KAPITEL 4
005
Ich erwachte, weil etwas Warmes, Feuchtes an meinem Gesicht leckte, und der scharfe Geruch von Zahnpasta stieg mir in die Nase. Meine Augen verweigerten noch den Dienst, und alles, was ich erkennen konnte, war ein großer, zotteliger Umriss über meinem Kopf. Als meine Pupillen sich dann langsam scharf stellten, erkannte ich, dass etwas meine Platzwunde sauber leckte. Es fühlte sich unglaublich beruhigend an, bis ich begriff, dass die fragliche Zunge zum Maul des schwarzen Höllenhundes gehörte, der mich durch den Wald gehetzt hatte. Ich gab einen erschrockenen Laut von mir und versuchte, mich aufzurappeln. Aber dadurch kam ich mit dem Gesicht nur noch näher an das Maul des Köters heran und stieß mich an seinen riesigen Zähnen, so dass meine Wunde wieder zu bluten anfing.
»Top Taktik, Jane«, dachte ich noch, als sich alles zu drehen begann und ich mit einem dumpfen Aufprall wieder nach hinten kippte.
Ein Gesicht waberte in mein Blickfeld. Es gehörte weder zu dem riesigen Hund noch zu der netten alten Dame mit dem großen Haarknoten. Das Wesen hatte schmutzbraune Augen und dicke grüne Haarlocken wie Seetang.
Ihre Haut, denn ich hielt sie für eine Sie, schillerte perlgrau, und sie hatte eine eigenartig flache Nase, die sich kaum aus ihrem Gesicht erhob.
Was auch immer sie sein mochte, ein Mensch war sie jedenfalls nicht.
Aber sie konnte sprechen.
»Lass ihn deine Wunde heilen«, sagte sie mit einer unangenehm öligen Stimme, die wenig dazu beitrug, meine Angst zu zerstreuen.
Der Klang ließ mich erstarren, und obwohl ich ihre Anweisungen eigentlich nicht befolgen wollte, spürte ich wieder die raue Zunge des großen schwarzen Hundes an meiner Augenbraue.
Hilflos lag ich auf dem Boden und fühlte mich so unwohl und nervös wie noch nie, während der Hund weiter sanft meine Stirn ableckte. Das graugesichtige Wesen grinste mich eigenartig verschlagen an und streckte dann seine Hand nach mir aus, um mir den Arm zu tätscheln.
Das ist gar kein Grinsen, bemerkte ich. Es soll ein Lächeln sein. Die seltsame Frau versuchte, mich zu trösten, was ungefähr so effektiv wie der stählerne Klammergriff einer eisernen Jungfrau war.
Der Hund hatte aufgehört, meine Braue zu lecken, die sich, das musste ich zugeben, schon viel besser anfühlte. Aber jetzt war er dabei, das Blut abzulecken, das mir aus der Wunde übers Gesicht gelaufen war, und fuhr dann an meinem Hals und am Ausschnitt meines T-Shirts fort.
»Okay«, sagte ich mit einer Stimme, die bestimmt klingen sollte. »Aus.«
Ich streckte meine Arme aus und stieß den großen Hund zaghaft weg. Er rückte etwas von mir ab und wackelte mit dem Schwanz, was auf höllenhündisch wohl so viel hieß wie: »Keine Sorge, ich bin schon satt von deinem leckeren Blut, also werde ich dich nicht fressen … zumindest nicht heute.«
Die graue Frau fasste mich fest am Arm und half mir, mich aufzusetzen. »Halloho, Süße«, dachte ich, als ich einen kurzen genaueren Blick auf sie geworfen hatte, denn sie war ziemlich nackt und ziemlich offensichtlich weiblich. Und an ihren ebenso nackten Füßen entdeckte ich Schwimmhäute und dicke schwarze Zehennägel.
Sie war definitiv nicht menschlich.
»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte sie mich mit ihrer öligen Stimme, meinen Arm weiterhin fest umklammert haltend.
