KAPITEL 20
Wach auf, wach auf, wach auf«, dachte ich
und versuchte kraft meiner Gedanken, zu Ryu durchzudringen.
Ich hatte ihn schon gekitzelt, geschüttelt,
gekratzt, gezwickt, ihm ein Glas Wasser übers Gesicht geschüttet,
ihn geküsst - ich hatte sogar mit den Fingern ziemlich fest gegen
sein Gemächt geschnipst. Er hatte sich nicht gerührt.
Nun lag ich neben ihm, starrte ihm ins Gesicht und
versuchte ihn allein mit meiner Willenskraft zu wecken. Aber ich
hatte keine große Hoffnung, dass es funktionieren würde.
»Wach auf, wach auf, wach auf, wach auf«,
suggerierte ich ihm immer wieder vergeblich, und langsam wurde ich
so wütend, dass ich ihn am liebsten angeschrien hätte. Da! Hatte
sich sein Augenlid nicht etwas bewegt? Ich wagte es kaum zu hoffen.
»WACH AUF!«
Ryus Lider zuckten wieder. Ganz klar, er war dabei,
aus seiner Vampirstarre zu erwachen. Dann schlug er ganz plötzlich
die Augen auf und starrte mich ziemlich überrascht an.
»Guten Morgen, Jane«, murmelte er. »Was zur Hölle
machst du da?«
Ich musste ihm so vieles sagen, dass ich nur ein
unartikuliertes »Aaargh« hervorbrachte.
»Ach wirklich? Interessant. Gibt’s Kaffee?« Ryu
schob mich sanft zur Seite, damit er sich aufsetzen konnte. Dann
verzog er das Gesicht und fasste sich in den Schritt. »Oh, ich muss
wohl komisch gelegen sein.« Er sah mich argwöhnisch an. »Wieso ist
mein Kissen nass?«
»Ryu«, sagte ich nachdrücklich und wechselte
schnell das Thema. »Jimmu war im Buchladen an dem Tag, an dem du
dort aufgetaucht bist, und im Stall, als wir zum ersten Mal
gemeinsam dort waren. Er war mit all diesen Akademikertypen da,
also habe ich ihn nicht sofort wiedererkannt, aber ich weiß
jetzt, dass er es war.«
Ryu sah mich verständnislos an. »Jane, wovon redest
du?«
»Ich weiß, du wirst sagen, dass es unmöglich ist,
aber es stimmt. Und heute Morgen wollte er mich sogar umbringen,
aber dann war da irgendetwas im Gebüsch, und er hat mich irgendwie
hypnotisiert, weshalb ich mich nicht vom Fleck rühren
konnte, und er hatte so ein Schwert...« Jetzt faselte ich nur noch,
also versuchte ich mich zusammenzunehmen. »Aber ich bin ihm
entwischt, und dann traf ich auf Morrigan, und sie sagte etwas von
Wissenschaftlerteams, und ich wusste ja schon, dass ich Jimmu schon
einmal gesehen hatte, und dann wurde mir klar, wo.« Ich schnappte
nach Luft. »Im Read it and weep.«
»Warum sollte Jimmu mit einer Gruppe
Wissenschaftler unterwegs sein?«, fragte Ryu entgeistert und rieb
sich die Augen.
»Er muss ja gar nicht richtig zu ihnen gehört
haben, vielleicht hat er sie nur als Tarnung benutzt oder so. Ich
weiß auch nicht. Ich konnte ihn ja schlecht danach fragen.«
Ryu war nicht überzeugt. Er schüttelte den Kopf und
fuhr sich nachdenklich mit der Hand durchs Haar. »Ich bin in einer
Minute wieder da, Süße, und dann gehen wir das noch einmal in Ruhe
durch.«
Er verschwand im Bad, und ich nutzte die Zeit, um
meine Gedanken zu sortieren. Ich musste ihm genau erzählen, was
passiert war, ganz von vorne und natürlich so, dass es Hand und Fuß
hatte. Ich wusste, dass ich nicht verrückt war - ich sah ihn
noch genau vor mir, diesen schmierigen Akademikertyp, der da saß
und mich anstarrte, und ich wusste genau, dass Jimmu ohne seine
Piercings, mit zurückgekämmtem Haar und dicken Brillengläsern eben
dieser Akademiker war.
