KAPITEL 23
Aller Augen waren noch immer auf mich
gerichtet: manche von ihnen neugierig, manche völlig schockiert.
Ryus Gesichtsausdruck zeugte von letzterem Gemütszustand - er
starrte mich an, als hätte er mich noch nie zuvor in seinem Leben
gesehen.
Ich kniff die Augen zusammen, konnte noch immer
nicht glauben, dass ich es war, die soeben geschrien hatte.
»Kriech unter den Tisch! Sofort!«, rief mir mein
Gehirn zu, doch meine Füße waren wie mit dem Boden
verwachsen.
Erst als Jimmu auf mich zukam, schien Ryu sich von
dem Schock zu erholen. Er stellte sich schützend vor mich und
wandte sich dem Ehrenpodest zu.
»Darf ich nähertreten, mein König? Meine Königin?«,
fragte er mit klarer, fester Stimme. Als Orin und Morrigan langsam
und synchron nickten, hielt Jimmu inne.
»Bitte vergebt den Ausbruch meiner Begleiterin«,
sagte Ryu und trat in die Mitte des Gangs. Doch er hielt
gebührlichen Abstand zu den neun Nagas. »Sie wollte damit nicht
sagen, dass unsere hochgeschätzten Kameraden lügen. Vielmehr
brachte sie die von uns allen gehegte Befürchtung zum Ausdruck,
dass ein tieferes Geheimnis hinter all diesen Morden steckt.«
Ein Raunen ging durch den Saal, als sich
allgemeines Geflüster erhob. Wahrscheinlich gaben sie Wetten ab,
wie lange Ryu und ich noch leben würden, und irgendwie hatte ich
das Gefühl, dass die Wetten nicht zu unseren Gunsten
ausfielen.
»Immerhin stellt sich doch die Frage«, fuhr Ryu
gewandt und einschmeichelnd fort, »wie ein einfacher Mensch es mit
zwei ausgewachsenen Kobolden aufnehmen konnte.« Er legte eine
Kunstpause ein, und ich sah, dass einige der Anwesenden nickten. Er
spielte mit seinen Zuhörern geschickt wie auf einem
Instrument.
»Nicht, dass ich an dem Wort der Nagas zweifeln
würde«, sagte er in feierlichem Ton. »Ich weiß, wie ergeben Jimmu
und seine Geschwister ihrem Herrn gegenüber sind, aber vielleicht -
ganz vielleicht - spielte dieser Mensch hier bei all den Morden nur
eine Nebenrolle.«
Mir gefiel Ryus spöttischer Seitenhieb auf Jarl,
aber dass er Jimmus Mord an einem Unschuldigen rechtfertigte, fand
ganz und gar nicht meine Zustimmung. In der Zwischenzeit hatte ich
bemerkt, dass die Nagas etwas angespannt wirkten. Sie hatten ihre
Haltung verändert und waren nun etwas mehr auf der Hut. Ihre
Schlangenzungen flatterten nervös in der Luft, als versuchten sie,
die Geschehnisse vorauszuahnen.
Orin und Morrigan sahen sich in die Augen. Ich
hatte das Gefühl, dass sie schweigend miteinander kommunizierten.
Jarl ergriff die Gelegenheit, sich einzumischen, und ich bemerkte
einen Hauch von Panik in seiner Stimme, als er versuchte, die
Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen.
»Was hat diese Störung zu bedeuten, Ryu Baobhan
Sith?«, warf er ein. »Deine Worte sind eine klare Provokation gegen
meine Ziehkinder, die unserer Gemeinschaft schon so lange loyal
dienen. Du sagst zwar, du möchtest niemanden beleidigen, doch
tatsächlich behauptest du, sie seien Verräter. Ich schätze weder
das, was du sagst, noch das, was du damit unausgesprochen
unterstellst.«
Ryus haselnussbraune Augen weiteten sich betroffen
und brachten seine - absolut vorgetäuschte - Fassungslosigkeit über
Jarls Worte zum Ausdruck.
»Durchlaucht«, sagte Ryu scheinbar gekränkt. »Es
tut mir sehr leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte, dass
ich Zweifel an der Loyalität der Nagas hege. Ich bin absolut davon
überzeugt, dass sie ihre Pflichten treu erfüllen. Zweifellos war
dieser Mensch irgendwie in die Morde verstrickt.« Ich atmete tief
durch und zählte bis zehn. Ryu musste tun, was er tun musste.
