KAPITEL 23
024
Aller Augen waren noch immer auf mich gerichtet: manche von ihnen neugierig, manche völlig schockiert. Ryus Gesichtsausdruck zeugte von letzterem Gemütszustand - er starrte mich an, als hätte er mich noch nie zuvor in seinem Leben gesehen.
Ich kniff die Augen zusammen, konnte noch immer nicht glauben, dass ich es war, die soeben geschrien hatte.
»Kriech unter den Tisch! Sofort!«, rief mir mein Gehirn zu, doch meine Füße waren wie mit dem Boden verwachsen.
Erst als Jimmu auf mich zukam, schien Ryu sich von dem Schock zu erholen. Er stellte sich schützend vor mich und wandte sich dem Ehrenpodest zu.
»Darf ich nähertreten, mein König? Meine Königin?«, fragte er mit klarer, fester Stimme. Als Orin und Morrigan langsam und synchron nickten, hielt Jimmu inne.
»Bitte vergebt den Ausbruch meiner Begleiterin«, sagte Ryu und trat in die Mitte des Gangs. Doch er hielt gebührlichen Abstand zu den neun Nagas. »Sie wollte damit nicht sagen, dass unsere hochgeschätzten Kameraden lügen. Vielmehr brachte sie die von uns allen gehegte Befürchtung zum Ausdruck, dass ein tieferes Geheimnis hinter all diesen Morden steckt.«
Ein Raunen ging durch den Saal, als sich allgemeines Geflüster erhob. Wahrscheinlich gaben sie Wetten ab, wie lange Ryu und ich noch leben würden, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Wetten nicht zu unseren Gunsten ausfielen.
»Immerhin stellt sich doch die Frage«, fuhr Ryu gewandt und einschmeichelnd fort, »wie ein einfacher Mensch es mit zwei ausgewachsenen Kobolden aufnehmen konnte.« Er legte eine Kunstpause ein, und ich sah, dass einige der Anwesenden nickten. Er spielte mit seinen Zuhörern geschickt wie auf einem Instrument.
»Nicht, dass ich an dem Wort der Nagas zweifeln würde«, sagte er in feierlichem Ton. »Ich weiß, wie ergeben Jimmu und seine Geschwister ihrem Herrn gegenüber sind, aber vielleicht - ganz vielleicht - spielte dieser Mensch hier bei all den Morden nur eine Nebenrolle.«
Mir gefiel Ryus spöttischer Seitenhieb auf Jarl, aber dass er Jimmus Mord an einem Unschuldigen rechtfertigte, fand ganz und gar nicht meine Zustimmung. In der Zwischenzeit hatte ich bemerkt, dass die Nagas etwas angespannt wirkten. Sie hatten ihre Haltung verändert und waren nun etwas mehr auf der Hut. Ihre Schlangenzungen flatterten nervös in der Luft, als versuchten sie, die Geschehnisse vorauszuahnen.
Orin und Morrigan sahen sich in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass sie schweigend miteinander kommunizierten. Jarl ergriff die Gelegenheit, sich einzumischen, und ich bemerkte einen Hauch von Panik in seiner Stimme, als er versuchte, die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen.
»Was hat diese Störung zu bedeuten, Ryu Baobhan Sith?«, warf er ein. »Deine Worte sind eine klare Provokation gegen meine Ziehkinder, die unserer Gemeinschaft schon so lange loyal dienen. Du sagst zwar, du möchtest niemanden beleidigen, doch tatsächlich behauptest du, sie seien Verräter. Ich schätze weder das, was du sagst, noch das, was du damit unausgesprochen unterstellst.«
Ryus haselnussbraune Augen weiteten sich betroffen und brachten seine - absolut vorgetäuschte - Fassungslosigkeit über Jarls Worte zum Ausdruck.
»Durchlaucht«, sagte Ryu scheinbar gekränkt. »Es tut mir sehr leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte, dass ich Zweifel an der Loyalität der Nagas hege. Ich bin absolut davon überzeugt, dass sie ihre Pflichten treu erfüllen. Zweifellos war dieser Mensch irgendwie in die Morde verstrickt.« Ich atmete tief durch und zählte bis zehn. Ryu musste tun, was er tun musste.