Ryu tauchte wieder auf und trug jetzt eine
Pyjamahose. Mit einer Geste gab er mir zu verstehen, dass ich ihm
ins Wohnzimmer folgen solle. Dann bestellte er Kaffee und Essen
beim Zimmerservice, während ich es mir auf dem kleinen Sofa
gemütlich machte.
»Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber du musst
mich zu Ende erzählen lassen«, fuhr ich fort, noch ehe er wieder
den Hörer auf die Gabel gelegt hatte. Ich redete einfach weiter,
während er sich zu mir setzte. »An dem Tag, an dem du zum ersten
Mal nach Rockabill kamst, da war am Morgen eine Gruppe
Meeresbiologen mit dem Bus gekommen, um sich den Old-Sow-Strudel
anzusehen. Einer irritierte mich total, weil er mich die ganze Zeit
so komisch anstarrte. Und dann haben wir ihn wieder getroffen, am
selben Abend im Stall. Nach dem Ärger mit Stuart, als du
hinausgingst, um zu überprüfen, dass er uns nicht auf dem Parkplatz
auflauert, wartete ich drinnen an der Tür, und da habe ich gesehen,
dass er sich in der Ecke am anderen Ende der Bar versteckte. Und er
hatte mich wieder im Visier.«
Ryu hörte mir zu, wie ich ihn gebeten hatte, aber
er sah nicht überzeugt aus. Ich fuhr dennoch fort.
»Als wir dann hierherkamen und Jimmu trafen, hätte
ich schwören können, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben. Aber
ich dachte, ich sei verrückt, weil natürlich würde ich mich an
jemanden, der so martialisch aussieht wie Jimmu, erinnern, oder?
Aber heute Morgen ging ich zum Pool, und da war dann plötzlich
Jimmu mit seinem Schwert. Ich denke, er hat dort trainiert, weil,
ich glaube nicht, dass er mich erwartet hat. Aber ich machte mir
fast in die Hose vor Angst, und er kam schon auf mich zu, als ihn
plötzlich irgendetwas ablenkte. Jedenfalls hing ihm sein Iro in die
Stirn, und so kam er mir noch bekannter vor.« Ryu sah mich
aufmerksam an - zumindest schien er gemerkt zu haben, dass ich
davon überzeugt war, was ich ihm gerade erzählte.
»Ich rannte zurück in das Verbundsgebäude, wo ich
auf Morrigan traf. Wir unterhielten uns, und sie erwähnte die
Fortpflanzungsproblematik und sagte etwas von Wissenschaftlerteams.
Später dachte ich über ihre Worte nach, und mir wurde klar, dass
Jimmu, wenn man ihm seine Piercings abnehmen und ihm
Spießerklamotten anziehen und eine Streberbrille aufsetzen würde,
eben dieser Typ wäre, der damals im Laden und im Stall
aufgetaucht ist.«
Ryu saß einen Moment lang schweigend da, und ich
sah, dass es in seinem Kopf arbeitete.
»Ryu«, fuhr ich fort, »ich glaube, Jimmu steckt
hinter den Morden. Warum sollte er sonst wohl in Rockabill gewesen
sein? Es würde auch erklären, warum er mir so feindselig begegnet
ist. Ich war die Nächste auf seiner Liste.«
Ryu schüttelte den Kopf, als wolle er den Gedanken
vertreiben, den ich gerade formuliert hatte. »Jane, wenn das, was
du da sagst, wahr ist, dann ist plötzlich alles viel ernster und
komplizierter, als wir dachten. Jimmu tut nichts ohne Jarls
Zustimmung, und Jarl tut nichts ohne das Wissen von Orin und
Morrigan.«
Er sah mich an und wartete darauf, dass ich seine
Worte auch wirklich begriff. »Wenn Jimmu also der Mörder
wäre, dann hätte er sicher nicht auf eigene Faust
gehandelt«, stellte Ryu noch einmal klar. »Und das würde bedeuten,
dass die Alfar für all die Morde verantwortlich wären.«
»Gut«, sagte ich, und meine Gedanken fingen an zu
rasen. »Okay, vielleicht ist er ja doch nicht der Mörder.