»Ich spreche einfach nur die Meinung aus, die viele
von uns seit Bekanntwerden dieser schrecklichen Taten zum Ausdruck
gebracht haben - dass ein Mensch nicht allein für diese Morde
verantwortlich sein kann.« Nun nickten noch mehr Köpfe zustimmend,
und das Gemurmel wurde lauter, aber Ryu fuhr mit erhobener Stimme
fort, um den Tumult zu übertönen.
»Aber natürlich gibt es einen ganz einfachen Weg,
diese Theorie zu beweisen.« Bei diesen Worten verstummte der ganze
Saal.
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Anflug
von Besorgnis über Jarls Gesicht, obwohl die Nagas so gleichgültig
blieben wie Statuen.
Morrigan hob anmutig die Augenbrauen. »Fahr fort,
Ermittler«, befahl sie.
Ryu verriet nicht den Hauch von Triumph, aber
mittlerweile kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, was er fühlte.
Die Position seiner Schultern, das leicht erhobene Kinn - alles an
seiner Haltung rief: »Schach und matt!«
»Meine Königin«, er verneigte sich vor ihr. »Wohl
wissend, dass Jarl seine vertrauenswürdigsten Diener mit der
Aufgabe betraut hat, den Mörder zu finden, und ohne anzweifeln zu
wollen, dass sie unermüdlich ihre Pflicht erfüllen, halte ich es
für ratsam, ein Beweisstück aus meinen eigenen Ermittlungen in
diesen Fall mit einzubringen, das uns dabei nützlich sein kann, den
wahren Schuldigen zu ermitteln.«
Im ganzen Saal tauschten die Anwesenden überraschte
Blicke aus - niemand hatte bisher gewusst, dass Ryu an den
Ermittlungen beteiligt war. Einige sahen mich neugierig an -
wahrscheinlich ergab es plötzlich mehr Sinn, dass er mit einem
Halbling wie mir bei Hofe aufgetaucht war.
Inzwischen hatte Ryu Wally zugenickt, der sich nun
erhob und anfing, in seiner weiten Pluderhose herumzukramen. Nach
einer Weile zog er die Einkaufstüte heraus, die Ryu aus Nells und
Anyans Haus mitgenommen hatte. Wally watschelte hinüber zu Ryu, um
sie ihm zu überreichen. Ryu schenkte ihm ein angespanntes Lächeln,
das von dem Dschinn wohlwollend erwidert wurde. Ich erhaschte einen
Blick auf seine Augen, die vor gespannter Erwartung
blitzten. Mir wurde angst und bange, als ich feststellte, dass der
Dschinn nicht einfach an seinen Platz zurückkehrte, sondern
vorsorglich in Ryus Nähe verharrte.
»In dieser Tüte befindet sich die Tatwaffe, mit der
Peter Jakes ermordet wurde«, erklärte Ryu, zog den
blutverschmierten Stein heraus und hielt ihn hoch. »Ein Steingeist
hat bereits bezeugt, dass dieser Stein denjenigen identifizieren
kann, der mit ihm zugeschlagen hat.« Ryu hielt inne, um seinen
Worten mehr Gewicht zu verleihen, und nickte dann seinem König und
seiner Königin zu. »Hoheiten«, fuhr er fort, »Ihr habt die Macht,
dem Stein zu befehlen, das Wesen zu identifizieren, das ihn mit
Peter Jakes’ Blut besudelt hat. Ich hoffe aufrichtig, dass damit
die Erkenntnisse der Nagas bestätigt werden. Doch nur für den Fall,
dass ihnen irgendetwas in diesem Fall versehentlich
entgangen ist, dann wird auch dies enthüllt werden.«
Der ganze Saal hielt den Atem an, als der
Alfar-Herrscher und seine Königin still miteinander kommunizierten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wandten sie sich wieder ihrem Gefolge
zu.
»So soll es denn sein«, erklang Orins ruhige
Stimme, als er sich erhob. »Halte den Stein in die Höhe.«
Ryu hob den Arm und balancierte den Stein
vorsichtig auf seiner Handfläche. Die Nagas wirkten jetzt sehr
angespannt, und ich sah, wie eine von ihnen beiläufig hinter sich
griff und ihr Schwert zurechtrückte. Sie bereiteten sich auf den
Angriff vor. Ich sah mich nach möglichen Fluchtwegen um.