»Ich spreche einfach nur die Meinung aus, die viele von uns seit Bekanntwerden dieser schrecklichen Taten zum Ausdruck gebracht haben - dass ein Mensch nicht allein für diese Morde verantwortlich sein kann.« Nun nickten noch mehr Köpfe zustimmend, und das Gemurmel wurde lauter, aber Ryu fuhr mit erhobener Stimme fort, um den Tumult zu übertönen.
»Aber natürlich gibt es einen ganz einfachen Weg, diese Theorie zu beweisen.« Bei diesen Worten verstummte der ganze Saal.
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Anflug von Besorgnis über Jarls Gesicht, obwohl die Nagas so gleichgültig blieben wie Statuen.
Morrigan hob anmutig die Augenbrauen. »Fahr fort, Ermittler«, befahl sie.
Ryu verriet nicht den Hauch von Triumph, aber mittlerweile kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, was er fühlte. Die Position seiner Schultern, das leicht erhobene Kinn - alles an seiner Haltung rief: »Schach und matt!«
»Meine Königin«, er verneigte sich vor ihr. »Wohl wissend, dass Jarl seine vertrauenswürdigsten Diener mit der Aufgabe betraut hat, den Mörder zu finden, und ohne anzweifeln zu wollen, dass sie unermüdlich ihre Pflicht erfüllen, halte ich es für ratsam, ein Beweisstück aus meinen eigenen Ermittlungen in diesen Fall mit einzubringen, das uns dabei nützlich sein kann, den wahren Schuldigen zu ermitteln.«
Im ganzen Saal tauschten die Anwesenden überraschte Blicke aus - niemand hatte bisher gewusst, dass Ryu an den Ermittlungen beteiligt war. Einige sahen mich neugierig an - wahrscheinlich ergab es plötzlich mehr Sinn, dass er mit einem Halbling wie mir bei Hofe aufgetaucht war.
Inzwischen hatte Ryu Wally zugenickt, der sich nun erhob und anfing, in seiner weiten Pluderhose herumzukramen. Nach einer Weile zog er die Einkaufstüte heraus, die Ryu aus Nells und Anyans Haus mitgenommen hatte. Wally watschelte hinüber zu Ryu, um sie ihm zu überreichen. Ryu schenkte ihm ein angespanntes Lächeln, das von dem Dschinn wohlwollend erwidert wurde. Ich erhaschte einen Blick auf seine Augen, die vor gespannter Erwartung blitzten. Mir wurde angst und bange, als ich feststellte, dass der Dschinn nicht einfach an seinen Platz zurückkehrte, sondern vorsorglich in Ryus Nähe verharrte.
»In dieser Tüte befindet sich die Tatwaffe, mit der Peter Jakes ermordet wurde«, erklärte Ryu, zog den blutverschmierten Stein heraus und hielt ihn hoch. »Ein Steingeist hat bereits bezeugt, dass dieser Stein denjenigen identifizieren kann, der mit ihm zugeschlagen hat.« Ryu hielt inne, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, und nickte dann seinem König und seiner Königin zu. »Hoheiten«, fuhr er fort, »Ihr habt die Macht, dem Stein zu befehlen, das Wesen zu identifizieren, das ihn mit Peter Jakes’ Blut besudelt hat. Ich hoffe aufrichtig, dass damit die Erkenntnisse der Nagas bestätigt werden. Doch nur für den Fall, dass ihnen irgendetwas in diesem Fall versehentlich entgangen ist, dann wird auch dies enthüllt werden.«
Der ganze Saal hielt den Atem an, als der Alfar-Herrscher und seine Königin still miteinander kommunizierten. Nach einer gefühlten Ewigkeit wandten sie sich wieder ihrem Gefolge zu.