Vielleicht war er wegen irgendetwas anderem hinter Peter Jakes her.
Vielleicht sollte er ihn nur für die Alfar überprüfen. Aber er war
auf jeden Fall in Rockabill. Ich weiß, dass es Jimmu war,
den ich damals dort gesehen habe. Trotz seiner Verkleidung.«
»Ich kann das einfach nicht glauben, Jane.« Ryu
schüttelte ungläubig den Kopf. »Es tut mir leid, ich weiß, dass du
davon überzeugt bist, aber ich kann einfach nicht glauben, dass es
Jimmu war. Oder besser gesagt, ich will es nicht glauben.
Wenn wirklich wahr wäre, was du sagst, dann sähe es wirklich
schlecht aus für uns.«
Ich starrte ihn an. Noch nie in meinem Leben war
ich von jemandem so enttäuscht. Welchen Teil von »Ich weiß,
dass es Jimmu war« hatte er nicht verstanden? Ich hätte schreien
können. Aber tief drinnen verstand ich seine Angst - denn mir war
klar, dass das, was ich soeben gesagt hatte, auch bedeuten musste,
dass etwas in der Welt der Alfar oberfaul war.
In diesem Moment war ein leises Klopfen an der Tür
zu hören, und Elspeth kam mit dem Kaffee und dem Frühstück herein.
Wir saßen schweigend da, während sie das Tablett abstellte. »Wie
kann ich dich nur dazu bringen, mir zu glauben«, dachte ich und
blickte Ryu eindringlich an.
Und dann fielen mir wieder die Bücher von Edith
Wharton ein, die ich immer so gerne gelesen hatte. In ihren Romanen
ging es meist um die höhere Gesellschaft, und darin wussten die
Angestellten immer alles.
»Elspeth«, sagte ich, und meiner Stimme war die
Anspannung deutlich anzuhören. »Kann ich dich etwas fragen?«
Sie nickte und lächelte mich freundlich an.
»Es geht um Jimmu«, sagte ich und hielt dann kurz
inne. Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte. »Ich habe ihn heute
Morgen gesehen«, fuhr ich schließlich fort. Ich redete weiter um
den heißen Brei herum, bis ich einen Weg gefunden hatte, sie
unauffällig nach dem zu fragen, was wir wissen mussten. »Er hat
trainiert. Seine Piercings sind schon so eine Sache für sich,
oder?«
»Ja, das sind sie.« Elspeths Lächeln war erloschen,
und sie erschauderte. »Jedes Mal, wenn er sie sich sticht, muss ich
ihm dabei helfen. Schrecklich.«
Ryu kniff die Augen zusammen und atmete abrupt und
geräuschvoll ein. »Was soll das heißen, jedes Mal?«, fragte er mit
gepresster Stimme.
»Oh, Jimmu verlässt oft den Verbund und nimmt dann
jedes Mal seine Piercings heraus. Danach muss er sie immer wieder
neu stechen, weil die Löcher bei ihm so schnell verheilen.« Sie sah
mich an, und ich gab mir alle Mühe, meine Aufregung zu verbergen.
»Und ich muss ihm dann immer dabei helfen.« Sie schüttelte sich.
»Bei allen.«
Ich begriff, worauf sie anspielte, und zog eine
verständnisvolle Grimasse. »Und der Irokesenschnitt?«, fragte ich.
»Ist der neu?«
»Ja.« Sie wirkte überrascht. »Das ist er
tatsächlich. Er hat ihn erst seit ein paar Tagen. Seit er von
seinem letzten Abenteuer zurückkam. Er ließ sich doppelt so viele
Piercings stechen und diesen Irokesenschnitt machen. Man könnte
meinen, er wollte sich verkleiden.« Sie lachte, als sei dieser
Gedanke lächerlich. Ryu und ich tauschten vielsagende Blicke
aus.