»Ja, ich glaube schon.« In dem Moment hätte ich alles gesagt, nur damit sie mich endlich losließ.
Sie grinste, nein, lächelte mich wieder an und schlenderte zu der winzigen Oma im Schaukelstuhl hinüber. Dort angekommen, setzte sie sich ohne jede Rücksicht auf Schicklichkeit im Schneidersitz hin, so dass ich freie Sicht auf ihren Schoß hatte.
»Sie hat Schamhaare aus Seetang«, stellte mein Gehirn wenig hilfreich fest. Ich blinzelte und ließ den Blick stattdessen über meine kleine Bucht schweifen.
Der geheime Streifen Strand, der mir früher so vertraut gewesen war wie mein eigenes Kinderzimmer, wirkte plötzlich völlig fremd. Als wäre der riesige Höllenhund, die Zwergen-Oma und Fräulein Seetang-Muschi noch nicht genug, schwebte etwa zwei Meter über dem Kopf der alten Dame eine große Glühbirne. Ich konnte nirgendwo ein Kabel erkennen, aber sie hing dort oben wie ein Kronleuchter und tauchte meine kleine Bucht in ein unheimliches Licht.
Ich spürte, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief, und starrte völlig entgeistert die rundliche alte Dame im Schaukelstuhl an.
Sie strahlte mich an, was mir aber ein kein bisschen besseres Gefühl gab.
»Es ist so schön, dich endlich kennenzulernen, Jane«, sagte sie. »Anyan hat uns schon so viel von dir erzählt.«
Der Hund jaulte wieder leise und streckte sich bedrohlich nah neben mir aus, während die alte Dame mich weiter anlächelte und ganz offenbar auf eine Antwort von mir wartete.
»Ich freue mich auch, äh, Sie kennenzulernen?«, sagte ich zögerlich, denn ich war nicht sicher, was ich hier eigentlich sollte. Würden wir jetzt Tee trinken und Hühnchensandwiches essen wie zwei feine Damen beim gemeinsamen Mittagessen, oder wollten sie mich eigentlich nur ihren grausamen Göttern opfern? Falls sie darauf hofften, dass ich noch Jungfrau war, dann musste ich sie leider enttäuschen …
»Mir ist klar, dass du verunsichert sein musst, weil du nicht weißt, was hier vor sich geht, aber keine Angst, du bist hier absolut sicher«, sagte die winzige Alte. »Ich bin Nell und das …«, sie zeigte auf die graue Seetang-Frau, »ist Trill.« Trill schenkte mir wieder ihr verschlagenes Grinsen, aber nun, da sie einen Namen hatte, wirkte auch das nicht mehr ganz so beängstigend auf mich.
»Anyan hast du ja schon kennengelernt«, sagte sie und zeigte auf den riesigen Hund. Wieder schien sie eine Reaktion von mir zu erwarten.
»Er hat ziemlich frischen Atem«, sagte ich. Es war das Erste, was mir in den Sinn kam. »Ich meine, für einen Hund …«, präzisierte ich.