»So soll es denn sein«, erklang Orins ruhige Stimme, als er sich erhob. »Halte den Stein in die Höhe.«
Ryu hob den Arm und balancierte den Stein vorsichtig auf seiner Handfläche. Die Nagas wirkten jetzt sehr angespannt, und ich sah, wie eine von ihnen beiläufig hinter sich griff und ihr Schwert zurechtrückte. Sie bereiteten sich auf den Angriff vor. Ich sah mich nach möglichen Fluchtwegen um.
Orin hob einen Arm, und ich spürte seine übernatürliche Kraft noch stärker als die, die Nell in der Nacht entfesselt hatte, als sie den Kofferraum von Peters Wagen öffnete. Die Luft um mich herum knisterte, und mein Haar löste sich und peitschte mir ins Gesicht. Ich musste mich am Tisch festhalten, bis sich die Energie plötzlich zu festigen schien und sich ganz auf Ryu ausrichtete. Es wurde totenstill, obwohl die Luft nur so vor Energie pulsierte. Nun wusste ich, was die Leute meinten, wenn sie von der Ruhe im Auge des Sturms sprachen.
Aller Augen waren auf den Stein gerichtet, der nun knapp über Ryus ausgestreckter Hand schwebte. Er drehte sich wie wild in der Luft und huschte von Zeit zu Zeit in die eine oder andere Richtung, nur um sogleich wieder zu seiner Ausgangsposition über Ryus Hand zurückzukehren, wo er dann zögerlich herumwaberte. Orins Züge verhärteten sich, als er sich noch stärker konzentrierte, und plötzlich hörte der Stein auf, sich wild um sich zu drehen. Alle hielten den Atem an, außer ich. Ich nutzte die Gelegenheit, meine Schuhe abzustreifen, denn ich wusste, was nun kommen würde.
Mit einem scharfen Zischlaut stieß der Nahual neben mir die Luft aus, als der Stein plötzlich wie eine Kanonenkugel in die Mitte des Podestes schoss. Allgemeines Raunen wurde laut, als der Stein direkt über den Haufen Menschenteile hinwegraste und wie ein Pfeil auf Jimmus Kopf zusteuerte. Die Schlangenreflexe des Naga ließen seine Hand hochschnellen, und geschickt fing er den Stein in der Luft ab. Sein Gewicht ließ ihn geräuschvoll gegen die Handfläche prallen.
»Nein!«, schrie Jarl auf. Sein Gesicht war qualvoll verzerrt, und er fasste sich mit der Hand an die Brust. »Jimmu...«, flüsterte er und streckte die andere Hand nach seinem Lieblingszögling aus.
Der Naga schüttelte heftig den Kopf, ließ den Stein fallen und fasste den Griff seines Schwertes. Er zog die Waffe, und ein metallenes Echo hallte durch den Saal, als die anderen Nagas ebenfalls ihre Schwerter zogen.
»Du kontrollierst mich nicht, Jarl«, rief der Schlangenmann zum Entsetzen seines Herrn. Doch einen Moment später schien sich der Stellvertreter des Königspaares wieder im Griff zu haben.
»Jimmu?«, sagte er erneut, aber diesmal klang seine Stimme fragend.
»Jimmu und seine Geschwister handeln auf eigene Verantwortung«, sagte der Naga mit fester Stimme.
Ich kniff die Augen zusammen. »Da macht sich wohl einer selbst zum Bauernopfer«, dachte ich skeptisch.
Morrigans Stimme klang noch immer leise und schwer, aber etwas angespannter als sonst. »Gestehst du deine Schuld ein?«, fragte sie.
»Ja. Ich habe die Halblinge und die Kobolde getötet.« Jimmus Stimme klang so gleichgültig, als bestelle er eine Tasse Kaffee.
»Warum, Jimmu?«, jammerte Jarl. Ich fragte mich, ob er wissen wollte, warum Jimmu sich opferte, oder ob er vielleicht - ganz vielleicht - wirklich nichts von Jimmus Machenschaften gewusst hatte. Ich hoffte, dass dies der Fall war, aber irgendetwas sagte mir, ich sollte mich nicht allzu sehr an diese Variante der Geschichte gewöhnen.