Orin hob einen Arm, und ich spürte seine
übernatürliche Kraft noch stärker als die, die Nell in der Nacht
entfesselt
hatte, als sie den Kofferraum von Peters Wagen öffnete. Die Luft
um mich herum knisterte, und mein Haar löste sich und peitschte mir
ins Gesicht. Ich musste mich am Tisch festhalten, bis sich die
Energie plötzlich zu festigen schien und sich ganz auf Ryu
ausrichtete. Es wurde totenstill, obwohl die Luft nur so vor
Energie pulsierte. Nun wusste ich, was die Leute meinten, wenn sie
von der Ruhe im Auge des Sturms sprachen.
Aller Augen waren auf den Stein gerichtet, der nun
knapp über Ryus ausgestreckter Hand schwebte. Er drehte sich wie
wild in der Luft und huschte von Zeit zu Zeit in die eine oder
andere Richtung, nur um sogleich wieder zu seiner Ausgangsposition
über Ryus Hand zurückzukehren, wo er dann zögerlich herumwaberte.
Orins Züge verhärteten sich, als er sich noch stärker
konzentrierte, und plötzlich hörte der Stein auf, sich wild um sich
zu drehen. Alle hielten den Atem an, außer ich. Ich nutzte die
Gelegenheit, meine Schuhe abzustreifen, denn ich wusste, was nun
kommen würde.
Mit einem scharfen Zischlaut stieß der Nahual neben
mir die Luft aus, als der Stein plötzlich wie eine Kanonenkugel in
die Mitte des Podestes schoss. Allgemeines Raunen wurde laut, als
der Stein direkt über den Haufen Menschenteile hinwegraste und wie
ein Pfeil auf Jimmus Kopf zusteuerte. Die Schlangenreflexe des Naga
ließen seine Hand hochschnellen, und geschickt fing er den Stein in
der Luft ab. Sein Gewicht ließ ihn geräuschvoll gegen die
Handfläche prallen.
»Nein!«, schrie Jarl auf. Sein Gesicht war qualvoll
verzerrt, und er fasste sich mit der Hand an die Brust. »Jimmu...«,
flüsterte er und streckte die andere Hand nach seinem
Lieblingszögling aus.
Der Naga schüttelte heftig den Kopf, ließ den Stein
fallen und fasste den Griff seines Schwertes. Er zog die Waffe, und
ein metallenes Echo hallte durch den Saal, als die anderen Nagas
ebenfalls ihre Schwerter zogen.
»Du kontrollierst mich nicht, Jarl«, rief der
Schlangenmann zum Entsetzen seines Herrn. Doch einen Moment später
schien sich der Stellvertreter des Königspaares wieder im Griff zu
haben.
»Jimmu?«, sagte er erneut, aber diesmal klang seine
Stimme fragend.
»Jimmu und seine Geschwister handeln auf eigene
Verantwortung«, sagte der Naga mit fester Stimme.
Ich kniff die Augen zusammen. »Da macht sich wohl
einer selbst zum Bauernopfer«, dachte ich skeptisch.
Morrigans Stimme klang noch immer leise und schwer,
aber etwas angespannter als sonst. »Gestehst du deine Schuld ein?«,
fragte sie.
»Ja. Ich habe die Halblinge und die Kobolde
getötet.« Jimmus Stimme klang so gleichgültig, als bestelle er eine
Tasse Kaffee.
»Warum, Jimmu?«, jammerte Jarl. Ich fragte mich, ob
er wissen wollte, warum Jimmu sich opferte, oder ob er vielleicht -
ganz vielleicht - wirklich nichts von Jimmus Machenschaften gewusst
hatte. Ich hoffte, dass dies der Fall war, aber irgendetwas sagte
mir, ich sollte mich nicht allzu sehr an diese Variante der
Geschichte gewöhnen.