»Ja«, antwortete sie und grinste noch breiter, falls das überhaupt möglich war. »Er ist sehr reinlich. Und bei deiner Stirn hat er ganze Arbeit geleistet.«
Ich tastete mit der Hand über meine Augenbraue und konnte dort keine Wunde mehr spüren. Die Verletzung war völlig verschwunden, nur wenn ich fester drückte, war die Stelle noch etwas schmerzempfindlich. »Was zum Teufel?«, dachte ich und starrte den Hund misstrauisch an. Wie zur Antwort wedelte Anyan mit dem Schwanz und streckte sich im Sand aus. Für einen Höllenhund wirkte er jetzt so niedlich, dass ich fast lächeln musste. Er sah mich an, und ich hätte wetten können, er zwinkerte mir zu. Aber wahrscheinlich hatte ich mir den Kopf nur härter angeschlagen als angenommen. Apropos …
»Warum war er überhaupt hinter mir her?«, fragte ich und musste wieder an meine panische Flucht durch den Wald denken. »Wenn die drei hier so nett waren, warum haben sie mich dann erst in Todesangst versetzt und in Kauf genommen, dass ich mir beinahe selbst den Schädel einschlage?«
»Das tut uns leid«, hörte ich Trill mit glitschiger Stimme sagen, als habe sie meine Gedanken erraten. »Es ist nur so, dass der erste Kontakt immer ein wenig heikel ist. Normalerweise überstürzen wir es auch nicht gar so, aber wir konnten nicht länger warten. Wir mussten dich noch heute Nacht treffen. Und heute treibt sich alles Mögliche im Wald herum, also mussten wir ein wenig Aura zu Hilfe nehmen, um dich hierherzulotsen.«
Sie sah mich an, als müsste ich verstehen, was sie sagte. Also starrte ich einfach verständnislos zurück. Langsam wurde mir dieses Spielchen wirklich zu bunt.
»Hören Sie, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Da müssen Sie mir schon etwas auf die Sprünge helfen. Ich nehme mal an, dass Sie mit Aura keine Frauenzeitschrift meinen. Welcher erste Kontakt? Und was meinen Sie bitte schön überhaupt mit Aura?«
Jetzt, da ich angefangen hatte, Fragen zu stellen, fiel mir plötzlich die naheliegendste ein. »Und was für komische Wesen seid ihr überhaupt?«
Nell und Trill sahen sich vielsagend an, bis Nell schließlich meinte: »Wie viel hat dir deine Mutter denn erzählt von sich und… ihrer Familie?«
Jetzt war ich völlig baff. Mit nichts hätte ich in diesem Moment weniger gerechnet, als dass sich dieses eigenartige Gespräch plötzlich um meine geheimnisvolle Mutter und ihre unbekannte Herkunft drehen würde.
»Von ihrer Familie? Gar nichts. Sie war offensichtlich zu sehr damit beschäftigt, mich im Stich zu lassen, als dass sie die Zeit gehabt hätte, mir von ihrer Verwandtschaft zu erzählen«, sagte ich spitz. Okay, na und, dann war ich eben verbittert.
Nell seufzte. »Dann ist es natürlich noch komplizierter.« Sie hatte denselben angestrengten Gesichtsausdruck wie meine Lehrer früher, wenn wir irgendeine Sache nicht verstanden und sie wussten, dass sie nun die ganze Stunde damit verbringen mussten, es in Idiotensprache zu übersetzen.
»Deine Mutter war wie wir nicht richtig … menschlich«, sagte Nell schließlich. »Sie war eher … so wie Trill hier.«
Ich verzog das Gesicht. Ich war zwar erst sechs Jahre alt gewesen, als meine Mutter verschwunden war, aber ich konnte mich sehr wohl daran erinnern, dass sie weder grau noch glitschig noch seetangig gewesen war. Im Gegenteil - sie war wunderschön. Und was sollte das bitte schön heißen: nicht menschlich? Na gut, Trill war ganz offensichtlich kein Mensch, aber meine Mutter war ebenso offensichtlich nicht wie sie gewesen, ergo war meine Mutter auch nicht nicht menschlich. Ja, okay, ich gebe es zu, ich hatte Rhetorik nur im Nebenfach.
»Na gut, nicht ganz«, riss Trill mich aus meinen spitzfindigen Gedanken. »Ich bin eine Kelpie, und deine Mutter ist eine Selkie. Wir sind ziemlich verschieden.«
»Na großartig!«, dachte ich vollkommen entnervt. Jetzt treffe ich endlich einmal Leute, die behaupten, etwas über meine Mutter zu wissen, und dann sprechen sie bloß in Rätseln.