»Ich verabscheue Halblinge«, erwiderte der Naga ohne zu zögern. »Sie sind eine Schande, und sie korrumpieren uns. Sie verdienen den Tod, denn ihre bloße Existenz macht unsere Gemeinschaft zum Gespött.«
»Nimm nur kein Blatt vor den Mund«, dachte ich bitter. »Lass uns ruhig wissen, was du von uns hältst...« Doch darüber musste ich mir keine Sorgen machen; Jimmu schien es kaum erwarten zu können, seine Meinung über Halblinge kundzutun.
»Ich fand, dass Euer Interesse an den Halblingen Schande über uns bringt. Ich fürchtete, Ihr habt vor, sie in unsere Gemeinschaft aufzunehmen. Diese Idee erfüllte mich mit Abscheu, also heftete ich mich an Peters Fersen und ließ jedes einzelne seiner Forschungsobjekte verschwinden. Bis er Verdacht schöpfte - dann war er einfach nur ein weiterer Halblingsschandfleck, den es auszumerzen galt. Und die Kobolde, nun ja...«, er zuckte mit den Schultern, »…die sind mir eben in die Quere gekommen.«
Hinter mir zischte es aufgebracht, und einige Kobolde - die fast alle anderen Kreaturen im Saal überragten - bleckten ihre zahlreichen spitzen Zähne. Ich packte meine schönen Schuhe und trat unauffällig vom Tisch zurück.
»Ist das alles, was du zu dieser Sache zu sagen hast?«, wollte Orin wissen. Er wirkte noch immer so überraschend ruhig, als würde er sich nur nach dem Wetter erkundigen. »Ist das die Rechtfertigung für deine Taten?«
Jimmu zuckte mit formvollendetem Gleichmut mit den Schultern. »Meine Rechtfertigung ist die bloße Existenz von Wesen wie diesem«, sagte er, wandte sich um und zeigte auf mich. Ich stöhnte innerlich auf, und gleichzeitig ließ ich mich reflexartig zu einem völlig unangemessenen, verlegenen Winken hinreißen. »Warum zur Hölle habe ich das jetzt bloß getan?«, dachte ich, während Jimmu bereits seine Schmährede fortsetzte.
»Halblinge sind eine Plage, von der unsere Gemeinschaft reingewaschen werden muss«, predigte er. »Jeder hier, der das nicht so sieht, bringt Schande über sich selbst und unser gesamtes Volk.«
Im Saal herrschte Schweigen. Ich sah mich um, und obwohl die meisten Wesen um mich herum wütend über Jimmus Worte wirkten, waren da doch einige, die meiner Ansicht nach nicht völlig anderer Meinung zu sein schienen. Ich bemerkte auch, dass mich einige regelrecht anstarrten und senkte daraufhin schnell meinen Blick.
Schließlich erklangen Orins und Morrigans Stimmen. Sie sprachen im Gleichklang, und in ihren Worten schwang ihre ganze königliche Autorität.
»Jimmu und Geschwister: Ihr habt ernste Verbrechen gegen unsere Gemeinschaft begangen, zu der auch unsere Halblings-Brüder und -Schwestern gehören. Mit euren Taten seid ihr das Risiko eingegangen, die Aufmerksamkeit der Menschen über Gebühr auf uns zu ziehen. Und ihr habt vor euren Herrschern und ihrem Hofstaat falsches Zeugnis abgelegt. Für diese Verbrechen, die einem Verrat gleichkommen, habt ihr eure Leben verwirkt. Kniet nieder und akzeptiert unser Recht, denn es ist auch euer Recht.«
Wenig überraschend knieten die Nagas nicht nieder. Stattdessen bildeten sie einen Kreis um Jimmu, ihren erstgeborenen Bruder und naturgegebenen Anführer.
»So sei es«, sagten die Nagas feierlich im Chor, als wollten sie den Beweis erbringen, dass sie ebenfalls gleichzeitig sprechen konnten. Wie ein Mann erhoben sie ihre Schwerter, die blau zu glühen begonnen hatten wie die unheimliche Stichflamme, mit der Ryu das Schreiben von Gretchen verbrannt hatte.