»Ich verabscheue Halblinge«, erwiderte der Naga
ohne zu zögern. »Sie sind eine Schande, und sie korrumpieren
uns. Sie verdienen den Tod, denn ihre bloße Existenz macht unsere
Gemeinschaft zum Gespött.«
»Nimm nur kein Blatt vor den Mund«, dachte ich
bitter. »Lass uns ruhig wissen, was du von uns hältst...« Doch
darüber musste ich mir keine Sorgen machen; Jimmu schien es kaum
erwarten zu können, seine Meinung über Halblinge kundzutun.
»Ich fand, dass Euer Interesse an den Halblingen
Schande über uns bringt. Ich fürchtete, Ihr habt vor, sie in unsere
Gemeinschaft aufzunehmen. Diese Idee erfüllte mich mit Abscheu,
also heftete ich mich an Peters Fersen und ließ jedes einzelne
seiner Forschungsobjekte verschwinden. Bis er Verdacht schöpfte -
dann war er einfach nur ein weiterer Halblingsschandfleck, den es
auszumerzen galt. Und die Kobolde, nun ja...«, er zuckte mit den
Schultern, »…die sind mir eben in die Quere gekommen.«
Hinter mir zischte es aufgebracht, und einige
Kobolde - die fast alle anderen Kreaturen im Saal überragten -
bleckten ihre zahlreichen spitzen Zähne. Ich packte meine schönen
Schuhe und trat unauffällig vom Tisch zurück.
»Ist das alles, was du zu dieser Sache zu sagen
hast?«, wollte Orin wissen. Er wirkte noch immer so überraschend
ruhig, als würde er sich nur nach dem Wetter erkundigen. »Ist das
die Rechtfertigung für deine Taten?«
Jimmu zuckte mit formvollendetem Gleichmut mit den
Schultern. »Meine Rechtfertigung ist die bloße Existenz von Wesen
wie diesem«, sagte er, wandte sich um und zeigte auf mich.
Ich stöhnte innerlich auf, und gleichzeitig ließ ich mich
reflexartig zu einem völlig unangemessenen, verlegenen Winken
hinreißen. »Warum zur Hölle habe ich
das jetzt bloß getan?«, dachte ich, während Jimmu bereits
seine Schmährede fortsetzte.
»Halblinge sind eine Plage, von der unsere
Gemeinschaft reingewaschen werden muss«, predigte er. »Jeder hier,
der das nicht so sieht, bringt Schande über sich selbst und unser
gesamtes Volk.«
Im Saal herrschte Schweigen. Ich sah mich um, und
obwohl die meisten Wesen um mich herum wütend über Jimmus Worte
wirkten, waren da doch einige, die meiner Ansicht nach nicht völlig
anderer Meinung zu sein schienen. Ich bemerkte auch, dass mich
einige regelrecht anstarrten und senkte daraufhin schnell meinen
Blick.
Schließlich erklangen Orins und Morrigans Stimmen.
Sie sprachen im Gleichklang, und in ihren Worten schwang ihre ganze
königliche Autorität.
»Jimmu und Geschwister: Ihr habt ernste Verbrechen
gegen unsere Gemeinschaft begangen, zu der auch unsere
Halblings-Brüder und -Schwestern gehören. Mit euren Taten seid ihr
das Risiko eingegangen, die Aufmerksamkeit der Menschen über Gebühr
auf uns zu ziehen. Und ihr habt vor euren Herrschern und ihrem
Hofstaat falsches Zeugnis abgelegt. Für diese Verbrechen, die einem
Verrat gleichkommen, habt ihr eure Leben verwirkt. Kniet nieder und
akzeptiert unser Recht, denn es ist auch euer Recht.«
Wenig überraschend knieten die Nagas nicht nieder.
Stattdessen bildeten sie einen Kreis um Jimmu, ihren erstgeborenen
Bruder und naturgegebenen Anführer.
»So sei es«, sagten die Nagas feierlich im Chor,
als wollten sie den Beweis erbringen, dass sie ebenfalls
gleichzeitig sprechen konnten. Wie ein Mann erhoben sie ihre
Schwerter,
die blau zu glühen begonnen hatten wie die unheimliche
Stichflamme, mit der Ryu das Schreiben von Gretchen verbrannt
hatte.
An diesem Abend hatte es bereits eine Menge
Geräusche gegeben, die ich noch nie gehört hatte und nie wieder
hören wollte, wie etwa diejenigen, die aus Jimmus Leichensack
gekommen waren. Doch der nächste Laut, den ich im Saal vernahm, war
einer, den ich mit ziemlicher Sicherheit wiedererkannte.