»Diesmal hat er sie allerdings nicht
entfernt.«
»Was?«, fragten Ryu und ich im Chor.
»Jimmu hat den Verbund vor einer halben Stunde
verlassen. Anscheinend kommt er nicht vor morgen zurück. Aber
glücklicherweise hat er diesmal wenigstens nicht seine Piercings
herausgenommen.«
»Weißt du, wo Jimmu hinwollte?«, fragte Ryu so
beiläufig wie möglich.
»Nein, natürlich nicht. Wir wissen nie, wohin er
geht. Nur Jarl hat ihn immer im Visier.« Elspeth lächelte wieder.
»Ich hoffe, das Frühstück sagt euch zu. Soll ich heute Abend
vorbeikommen und dir beim Ankleiden helfen, Jane?«
»Danke, Elspeth, da wäre ich dir dankbar«,
erwiderte
ich und erhob mich, um sie aus dem Zimmer zu bugsieren. Ryu und
ich mussten reden. Und zwar sofort.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten und sie
gegangen war, warf ich einen kurzen prüfenden Blick in den Flur, um
mich zu vergewissern, dass dort niemand lauerte, der unser Gespräch
belauschen wollte, und schloss erst dann die Tür hinter mir.
Langsam wurde ich schon paranoid.
»Nur weil du unter Verfolgungswahn leidest, heißt
das ja nicht, dass sie nicht hinter dir her sind«, sagte ich in
Gedanken zu mir selbst und verriegelte die Tür.
»Also?«, fragte ich Ryu und ließ mich wieder aufs
Sofa fallen.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als er
sie wieder öffnete, sah er leicht betreten aus. »Okay, vielleicht
war Jimmu ja wirklich in Rockabill. Stellt sich nur die Frage,
warum?«
»Ich weiß es nicht, Ryu. Iris hat doch gesagt,
Peter Jakes hätte jemanden wiedererkannt, der ihm Angst machte.
Vielleicht hat er ja schon die ganze Zeit gewusst, dass Jimmu der
Mörder ist.«
»Oder vielleicht war Jimmu auch hinter Jakes her«,
warf Ryu ein, »nur weil er wusste, dass der ein falsches
Spiel spielte und all die Halblinge tötete. Das würde genauso
erklären, dass Jakes Angst vor ihm hatte.«
Ich runzelte die Stirn. »Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Iris zwar spüren konnte, dass Peter Angst hatte,
aber nicht, dass er ein Serienmörder war. Aber das kannst du besser
einschätzen als ich.«
Ryu schenkte uns beiden Kaffee ein, und ich griff
nach einem Croissant, obwohl ich bereits gefrühstückt hatte.
»Hunger hat noch keinem geholfen«, seufzte mein Bauch
zufrieden.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte Ryu
schließlich. »Peter hätte so etwas durchaus vor Iris verbergen
können, wenn er tatsächlich so ein Psychopath gewesen wäre, für den
Mord keine große Sache ist. Aber ich habe Peter Jakes getroffen,
und er war ganz normal. Auch wenn ich natürlich weiß, dass
Psychopathen normalerweise nicht herumposaunen, dass sie einen
Knall haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber mein Bauchgefühl
sagt mir, dass du Recht hast und Jakes die Halblinge nicht getötet
hat. Vor allem, weil er dann ja auch ermordet wurde und nach ihm
noch Gretchen und Martin.« Langsam und konzentriert trank er seinen
Kaffee, als könne er Kraft aus der Tasse ziehen. »Aber die Idee,
dass es Jimmu war, der alle getötet hat, gefällt mir leider gar
nicht.«
»Na ja«, sagte ich, »es hat ja wenig Sinn, darüber
nachzudenken, welche Konsequenzen es hätte, wenn Jimmu der Mörder
wäre, wenn wir noch nicht einmal wissen, ob es stimmt oder nicht.