»Könnt ihr bitte von vorne erzählen?«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Da ergriff Nell das Wort, ganz die Stimme der Vernunft. »Kelpies«, erklärte sie, »sind Formwandler, bimorphe Wesen genau wie Selkies, die eine menschliche und eine Tierform annehmen können, oder wie Kelpies eben eine menschenartige und eine tierische Form. Trill hier wird dann zu einer Art Seepferdchen, nur größer. Deine Mutter war eine Selkie; ihre zweite Gestalt war die einer Seerobbe.«
»Verdammt!«, dachte ich. Natürlich hatte ich den Kinderfilm Das Geheimnis des Seehundbabys gesehen. Wenn das, was die winzige Frau behauptete, stimmte, dann würde das einiges erklären …
Beim Gedanken, dass das plötzliche Verschwinden meiner Mutter endlich plausibel wurde, fing mein Herz hoffnungsvoll an zu klopfen, aber schon schaltete sich mein Sinn für Realität ein und zerstreute alle meine zaghaften Hoffnungen wieder. Wie blöd war ich eigentlich, so einen Schrott zu glauben?
»Okay, das reicht jetzt«, sagte ich unwirsch. »Ich bin sicher, dass Linda oder Stuart oder wer auch immer euch gut dafür bezahlt hat, dass ihr hierherkommt und mich wie einen Vollidioten aussehen lasst, jetzt ihren Spaß hatten. Ich wette, sie haben euch ganz tolle Gründe genannt, warum man mich ruhig verletzen darf und mir vorhalten kann, was für ein Monster ich doch bin. Und dass ich es verdient habe, so behandelt zu werden. Und wisst ihr was, damit haben sie sogar Recht. Aber man kann mich nicht mehr verletzen. Ich wurde schon so sehr verletzt, schlimmer geht es nicht mehr, und nichts, was ihr mir noch antut, kann so schmerzvoll sein, wie Jason zu verlieren. Also, jetzt nehmt eurem Hund schon die falschen Reißzähne raus, wascht euch eure Schminke ab und geht zurück in euren Zirkus. Und vergesst die Riesenglühbirne nicht. Ich hätte meine Bucht gerne wieder so, wie sie vorher war.«
Ich erhob mich umständlich. Meine verkrampften Beine waren immer noch etwas wackelig, aber ich bemerkte nicht ohne Stolz die verblüfften Gesichter von »Trill« und »Nell«.
»Meine Mutter mag uns vielleicht verlassen haben, aber sie hat keinen Trottel großgezogen«, dachte ich selbstgefällig. Doch dann hielt ich inne, als die Luft um Trill herum plötzlich zu flimmern begann. Eine schillernde Blase umgab sie. Sie hatte dieselbe Farbe wie ihre Haut, nur durchsichtiger. Sie sah aus, als bestünde sie aus reiner Energie, und sie pulsierte leicht, genau wie die Glühbirne über Nells Kopf. Unter der Oberfläche der grau schimmernden Blase passierte etwas, das aussah, als würde sich darin im Zeitraffer ein Fötus entwickeln.
Als die Blase dann ploppend platzte, befand sich dort, wo soeben noch Trill gestanden hatte, ein seltsames graues Pferdchen mit einer Mähne und einem Schweif aus Seetang. Seine kleinen schwarzen Hufe hatten dieselbe Farbe wie Trills Zehennägel vorher, und ihre schmutzigbraunen Augen sahen mich nun aus dem Ponygesicht an. Ganz schwach waren die Kiemen am Hals des Tiers zu erkennen.
Vor dem heutigen Tag war ich noch nie in Ohnmacht gefallen, aber jetzt hatte ich das deutliche Gefühl, dass ich da gleich noch einmal nachlegen würde.
Anyan schlich sich sofort näher an mich heran. Vielleicht, um mich am Weglaufen zu hindern, falls ich es doch noch schaffen sollte, mich aufzurichten, vielleicht aber auch, um mich aufzufangen, sollte ich wieder das Bewusstsein verlieren. Ich war froh, als die Hand, die ich um Gleichgewicht ringend ausstreckte, Halt an einem kräftigen, zotteligen, erstaunlich hohen Hunderücken fand. Er reichte mir bis zur Taille. Ich war zwar nur knapp einen Meter sechzig groß, aber das Vieh war trotzdem riesig.