Es war der unverwechselbare Klang der Kacke, die am
Dampfen war.
Mit einem erbitterten Schrei löste sich Jimmu aus
dem Kreis der Nagas und stürzte sich direkt auf Ryu.
Doch der war darauf vorbereitet und streifte
blitzschnell sein Jackett ab, während Wally zwei Krummschwerter aus
seiner Pluderhose zauberte. Der Dschinn warf Ryu eine der
bedrohlich aussehenden Klingen zu, und die beiden nahmen Seite an
Seite ihre Verteidigungsposition ein. Fasziniert wurde ich Zeuge,
wie Ryu auf Jimmus Angriff mit Neos berühmter Ausweichbewegung aus
dem Film Matrix reagierte.
Die kleine Hirnregion, die noch eine Spur von
Kontrolle über die Situation behielt, fragte sich verwundert, was
Wally wohl noch so alles in seiner Hose hatte. »Vielleicht einen
Weg hier raus«, grübelte ich, während Jimmus Schwert mit einem
lauten Klirren auf Ryus traf. Bei diesem Geräusch schwärmten auch
die restlichen Nagas aus und griffen an unterschiedlichen Stellen
des Saals an. Als Reaktion darauf zückten die Anwesenden Knüppel
und zauberten alle möglichen Waffen unter Röcken, Mänteln und sogar
aus dem Nichts hervor. Die Nahual verwandelten sich allesamt in
Löwen, Tiger oder Bären, während die Alfar allerlei leuchtende
Kugeln, die sie als Wurfgeschosse gegen die Nagas einsetzten, oder
lichtschwertartige Gebilde hervorbrachten.
Inzwischen schienen die Nagas - die, wie ich mir
selbst in Erinnerung rufen musste, ja nur zu neunt waren - überall
auf einmal zu sein. Drei hatten sich in große schwarze Schlangen
verwandelt. Sie waren riesig: lang wie Wohnwagen und dick wie drei
Wrestler. Ihre Giftzähne erschienen mir so groß wie mein eigener
Körper, und sie hatten Nackenschilde wie Kobras, mit roten Schuppen
an der Innenseite.
Doch die sechs von ihnen, die ihre menschliche
Gestalt behalten hatten, wirkten nicht weniger bedrohlich als ihre
Schlangengeschwister. Sie bewegten sich genauso geschmeidig und
unerbittlich vorwärts wie Wasser, das aus einem Glas floss, und
schlugen mit ihren glühenden Schwertern eine Schneise vor sich.
Entsetzt sah ich mit an, wie eine Nagafrau einen Nahual in
Tigerform niederstach. Die Raubkatze hatte sich von einem Tisch
hinter der Schlangenfrau auf sie gestürzt, doch diese war
rechtzeitig herumgewirbelt und hatte den Tiger mit einem gezielten
Hieb in zwei Teile geschnitten. Und nun rührte sich keine der
beiden Hälften mehr.
Ähnliches Gemetzel ging überall im Saal vonstatten,
doch meine Aufmerksamkeit kehrte schnell wieder zu Jimmu und Ryu
zurück, die noch immer erbittert gegeneinander kämpften. Sie
schwangen ihre Schwerter so schnell, dass die Bewegung verschwamm
und ich nicht mehr erkennen
konnte, wer überlegen war. Ich hatte den verzweifelten Wunsch, dem
Mann, den ich liebte, zu helfen, aber ich sah keine Möglichkeit,
auch nur in seine Nähe zu kommen. Ich überlegte kurz, ob ich einen
Stuhl nach Jimmu werfen sollte, aber dann stellte ich mir vor, aus
Versehen Ryu zu treffen und verwarf den Gedanken wieder. Noch nie
in meinem Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt.
Ein Gefühl, das sich noch verschärfte, als ich
merkte, dass irgendjemand den Tumult zu nutzen schien, mich in den
Hintern zu kneifen. Ich zuckte zusammen und fuhr herum, nur um
festzustellen, dass Wally sich irgendwie von hinten an mich
herangepirscht hatte. Er grinste mich mit funkelnden Augen an, und
ich machte einen Schritt zurück. Vertrau niemandem, hatte Ryu mir
geraten, und seine Worte klangen noch immer in meinem Kopf
nach.