Jetzt müssen wir erst einmal einen Weg finden, zu beweisen, ob er
es war, und dann sehen wir weiter.«
Schweigend tranken wir unseren Kaffee. Ich nahm mir
ein weiteres Croissant.
»Was für ein Glück, dass Jimmu gerade heute
weggegangen ist, findest du nicht?«, sagte ich schließlich, als Ryu
sich gerade noch eine Tasse Kaffee einschenkte. Er sah mich
entgeistert an.
»Ich wusste doch, ich hätte meinen engen, schwarzen
Einbrecheranzug mitnehmen sollen«, sagte er dann, als der
Groschen bei ihm gefallen war. Er stürzte den restlichen Kaffee
hinunter und sprang auf. »Immerhin sehe ich mit einer Skimütze
ziemlich scharf aus.«
Mit einem Klicken sprang das Schloss auf, und wir
hielten den Atem an. Als niemand zu schreien anfing, atmeten wir
erleichtert aus. Ich warf noch einen verstohlenen Blick in den
Flur, während Ryu schon die Tür zu Jimmus Quartier öffnete.
Wir schlichen uns hinein und schlossen die Tür
hinter uns. Ryu machte das Licht an, und wir versuchten uns erst
einmal zu orientieren. Jimmus Suite sah genauso aus wie die, die
Ryu und ich uns teilten: ein Schlafzimmer mit angeschlossenem Bad
und ein kleines Wohnzimmer. Und obwohl diese Räumlichkeiten Jimmus
Zuhause waren, waren sie genauso unpersönlich gehalten wie
unsere.
»Wo hast du denn gelernt, Türen aufzubrechen?«,
zischte ich. »Und warum hat Jimmus Zimmer gar keine
Sicherheitsvorkehrungen? Sonst ist er doch auch nicht so
vertrauensselig.«
»Ich bin Nosferatu, schon vergessen?«, flüsterte
Ryu grinsend. Ihm machte das alles einen Heidenspaß, das war ihm
anzusehen. Seit wir unsere Suite verlassen hatten, strahlte er
regelrecht vor Abenteuerlust. Vielleicht gefielen ihm die Umstände
nicht gerade, aber er war definitiv ein Mann, der das Risiko
liebte. »Welcher Vampir könnte kein solch windiges Schloss
aufbrechen? Und was die Sicherheitsvorkehrungen betrifft, hier im
Verbund gibt es keine Privatunterkünfte. Reinigungspersonal und
Bedienstete müssen ein und aus gehen können. Hier am Hof ist man
zwar sicher vor der Außenwelt, aber dafür büßt man seine
Privatsphäre ein.« Er zeigte zum Schlafzimmer hinüber. »Du siehst
dich da drin um und ich hier.«
Ich steckte meinen Kopf durch Jimmus
Schlafzimmertür und versicherte mich, dass er nicht gerade ein
Nickerchen hielt, bevor ich eintrat. Irgendetwas sagte mir, dass er
immer mit dem falschen Fuß aufstand. Der Raum war genauso
kahl und unpersönlich wie das Wohnzimmer. Zuerst ging ich ins
Badezimmer, das abgesehen von einer Familienpackung Haargel und
einem Stück Seife am Waschbecken völlig leer war.
Das Schlafzimmer war nicht viel interessanter. In
der Kommode fand ich ein paar Unterhosen, dunkle Socken, die nicht
zusammenpassten, und einige Unterhemden. Im Schrank hingen
zerrissene Jeans und ein paar T-Shirts. Ich wollte die Tür schon
wieder schließen, da fiel mir auf, dass im obersten Fach noch etwas
lag.
Ich zog den kleinen Sessel aus der Zimmerecke
herüber und stieg hinauf, um besser sehen zu können. Ganz hinten in
der Ecke des obersten Fachs entdeckte ich ein stählernes Kästchen.
Ich war nicht sicher, ob ich es erreichen würde. Ich reckte mich
und streckte meine Hand danach aus, aber als ich die Box fast
berührte, spürte ich ganz deutlich ein kleines Kraftfeld. Ich
zögerte und entschied, besser nichts zu riskieren.