Ich ließ mich schwerfällig zurück in den Sand fallen, und Anyan postierte sich so hinter mich, dass ich nicht wegsacken konnte.
Ungläubig beobachtete ich, wie sich die Blase noch einmal um Trill herum ausdehnte, und mit einem weiteren Ploppen sah sie wieder menschenähnlich aus.
Falls Lindas und Stuarts Komplott keine Halluzinogene beinhaltete und man mich nicht in eine Matrix-artige virtuelle Realität versetzt hatte, dann musste das, was da gerade vor meinen Augen passierte, wahr sein. Vor Angst lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, und ich musste mehr als einmal durchatmen, um mich etwas zu beruhigen.
»Okay, Jane«, befahl ich mir, »reiß dich zusammen. Was auch immer diese Wesen hier sind, der Höllenhund hätte dich schon längst zerfleischen können, hat es aber nicht getan, also kannst du wohl davon ausgehen, dass sie dich lebend wollen. Und auch wenn dir nicht gefällt, was sie zu sagen haben, erfährst du durch sie zumindest etwas über deine Mutter.« Dieser Gedanke gab mir neuen Mut, also hielt ich mich an ihm fest. »Zum ersten Mal in deinem Leben triffst du jemanden, der dir die Wahrheit über deine Mutter erzählen kann«, dachte ich. Mittlerweile atmete ich schon wieder ruhiger, und auch wenn ich mich nicht gerade fantastisch fühlte, so war ich doch zuversichtlich, dass ich den Geschehnissen hier nun ins Auge blicken konnte.
Anyan fuhr mir mit seiner weichen Zunge über die Wange, und ich konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Es war schon erstaunlich, wie sensibel Tiere auf die Stimmung von uns Menschen reagierten. Man konnte meinen, er begriff, wie schwer das alles für mich war.
»Also gut …«, sagte ich und sah zu Nell hinüber. Trill anzuschauen vermied ich lieber, denn nach ihrer kleinen Verwandlungseinlage stockte mir bei ihrem Anblick immer noch der Atem. Vielleicht wäre das eine oder andere Gläschen Jack Daniels jetzt ganz hilfreich gewesen. »Ihr seid also nicht … menschlich. Und es hat euch auch keiner geschickt, um mir eins auszuwischen. Also was seid ihr dann, und warum seid ihr hier? Was habt ihr mit mir und meiner Familie zu schaffen?«
Meine Stimme zitterte nicht. Ich war stolz auf mich.
Verdammt, Nell strahlte immer noch vor sich hin wie das Werbegesicht auf einer Sirupflasche. »Du schlägst dich wirklich ganz tapfer, Jane«, sagte sie, und ich konnte mir gerade noch verkneifen, ihr den Mittelfinger zu zeigen. »Wie schon gesagt, deine Mutter war eine Selkie, eine Formwandlerin, die sowohl in der Form eines Seehundes und eines Menschen in Erscheinung treten konnte. Aber sie ist weder Mensch noch Robbe, sondern ein übernatürliches Wesen.«
Ich grunzte. Das war natürlich kein besonders qualifizierter Kommentar, aber es drückte ziemlich genau den Strudel der Gefühle aus, der in mir tobte. Einerseits wollte ich schreien, dass das alles nicht wahr sein konnte, dass meine Mutter doch kein Monster aus irgendeiner Sage war. Aber neben dieser lauten, wütenden Stimme in mir gab es noch eine leise flüsternde Resonanz auf die Ereignisse, die dennoch nachhaltiger war und mir die Augen dafür öffnete, dass das, was Nell sagte, durchaus Sinn ergab.