An diesem Abend hatte es bereits eine Menge Geräusche gegeben, die ich noch nie gehört hatte und nie wieder hören wollte, wie etwa diejenigen, die aus Jimmus Leichensack gekommen waren. Doch der nächste Laut, den ich im Saal vernahm, war einer, den ich mit ziemlicher Sicherheit wiedererkannte.
Es war der unverwechselbare Klang der Kacke, die am Dampfen war.
Mit einem erbitterten Schrei löste sich Jimmu aus dem Kreis der Nagas und stürzte sich direkt auf Ryu.
Doch der war darauf vorbereitet und streifte blitzschnell sein Jackett ab, während Wally zwei Krummschwerter aus seiner Pluderhose zauberte. Der Dschinn warf Ryu eine der bedrohlich aussehenden Klingen zu, und die beiden nahmen Seite an Seite ihre Verteidigungsposition ein. Fasziniert wurde ich Zeuge, wie Ryu auf Jimmus Angriff mit Neos berühmter Ausweichbewegung aus dem Film Matrix reagierte.
Die kleine Hirnregion, die noch eine Spur von Kontrolle über die Situation behielt, fragte sich verwundert, was Wally wohl noch so alles in seiner Hose hatte. »Vielleicht einen Weg hier raus«, grübelte ich, während Jimmus Schwert mit einem lauten Klirren auf Ryus traf. Bei diesem Geräusch schwärmten auch die restlichen Nagas aus und griffen an unterschiedlichen Stellen des Saals an. Als Reaktion darauf zückten die Anwesenden Knüppel und zauberten alle möglichen Waffen unter Röcken, Mänteln und sogar aus dem Nichts hervor. Die Nahual verwandelten sich allesamt in Löwen, Tiger oder Bären, während die Alfar allerlei leuchtende Kugeln, die sie als Wurfgeschosse gegen die Nagas einsetzten, oder lichtschwertartige Gebilde hervorbrachten.
Inzwischen schienen die Nagas - die, wie ich mir selbst in Erinnerung rufen musste, ja nur zu neunt waren - überall auf einmal zu sein. Drei hatten sich in große schwarze Schlangen verwandelt. Sie waren riesig: lang wie Wohnwagen und dick wie drei Wrestler. Ihre Giftzähne erschienen mir so groß wie mein eigener Körper, und sie hatten Nackenschilde wie Kobras, mit roten Schuppen an der Innenseite.
Doch die sechs von ihnen, die ihre menschliche Gestalt behalten hatten, wirkten nicht weniger bedrohlich als ihre Schlangengeschwister. Sie bewegten sich genauso geschmeidig und unerbittlich vorwärts wie Wasser, das aus einem Glas floss, und schlugen mit ihren glühenden Schwertern eine Schneise vor sich. Entsetzt sah ich mit an, wie eine Nagafrau einen Nahual in Tigerform niederstach. Die Raubkatze hatte sich von einem Tisch hinter der Schlangenfrau auf sie gestürzt, doch diese war rechtzeitig herumgewirbelt und hatte den Tiger mit einem gezielten Hieb in zwei Teile geschnitten. Und nun rührte sich keine der beiden Hälften mehr.
Ähnliches Gemetzel ging überall im Saal vonstatten, doch meine Aufmerksamkeit kehrte schnell wieder zu Jimmu und Ryu zurück, die noch immer erbittert gegeneinander kämpften. Sie schwangen ihre Schwerter so schnell, dass die Bewegung verschwamm und ich nicht mehr erkennen konnte, wer überlegen war. Ich hatte den verzweifelten Wunsch, dem Mann, den ich liebte, zu helfen, aber ich sah keine Möglichkeit, auch nur in seine Nähe zu kommen. Ich überlegte kurz, ob ich einen Stuhl nach Jimmu werfen sollte, aber dann stellte ich mir vor, aus Versehen Ryu zu treffen und verwarf den Gedanken wieder. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt.