»Ryu«, rief ich, »ich habe da vielleicht etwas
gefunden.«
Er kam herein und klopfte sich die staubigen Hände
ab. »Da drüben ist nichts«, sagte er. »Nicht einmal eine
Zeitschrift. Scheint ja wirklich ein hochinteressanter Kerl zu
sein, dieser Jimmu. Was hast du hier drin entdeckt?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Da ist so eine
Box oben im Fach, aber ich traue mich nicht, sie anzufassen. Ich
glaube, sie ist mit einem Bann belegt.«
Ryu grinste. »Ein Bann?«
»Du weißt schon, verzaubert. Ich habe das Kribbeln
gespürt.«
Ryu stieg neben mir auf den Sessel und spähte in
den Schrank. Plötzlich fauchte er, und seine Fänge traten
hervor.
»Jane, sofort runter vom Sessel!«
Ohne zu zögern, sprang ich herunter. Wenn Befehle
so klangen, befolgte ich sie lieber.
Ryu hielt seine Hände an beide Seiten des
Kästchens, ohne es jedoch zu berühren, und konzentrierte sich. Ich
spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten, und mein Pony
fing leicht an zu flattern, als die Kraft um mich
herumwirbelte.
Nach gefühlten Stunden, die in Wahrheit wohl nicht
länger als dreißig Sekunden dauerten, hörte ich ihn schließlich
kichern, und es klang, als sei er sehr zufrieden mit sich.
»Verzaubert, tatsächlich.« Er grinste, nahm den
Kasten aus dem Fach und sprang lässig vom Sessel.
»Es war wirklich schlau von dir, das nicht
anzufassen«, sagte er, als er das Kästchen auf Jimmus Bett
abstellte. »Hättest du es berührt, wärst nicht nur du in die Luft
geflogen, sondern der ganze Gebäudeflügel.«
»Na großartig«, sagte ich trocken. »Gut, dass du
mir das sagst. Und wie hast du es dann geschafft, sie zu
öffnen?«
»Büchsen sind nun mal meine Spezialität«, sagte er
mit einem zweideutigen Grinsen. »Überhaupt bin ich gut im Öffnen
von Sachen.«
»Und ich bin der lebende Beweis dafür«, dachte ich,
ließ mich aber nicht von seiner Bemerkung ködern. »Was ist
drin?«
»Schauen wir nach«, sagte er und machte den kleinen
Verschluss der Box auf.
Vorsichtig lugten wir hinein. »Oh, Scheiße«, sagte
Ryu. Ich würgte. In dem Kästchen war ein ZipLock-Tütchen. Zuerst
dachte ich, es seien tote Mäuse darin. Dann dachte ich, es seien
tote Mäuse ohne Fell. Doch dann erkannte ich, was es wirklich
war.
Das Tütchen war voll mit abgeschnittenen
Ohren.
Da sie die ganze Zeit durch Jimmus Kraftfeld
geschützt gewesen waren, wiesen sie keinerlei Anzeichen von
Verwesung auf. Offenbar waren sie mit klinischer Präzision
abgetrennt worden. Doch keine dieser Tatsachen machte ihren Anblick
weniger grotesk. Der rosa Haufen kam mir so verletzlich vor, so
eigentümlich menschlich - von der leicht wulstigen Ohrmuschel des
einen bis zu dem makellosen Perlenohrring, mit dem ein anderes
geschmückt war. Ich glaube, es wäre mir lieber gewesen, wenn sie
bis zur Unkenntlichkeit verwest gewesen wären.
Ich ließ mich kraftlos aufs Bett fallen. Mein Magen
rebellierte. Ryu schloss den Kasten und stieg auf den Sessel, um
ihn wieder an seinen Platz zurückzustellen. Ich atmete tief und
konzentriert und sah zu, wie seine Finger vor dem Verschluss der
Schatulle herumtanzten. Als er fertig war, stellte er auch noch den
Sessel an seinen ursprünglichen Platz zurück. Dann nahm er mich bei
der Hand und führte mich zur Tür. Wir huschten aus Jimmus Zimmer,
nachdem Ryu sich vergewissert hatte, dass niemand draußen im Flur
war.