Die Erinnerungen an meine Mutter, wie wir zusammen schwammen, wie glücklich sie im Wasser war, die Art und Weise, wie sie mich ins Wasser tauchte, als würde sie mich heimholen, all das waren keine gewöhnlichen Erinnerungen. Sie waren nicht normal, zumindest nicht nach menschlichen Maßstäben.
»Übernatürlich«, dachte ich und versuchte das Wort in all seinen Facetten zu begreifen. Ich war überrascht, dass es sich gar nicht so schlimm anfühlte. Oder vielleicht fühlte es sich einfach endlich wie etwas an, wo vorher nichts gewesen war.
»Übernatürliche Wesen umgeben die Menschen bereits von jeher überall, das beweist allein schon der Einfluss, den wir auf ihre Mythen und Sagen haben. Die Menschen kennen uns alle, aber nicht unbedingt in unserer wahren Form. Ich zum Beispiel bin ein echter Zwerg, aber die Menschen haben aus uns kleine Keramikfiguren gemacht, die ihre Gärten bewachen. Das ist auch nicht ganz falsch. Wir Zwerge sind bodenständig, und unser Territorium verteidigen wir bis aufs Blut - normalerweise das des Eindringlings. Selkies wie deine Mutter tauchen in Geschichten aus aller Welt auf. Nur häuten sie sich in Wahrheit nicht, und sie sind auch nicht die Gefangenen desjenigen, der ihr Seehundfell stiehlt. Sie kommen aus freien Stücken zu Menschenfrauen und -männern an Land, meist in der Absicht, ein Kind zu zeugen.« An dieser Stelle zögerte Nell kurz, und ich konnte sehen, dass sie die folgenden Worte mit leichtem Unbehagen sprach, obwohl sie nicht aufhörte zu lächeln. »Uns übernatürlichen Wesen fällt es schwer, uns untereinander fortzupflanzen, aber wenn wir uns mit Menschen verbinden, gibt es weniger Komplikationen. Du, Jane, bist das Ergebnis einer solchen Verbindung.«
Ich bemühte mich, nicht allzu verächtlich dreinzuschauen, aber das war nun wirklich lächerlich. Ich war Jane True aus Rockabill in Maine. Aber ich war doch nicht der halb-übernatürliche Spross aus der Liebesaffäre einer Robbenfrau mit einem Menschenmann. Wenn dem so wäre, dann wäre ich sicher größer geraten … auf jeden Fall irgendwie imposanter.
Doch als ich Nell forschend ansah, wurde mir klar, dass diese Gedanken völlig abwegig waren.
Ich musste auch daran denken, wie meine Mutter erschienen war, wie aus dem Nichts, und dass sie dann auf genauso unerklärliche Weise wieder verschwunden war. Auch mein außergewöhnliches Schwimmtalent und meine Unempfindlichkeit Kälte gegenüber kamen mir in den Sinn. Ich erschauderte. Mein Hals war wie zugeschnürt, als ich langsam anfing zu akzeptieren, dass die winzige Frau vielleicht die Wahrheit sprach.
»Wir hatten ein wachsames Auge auf dich, seit deine Mutter fort ist. Sie musste ins Meer zurückkehren. Du hast leider die Fähigkeit, deine Gestalt zu wandeln, nicht geerbt, also war sie gezwungen, dich zurückzulassen. Wenn du fast ausschließlich menschlich gewesen wärst, hätten wir dich dein Leben einfach leben lassen, ohne uns zu offenbaren. Aber du hast außergewöhnliche Kräfte. Trotzdem wollten wir eigentlich erst auf dich zukommen, wenn du noch etwas reifer geworden bist, doch was du neulich Nacht getan hast, machte es erforderlich, dass wir uns nun früher kennenlernen.«
»Meine Kräfte?«, fragte ich verwirrt. »Was habe ich denn getan?«
Nells Lächeln erstarb. »Der Tote, den du im Meer gefunden hast, war auch ein Halbling wie du. Er war halb übernatürliches Wesen, halb Mensch. Peter Jakes stand anscheinend im Dienst von … von einigen sehr mächtigen Wesen. Er scheint sich in ihrem Auftrag hier in dieser Gegend aufgehalten zu haben. Sein Mord muss von unserer Gemeinschaft untersucht werden, und da du die Leiche gefunden hast, werden wir dich im Rahmen der Ermittlungen befragen müssen.«
Das war ein viel prosaischerer Grund für den »ersten Kontakt«, als ich mir ausgemalt hatte, und ziemlich ernüchternd.