Aber Wally wollte mir nichts tun. »Bring dich in
Sicherheit, Halbling«, sagte er. »Dein Bettgenosse ist beschäftigt,
und es könnte hässlich werden.«
»Bettgenosse?«, dachte ich fassungslos. »Und was
zum Teufel meint er mit ›Es könnte hässlich werden‹?«
Aber ich nahm mir Wallys Ratschlag zu Herzen. Mit
einem letzten besorgten Blick auf die beiden Kämpfenden umklammerte
ich meine Schuhe und machte mich so unauffällig wie möglich aus dem
Staub.
Plötzlich wurde die Halle durch eine Explosion
erschüttert. Der König und die Königin mischten sich endlich in das
Kampfgeschehen ein und hatten zwei große Energiebälle auf einen
Naga in Schlangenform geschleudert. Beide schlugen ein wie Torpedos
und rissen der Schlange den Kopf ab. Ihr Körper schwankte hin und
her, Blut spritzte fontänenartig
aus der Wunde wie rotes Öl, bevor er zu Boden sank und dabei einen
überraschten Elben unter sich begrub. Die Alfar-Monarchen machten
sich ruhig daran, weitere Geschosse zu erschaffen, indem sie
Energie in kleinen Kugeln bündelten, die in ihren Handflächen immer
größer wurden.
Die Erschütterung der Explosion hatte mich
umgeworfen, und ich brauchte einen Moment, um mich wieder
aufzurappeln. Der Teil von mir, der nicht vor Angst halb starb,
amüsierte sich über die Tatsache, dass ich mich noch immer an meine
Schuhe klammerte. Wie schon gesagt, auch ich hatte so meine
Prinzipien. Bei meinem Rundblick vorhin hatte ich einen Ausgang
ganz in der Nähe unseres Tisches entdeckt, der mit einem kurzen
Sprint zu erreichen war. Der Weg dorthin war auch relativ frei, da
sich das Geschehen momentan weitgehend auf den mittleren Bereich
vorne in der Halle konzentrierte.
Noch immer halb am Boden kauernd, biss ich die
Zähne zusammen und visierte mein Ziel an. Langsam richtete ich mich
auf, um darauf zuzurennen, doch mitten in der Bewegung hielt ich
noch einmal inne. Aus dem Augenwinkel hatte ich Nyx’ Begleiter
entdeckt. Er saß noch immer neben der Ehrentafel und schien das
Chaos um sich herum gar nicht zu bemerken. Ich konnte ihn nicht
einfach hier zurücklassen, denn seine Entführerin war zu
beschäftigt, um ihn zu beschützen. Gerade hing Nyx am Nackenschild
einer der schlangenförmigen Nagas, brüllte wie verrückt, und ihr
Arm steckte bis zum Ellenbogen in der Augenhöhle der Natter. Sie
schien einen Heidenspaß zu haben.
Ich fluchte und machte kehrt. Es gab noch einen
anderen Fluchtweg direkt hinter der Stelle, an der der Mann
saß. Dieser Ausgang war genauso gut wie derjenige, auf den ich
gerade zustürzen wollte, und ich konnte mir auf dem Weg auch noch
den armen Kerl schnappen. Also lief ich gebückt auf den vorderen
Teil der Halle zu und versuchte dabei noch, den Kämpfen
auszuweichen und trotzdem so schnell wie möglich zu meinem Ziel zu
kommen.
Als ich an eine der massiven Säulen gelangt war,
lehnte ich mich für einen Moment dagegen und stieß die Luft aus,
die ich den ganzen Spurt über angehalten hatte.
Inzwischen waren noch zwei weitere Alfar-Granaten
geworfen worden. Morrigans hatte ein übel aussehendes Loch ins
Nackenschild einer der verbliebenen Schlangen gerissen, die sich
nun vor Schmerz am Boden wand. Doch Orins Geschoss war zu weit
geflogen und schlug mit schrecklichen Folgen in ein Grüppchen
Bediensteter des Hofes ein. Ich zwang mich, den Blick von diesem
Blutbad abzuwenden, und betete im Stillen, dass Elspeth nicht unter
den Toten war.