Dann führte er mich zu unserer eigenen Suite zurück. Dort
angelangt, schaffte ich es gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer,
wo ich die beiden Croissants und den Kaffee wieder von mir
gab.
Ryu hielt mir die Haare mit einer Hand aus dem
Gesicht und strich mir mit der anderen tröstend über den Rücken. Er
redete murmelnd auf mich ein, als wolle er ein Pferd beruhigen. Ich
konnte gar nicht mehr aufhören zu würgen - jedes Mal, wenn ich das
Gefühl hatte, mich besserzufühlen, musste ich an Joe Gonzalez aus
Shreveport denken. Eines der Ohren musste seins gewesen sein.
Alles, was er verbrochen hatte, war, schöne Tomaten anzupflanzen,
und jetzt steckte sein abgetrenntes Ohr in einer Plastiktüte,
während er unter der Erde verrottete.
Schließlich bekam ich mich doch wieder in den Griff
und lehnte mich zurück in Ryus Arme. Er hielt mich fest und hörte
nicht auf, beruhigend sinnloses Zeug auf mich einzureden. Mit
seiner Hilfe schaffte ich es aufzustehen und zum Waschbecken
hinüberzugehen, wo ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser wusch und
die Zähne putzte.
Dann kuschelten wir uns zusammen auf unser großes
Bett. Ich hatte solche Angst, dass ich mich regelrecht an Ryu
festklammerte. Vorher war alles wie ein cooler Krimi gewesen und
die Toten nichts als Namen auf einer Liste. Aber nun, da ich diese
Ohren gesehen hatte, wusste ich, dass das alles wirklich war. Die
Namen standen für echte Menschen - alle waren tot -, und ich hatte
heute Morgen Auge in Auge ihrem Mörder gegenübergestanden.
Ich war die Nächste auf seiner Liste.
Zitternd kniff ich die Augen zu. Ryu hielt mich
ganz fest,
küsste sanft mein Gesicht und flüsterte mir zu, ich solle zu ihm
zurückkommen. Aber wenn zu ihm zurückzukommen hieß, ein Teil seines
beschissenen Hofes hier zu sein, vielen Dank auch, dann blieb ich
lieber in meinem Lummerland.
»Hilft es dir ein bisschen, wenn ich dir sage, dass
du Recht hattest?«, fragte er mich, als ich endlich aufgehört hatte
zu zittern.
Ich dachte darüber nach - es klang ziemlich
verlockend. »Vielleicht«, sagte ich schließlich.
»Also gut, du hattest Recht.«
Ich öffnete ein Auge und sah in seine goldbraunen
Augen. »Wie Recht hatte ich?«
»Total, absolut und völlig Recht«, sagte er mit
gespieltem Ernst.
Wie immer half bei mir Humor auch dann, wenn sonst
nichts mehr helfen konnte. Aber wirklich zum Lachen war mir noch
immer nicht zumute.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte ich und öffnete
beide Augen.
Er runzelte die Stirn. »Ich habe keine Ahnung«,
erwiderte er. »Das ist zu groß für uns beide, besonders, weil wir
noch immer nicht wissen, was da vor sich geht.« Er dachte nach.
»Jetzt versuchen wir erst einmal, den Abend zu überstehen. Beim
Essen werde ich diskret ein paar Erkundigungen einziehen, und
morgen früh können wir dann vielleicht neu ansetzen. Aber für
heute, würde ich sagen, haben wir beide genug.«
Da musste ich ihm absolut zustimmen - ich hatte
definitiv genug für heute. Oder, wenn ich es mir recht überlegte,
eigentlich für mein ganzes Leben. Dezent ausgedrückt, fing
ich gerade an, auch die schlechten Seiten an der Welt meiner
Mutter zu sehen.
Ryu sah auf seine Armbanduhr. »Es ist zwei Uhr,
also haben wir noch etwa sechs Stunden bis zum Abendessen. Elspeth
wird so gegen fünf hier sein und dir beim Fertigmachen helfen.« Er
drückte sich an mich. »Was machen wir jetzt?«, fragte, er und seine
Fänge blitzten auf.