Meiner Stimme war meine Verärgerung anzuhören. »Das heißt also, wenn ich nicht zufällig Peters Leiche gefunden hätte, dann hättet ihr mich noch ein paar Jahre länger über meine Herkunft im Ungewissen gelassen? Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Wann hattet ihr denn bitte vor, mich einzuweihen - wenn ich in Rente gehe, oder was?«
Nells Lächeln kehrte strahlend zurück. »Kind, denn für mich bist du noch ein Kind, das Menschenalter hat für uns nichts zu bedeuten, und für dich wird es auch nicht so wichtig sein. Du beherrschst die Elemente außergewöhnlich gut. Obwohl du keine Formwandlerin bist, hast du von deiner Mutter so starke Kräfte geerbt, als wärst du eine. Das Alter wird sich auf dich weniger auswirken als auf die Menschen. Glaub mir, du hast erst einen winzigen Bruchteil der Lebenszeit, die sich vor dir erstreckt, hinter dich gebracht.«
Mir war klar, dass Nell dachte, das wäre eine gute Nachricht, aber mein Kopf rebellierte mit aller Macht gegen das, was sie mir da sagte.
»Das ist doch verrückt. Ich war im Krankenhaus. Und damit meine ich richtig im Krankenhaus. Dort hat man mich gründlich untersucht und so ungefähr jeden Test gemacht, den es gibt, und niemals kam dabei etwas heraus wie: gute Herz- und Lungenfunktionen und Seehundblut, das bedeutet, sie wird ewig leben. Das ist doch irre! Ich kann nicht ewig leben, ich will es auch gar nicht. Mein Leben ist jetzt schon ätzend genug …« Erst jetzt überkam mich das wahre Grauen dessen, was Nell mir gerade so unbekümmert mitgeteilt hatte. Würde ich für ganze Generationen in Rockabill etwa die verrückte Jane sein?
»Wenigstens wirst du so die Gelegenheit haben, auf Stuarts und Lindas Gräbern zu tanzen«, steuerte wenig hilfreich eine hämische Stimme in meinem Kopf bei.
Nell unterbrach meine boshaften Gedanken. »Keine Sorge, mein Kind«, sagte sie. »Du wirst nicht ewig leben. Nur ziemlich lange. Auf jeden Fall bist du nicht unsterblich. Du kannst durchaus getötet werden. Aber menschliche Sorgen wie Zeit, Alter, Geburtstage und so etwas werden dir nach ein paar Jahrhunderten immer weniger bedeuten.«
»Na großartig. Das glaube ich allerdings auch«, schnaubte ich sarkastisch. »Wahrscheinlich genau dann, wenn ich vor Einsamkeit durchdrehe, weil ich in einer abgeschiedenen Hütte vor mich hin vegetiere und niemand mehr die Alte, die einfach nicht sterben will, besuchen kommt. Das wird ein tolles Leben! Vielleicht sollte ich in Immobilien investieren, jetzt wo der Markt dafür schwach ist. Was so eine Einsiedlerhöhle heutzutage wohl kostet? Ich werde ja offensichtlich nur ein Zimmer brauchen.«
Nell schüttelte den Kopf. »Du wirst nicht allein sein, mein Kind.« Bei diesen Worten sah sie mich eindringlich an. Auf ihrem Gesicht war keine Spur eines Lächelns mehr zu erkennen. »Dein Leben hat doch gerade erst begonnen.«
Ich weiß nicht, ob das ein Versprechen oder eine Warnung war. Oder beides.