Als mein Blick auf Ryu fiel, der glücklicherweise
noch am Leben war, aber weiterhin mit Jimmu focht, atmete ich tief
durch und fasste den Mut, meine Deckung hinter der Säule zu
verlassen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich mir langsam ein Knäuel
Kämpfender näherte, das aus zwei Spriggan-Bodyguards und der
zweiten Nagafrau bestand. Es sah so aus, als versuchten sich alle
drei gegenseitig totzuprügeln. Mir fiel wieder ein, dass Ryu gesagt
hatte, die Spriggans seien Söldner, und mindestens einer von ihnen
schien auch wirklich nicht so recht zu wissen, auf welcher Seite er
stand.
Hastig stieß ich mich also von der Säule ab und
stürzte mich ins Getümmel. So schnell ich konnte, rannte ich auf
den Menschen und den Ausgang hinter ihm zu. Ich schrie auf, als
ein abgetrennter Arm direkt vor mir landete. Zu meinem Entsetzen
erkannte ich den goldenen Armreif an dem fleischigen Bizeps - es
war Wallys. Schon war der Dschinn zur Stelle und kniete sich hin,
um sein abgetrenntes Körperteil aufzuheben. Er verdrehte die Augen,
wie jemand, der sich über seine eigene Ungeschicktheit lustig
macht, weil ihm gerade der Geldbeutel runtergefallen ist, und
steckte sich den Arm einfach wieder an. Dann fischte er noch
eine Waffe aus seiner Pluderhose - diesmal eine ziemlich gemein
aussehende Keule - und stürzte sich wieder ins Gemenge. Dabei
grinste er, als würde er Süßigkeiten und keine Schläge
verteilen.
Ich schüttelte den Kopf und rannte gebückt weiter.
Als ich den Mann erreicht hatte, saß er noch immer da, als befände
er sich zu Hause auf dem Sofa und nicht am Rande eines
Schlachtfelds. Ich packte seine Hand und wollte ihn mit mir zur Tür
ziehen, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Ich zog noch fester an
ihm, stemmte mich in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel gegen seinen
Widerstand - ohne Erfolg.
Schließlich richtete ich mich auf und ließ seine
Hand los. Ich sah ihn ratlos an, doch in seinen Augen herrschte
gähnende Leere. Also nahm ich all meinen weiblichen Instinkt
zusammen und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wahrscheinlich hätte
ich ihm genauso gut einen Peitschenhieb versetzen können.
Doch der Schlag tat seine Wirkung. Er zwinkerte
einmal, dann noch einmal und erwachte plötzlich wieder zum Leben.
Ich packte ihn an den Schultern, damit er seine Aufmerksamkeit auf
mich richtete, denn es hätte keinem von
uns genutzt, wenn er in diesem Moment in Panik ausgebrochen
wäre.
Die Alfar hatten mittlerweile das Sperrfeuer
eröffnet, und kleinere Explosionen erschütterten die Halle an
verschiedenen Orten. Wir mussten von hier verschwinden und zwar
pronto.
»Hey, Kumpel«, sagte ich laut genug, damit er mich
bei all dem Lärm um uns herum hören konnte, aber trotzdem so
gefasst wie möglich. »Wie heißt du?«
»Ed«, sagte er irritiert. »Wo bin ich?«
Er versuchte, sich umzusehen, aber ich legte meine
Hände an seine Wangen, damit er seinen Blick auf mich gerichtet
hielt. »Ed«, erklärte ich, »wir sind an einem Ort, an dem keiner
von uns sein möchte. Also lass uns von hier verschwinden, okay?«
Ich nahm seine Hand und versuchte wieder, ihn wegzuziehen, aber er
rührte sich noch immer nicht.
»Da war so eine Frau…«, murmelte er immer noch
sichtlich verwirrt.
»Ja«, unterbrach ich seine Gedanken, »da war eine
Frau, aber jetzt ist sie weg. Wir müssen los und zwar sofort.«
Meine Stimme wurde vor Aufregung langsam schrill. Rechts neben uns
kam Unruhe auf, und allerlei Kreaturen hechteten aus dem Weg.
Irgendetwas kam da auf uns zu.