»Wie bitte? Nicht dein Ernst«, dachte ich, als er
mir mit der Hand über den Bauch und in Richtung der nördlicheren
Gefilde meines Körpers strich.
Anscheinend war es ihm doch ernst. Da fiel mir
etwas ein. »Ich weiß, was wir jetzt tun könnten«, sagte ich und
schwang die Beine auf meiner Seite aus dem Bett.
Er sah mich gespannt an, als ich in meiner Tasche
wühlte, bis ich gefunden hatte, was ich suchte. Ich zog die
lilafarbenen hochhackigen Schuhe heraus. »Du kannst mir dabei
helfen, in diesen Dingern gehen zu üben«, sagte ich grinsend.
Ich glaube zwar nicht, dass er das im Sinn hatte,
aber es war das Einzige, zu dem ich in diesem Moment in der Lage
war. Und es stellte sich heraus, dass er, was das Gehen in
Stöckelschuhen betrifft, ein echter Profi war. Ich beschloss lieber
nicht nachzufragen, woher das kam.
Irgendwie überstanden wir das Abendessen. Es war
eine formellere Angelegenheit als das ungezwungene Büfett am Abend
zuvor. Wir nahmen alle an festlich gedeckten Tischen Platz, und es
gab ein mehrgängiges Menü. Wir saßen zusammen mit Chester, dem
Ifrit, und ein paar Nahual. Sie redeten die ganze Zeit über ihre
Aktien, was mich, nachdem ich über die Absurdität der Situation
hinweg war, schrecklich
langweilte. Also nickte ich tapfer lächelnd und konzentrierte mich
lieber darauf, dass mir mein knappes Kleidchen nicht über den
Hintern hochrutschte. Ryu stellte so viele Fragen wie möglich, ohne
bei den anderen einen Verdacht zu wecken. Aber er erfuhr nichts
Weltbewegendes.
Wie Elspeth uns schon gesagt hatte, wusste niemand
etwas über Jimmus aktuelle Unternehmung.
Während des Essens gab es auch ein
Unterhaltungsprogramm. Ein Alfar-Sänger trällerte ein unglaublich
langes und monotones Liedchen, das in etwa so klang wie Enya unter
Hypnose. Dann gab es noch ein paar Ifrits, die mit Feuer
jonglierten, und ein paar Nahual-Akrobaten, die während ihrer
Darbietung die Gestalt änderten. Unter anderen Umständen hätte mich
das alles wohl fasziniert, aber angesichts dessen, was wir heute in
Erfahrung gebracht hatten, wollte ich mich am liebsten nur noch in
meinem Bett verkriechen, bis wir endlich abreisen konnten.
Dem Himmel sei Dank zogen wir uns dann auch schon
früh auf unser Zimmer zurück, wo wir uns sicher fühlten. Das
Einzige, was ich diesem ansonsten albtraumhaften Tag abgewinnen
konnte, war Ryus Gesichtsausdruck, als er ein Kondom hochhielt und
ich lächelnd den Kopf schüttelte, schließlich hatte mir Morrigan
bestätigt, dass nichts passieren konnte. Nachdem wir dann zu Ryus
großer Freude großartigen ungeschützten Sex hatten, ohne Angst vor
Schwangerschaft oder Krankheiten haben zu müssen, und es Zeit für
mich war zu schlafen, gab mir Ryu noch einen Gutenachtkuss und
stand auf. Er setzte sich mit dem Rücken zur Tür ans Bett, ein Buch
in der Hand. Ich wusste, dass er dort bis morgen früh verharren und
mich beschützen
würde, bis ich wieder aufwachte und er an der Reihe sein würde,
sich auszuruhen. Ich war zwar mental und emotional völlig
erschöpft, aber dennoch überzeugt gewesen, in dieser Nacht kein
Auge zutun zu können. Doch stattdessen rollte ich mich zusammen und
schlief sofort wie ein Stein.