sie ihn in die
Patchworkdecke und legte Trill das Bündel auf den Rücken.
Komischerweise hatte sich die Kelpie wieder in ein Pony verwandelt,
ohne dass ich es bemerkt hatte.
»Geh schwimmen, Jane«, riet mir Nell. »Das wird dir
guttun. Lade deine Batterien wieder auf. Morgen wird sich ein
Ermittler bei dir melden. Peter Jakes spielte irgendeine wichtige
Rolle, aber wir wissen noch nicht welche, und die Ereignisse
scheinen sich zu überstürzen. Ich weiß nicht, wen sie schicken
werden, aber sei darauf gefasst, dass jemand kommen wird. Und mach
dir keine Sorgen, wir werden hier sein und all deine Fragen
beantworten. Lass dir Zeit. Du bist in meinem Territorium.«
Als Nell die letzten Worte sprach, knisterte die
Luft um sie herum vor Energie, und ich wette, das war nur ein
kleiner Vorgeschmack auf die Kraft, die sich hinter ihrer molligen
Gestalt verbarg.
Noch bevor ich die Gelegenheit hatte zu
protestieren, ging sie neben dem grau schillernden Pony auf die
massive Felswand zu … und verschwand. Mit Nell war auch das helle
Licht, das sie ausgestrahlt hatte, verflogen, und meine Augen
brauchten einen Moment, um sich wieder an das sanfte Schimmern des
Nachthimmels zu gewöhnen.
Ich saß schweigend da und kraulte gedankenverloren
einen pelzigen Bauch. Erschrocken stellte ich fest, dass ich
irgendwann während Nells Enthüllungsstunde wohl den Arm um Anyan
gelegt und angefangen hatte, sein zotteliges Fell zu streicheln. Es
schien ihn nicht zu stören.
Ich konnte noch immer nicht begreifen, was ich da
soeben alles erfahren hatte. Es war unglaublich und erklärte doch
so
vieles. Und Nells Worte jagten mir ehrlich gesagt eine Heidenangst
ein. Zugegeben, ich hatte die Tatsache, dass ich nur über die
schrecklichen Geschehnisse in meinem Leben definiert wurde, immer
gehasst. Ich saß fest an einem Ort, an dem ich immer nur eine
Version dessen sein konnte, was die anderen in mir sehen wollten.
Aber wenigstens kannte ich meine Rolle und wusste genau, wo mein
Platz war. Es gab keine Fragen oder Unsicherheiten, wie ich einen
Tag nach dem anderen verbringen würde. Und nun war plötzlich alles
anders. Ich begriff nicht, wie es dazu hatte kommen können.
Ein Teil von mir war sich ziemlich sicher, dass ich
morgen früh aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein
seltsamer Traum war. Aber für den Moment hatte Nell schon Recht.
Ich konnte jetzt wirklich eine Runde Schwimmen vertragen, so wie
Joel Irving, unser Dorfsäufer, einen Schuss Wodka in seinen
Morgenkaffee.
Ich stand auf und dehnte meine noch immer
schmerzenden Beine. Morgen würde ich von meiner wilden Flucht einen
schrecklichen Muskelkater haben. Ich streifte meine Schuhe ab und
zog Jeans und Socken aus. Gerade wollte ich mir meinen Pulli über
den Kopf ziehen, da bemerkte ich, dass Anyan verschwunden war. Ich
drehte mich um und sah ihn gerade noch in der Felsspalte
verschwinden.
»Also heute wird das Hundchen zur Abwechslung mal
nicht gebeamt.« Ich musste lächeln und schlüpfte endlich aus meinem
Pulli. »Ein komischer Hund«, dachte ich, als ich meine Unterwäsche
auszog, zum Wasser rannte und dankbar hineintauchte.
Was hatte Nell nur damit gemeint, als sie sagte, er
habe ihr alles über mich erzählt?