Ich zog noch fester an seiner Hand, und er sah mich
an. Langsam machte er Anstalten aufzustehen, als ob er meine Angst
spürte. Ich zerrte weiter an ihm und signalisierte ihm, sich zu
beeilen. Er nickte, als habe er gerade eine Entscheidung getroffen,
und erhob sich endlich. Mit einem entschlossenen Satz sprang er vom
Podest und landete direkt hinter mir. Er machte eine Kopfbewegung
zur Tür. »Los,
lauf«, sagte er, und ich war gerade dabei mich umzudrehen, als ich
etwas Feuchtes an meine Wange spritzen spürte. Der Gesichtsausdruck
des Mannes verwandelte sich wie in Zeitlupe von Entschlossenheit in
Verständnislosigkeit. Unser beider Blicke wanderten nach unten, und
völlig fassungslos betrachteten wir das glühende Schwert, das ihm
aus der Brust herausstand. Seine Augen erloschen, und er sank auf
die Knie. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich schrie.
Eine Bewegung hinter dem Rücken des sterbenden
Mannes zog meinen Blick an. Es war Jimmu. Er hatte das Schwert
geworfen - entweder auf mich, und der Mann war dazwischen geraten,
oder auf den Mann, um Jimmu den Weg frei zu machen. So oder so, nun
stand nichts mehr zwischen mir und der mörderischen Wut des
Naga.
Ich wich zurück und kämpfte gegen Jimmus lähmenden
Blick an. Ich wünschte, ich hätte noch einmal die Gelegenheit,
meinen Vater anzurufen. Die Ereignisse hatten mich so überrumpelt,
dass ich gar nicht daran gedacht hatte, meine Angelegenheiten zu
regeln. Aber ich denke, es ist normal, dass Leute Mitte zwanzig
nicht an so etwas denken. Ein Fehler, den ich sicher nicht noch
einmal machen würde - das heißt, falls ich noch einmal die
Gelegenheit dazu bekam.
»Und vor ein paar Tagen hast du dir noch Gedanken
darüber gemacht, wie es ist, ewig zu leben«, dachte ich, als sich
Jimmus Gesicht meinem auf Zentimeter näherte. Anscheinend wollte er
mir in die Augen sehen, wenn er mich tötete.
Doch bevor der Dolch, den Jimmu bereits gezückt
hatte, meine Kehle erreichte, stürzte sich Ryu auf den Naga. Mein
Beschützer blutete heftig aus einer klaffenden Wunde im
Gesicht, und er schien etwas zu humpeln, aber es gelang ihm
trotzdem, Jimmu von mir weg und zu Boden zu reißen. Dabei flog dem
Angreifer der Dolch aus der Hand, und Ryu nutzte die Gelegenheit,
Jimmu mit den Fäusten zu bearbeiten. Da mir bewusst war, dass ich
noch immer nicht in Sicherheit war, und weil ich nicht mit ansehen
wollte, wie jemand zu blutigem Brei geschlagen wurde, ganz gleich,
wie wenig ich ihn mochte, beschloss ich, alles Weitere Ryu zu
überlassen. Mit einem letzten Blick auf den toten Menschen, dessen
Tod beim Versuch ihn zu retten ich letztendlich verschuldet hatte,
floh ich durch die Tür aus der Halle.
Ich fand mich auf einem der endlos langen Flure des
Verbundsgebäudes wieder. Dieser hier war eng und hatte Wände aus
dunklem Stein. Nur wenige Türen schienen von ihm abzugehen. Ich gab
meinen Augen einen Moment Zeit, um sich an das trübe Licht zu
gewöhnen, bevor ich weiterging. Ein paar Sekunden später vernahm
ich ein Geräusch, das mich unwillkürlich innehalten ließ, bis mir
klarwurde, dass es von mir selbst ausging. Ich weinte - der Schreck
der Ereignisse dieses Abends saß mir tief in den Knochen. Aber ich
beschloss, mich nicht um meine Tränen zu kümmern, sondern mich
darauf zu konzentrieren, einfach immer weiter zu gehen.
Das bedeutete jedoch auch, dass ich die Schritte
meines Angreifers nicht hörte. Gerade war ich noch stur vor mich
hin gestapft, und schon drückte mich jemand gegen die Wand und
quetschte mir mit einer Hand die Luft ab.
»Oh verdammt«, dachte ich noch, als alles um mich
herum grau wurde. »Das hätte ich kommen sehen müssen.«