Ich sah ihr stumm dabei zu, wie sie von ihrem kleinen Schaukelstuhl kletterte. Dann wickelte sie ihn in die Patchworkdecke und legte Trill das Bündel auf den Rücken. Komischerweise hatte sich die Kelpie wieder in ein Pony verwandelt, ohne dass ich es bemerkt hatte.
»Geh schwimmen, Jane«, riet mir Nell. »Das wird dir guttun. Lade deine Batterien wieder auf. Morgen wird sich ein Ermittler bei dir melden. Peter Jakes spielte irgendeine wichtige Rolle, aber wir wissen noch nicht welche, und die Ereignisse scheinen sich zu überstürzen. Ich weiß nicht, wen sie schicken werden, aber sei darauf gefasst, dass jemand kommen wird. Und mach dir keine Sorgen, wir werden hier sein und all deine Fragen beantworten. Lass dir Zeit. Du bist in meinem Territorium.«
Als Nell die letzten Worte sprach, knisterte die Luft um sie herum vor Energie, und ich wette, das war nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Kraft, die sich hinter ihrer molligen Gestalt verbarg.
Noch bevor ich die Gelegenheit hatte zu protestieren, ging sie neben dem grau schillernden Pony auf die massive Felswand zu … und verschwand. Mit Nell war auch das helle Licht, das sie ausgestrahlt hatte, verflogen, und meine Augen brauchten einen Moment, um sich wieder an das sanfte Schimmern des Nachthimmels zu gewöhnen.
Ich saß schweigend da und kraulte gedankenverloren einen pelzigen Bauch. Erschrocken stellte ich fest, dass ich irgendwann während Nells Enthüllungsstunde wohl den Arm um Anyan gelegt und angefangen hatte, sein zotteliges Fell zu streicheln. Es schien ihn nicht zu stören.
Ich konnte noch immer nicht begreifen, was ich da soeben alles erfahren hatte. Es war unglaublich und erklärte doch so vieles. Und Nells Worte jagten mir ehrlich gesagt eine Heidenangst ein. Zugegeben, ich hatte die Tatsache, dass ich nur über die schrecklichen Geschehnisse in meinem Leben definiert wurde, immer gehasst. Ich saß fest an einem Ort, an dem ich immer nur eine Version dessen sein konnte, was die anderen in mir sehen wollten. Aber wenigstens kannte ich meine Rolle und wusste genau, wo mein Platz war. Es gab keine Fragen oder Unsicherheiten, wie ich einen Tag nach dem anderen verbringen würde. Und nun war plötzlich alles anders. Ich begriff nicht, wie es dazu hatte kommen können.
Ein Teil von mir war sich ziemlich sicher, dass ich morgen früh aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein seltsamer Traum war. Aber für den Moment hatte Nell schon Recht. Ich konnte jetzt wirklich eine Runde Schwimmen vertragen, so wie Joel Irving, unser Dorfsäufer, einen Schuss Wodka in seinen Morgenkaffee.
Ich stand auf und dehnte meine noch immer schmerzenden Beine. Morgen würde ich von meiner wilden Flucht einen schrecklichen Muskelkater haben. Ich streifte meine Schuhe ab und zog Jeans und Socken aus. Gerade wollte ich mir meinen Pulli über den Kopf ziehen, da bemerkte ich, dass Anyan verschwunden war. Ich drehte mich um und sah ihn gerade noch in der Felsspalte verschwinden.
»Also heute wird das Hundchen zur Abwechslung mal nicht gebeamt.« Ich musste lächeln und schlüpfte endlich aus meinem Pulli. »Ein komischer Hund«, dachte ich, als ich meine Unterwäsche auszog, zum Wasser rannte und dankbar hineintauchte.
Was hatte Nell nur damit gemeint, als sie sagte, er habe ihr alles über mich erzählt?