Ein Gefühl, das sich noch verschärfte, als ich merkte, dass irgendjemand den Tumult zu nutzen schien, mich in den Hintern zu kneifen. Ich zuckte zusammen und fuhr herum, nur um festzustellen, dass Wally sich irgendwie von hinten an mich herangepirscht hatte. Er grinste mich mit funkelnden Augen an, und ich machte einen Schritt zurück. Vertrau niemandem, hatte Ryu mir geraten, und seine Worte klangen noch immer in meinem Kopf nach.
Aber Wally wollte mir nichts tun. »Bring dich in Sicherheit, Halbling«, sagte er. »Dein Bettgenosse ist beschäftigt, und es könnte hässlich werden.«
»Bettgenosse?«, dachte ich fassungslos. »Und was zum Teufel meint er mit ›Es könnte hässlich werden‹?«
Aber ich nahm mir Wallys Ratschlag zu Herzen. Mit einem letzten besorgten Blick auf die beiden Kämpfenden umklammerte ich meine Schuhe und machte mich so unauffällig wie möglich aus dem Staub.
Plötzlich wurde die Halle durch eine Explosion erschüttert. Der König und die Königin mischten sich endlich in das Kampfgeschehen ein und hatten zwei große Energiebälle auf einen Naga in Schlangenform geschleudert. Beide schlugen ein wie Torpedos und rissen der Schlange den Kopf ab. Ihr Körper schwankte hin und her, Blut spritzte fontänenartig aus der Wunde wie rotes Öl, bevor er zu Boden sank und dabei einen überraschten Elben unter sich begrub. Die Alfar-Monarchen machten sich ruhig daran, weitere Geschosse zu erschaffen, indem sie Energie in kleinen Kugeln bündelten, die in ihren Handflächen immer größer wurden.
Die Erschütterung der Explosion hatte mich umgeworfen, und ich brauchte einen Moment, um mich wieder aufzurappeln. Der Teil von mir, der nicht vor Angst halb starb, amüsierte sich über die Tatsache, dass ich mich noch immer an meine Schuhe klammerte. Wie schon gesagt, auch ich hatte so meine Prinzipien. Bei meinem Rundblick vorhin hatte ich einen Ausgang ganz in der Nähe unseres Tisches entdeckt, der mit einem kurzen Sprint zu erreichen war. Der Weg dorthin war auch relativ frei, da sich das Geschehen momentan weitgehend auf den mittleren Bereich vorne in der Halle konzentrierte.
Noch immer halb am Boden kauernd, biss ich die Zähne zusammen und visierte mein Ziel an. Langsam richtete ich mich auf, um darauf zuzurennen, doch mitten in der Bewegung hielt ich noch einmal inne. Aus dem Augenwinkel hatte ich Nyx’ Begleiter entdeckt. Er saß noch immer neben der Ehrentafel und schien das Chaos um sich herum gar nicht zu bemerken. Ich konnte ihn nicht einfach hier zurücklassen, denn seine Entführerin war zu beschäftigt, um ihn zu beschützen. Gerade hing Nyx am Nackenschild einer der schlangenförmigen Nagas, brüllte wie verrückt, und ihr Arm steckte bis zum Ellenbogen in der Augenhöhle der Natter. Sie schien einen Heidenspaß zu haben.
Ich fluchte und machte kehrt. Es gab noch einen anderen Fluchtweg direkt hinter der Stelle, an der der Mann saß. Dieser Ausgang war genauso gut wie derjenige, auf den ich gerade zustürzen wollte, und ich konnte mir auf dem Weg auch noch den armen Kerl schnappen. Also lief ich gebückt auf den vorderen Teil der Halle zu und versuchte dabei noch, den Kämpfen auszuweichen und trotzdem so schnell wie möglich zu meinem Ziel zu kommen.
Als ich an eine der massiven Säulen gelangt war, lehnte ich mich für einen Moment dagegen und stieß die Luft aus, die ich den ganzen Spurt über angehalten hatte.
Inzwischen waren noch zwei weitere Alfar-Granaten geworfen worden. Morrigans hatte ein übel aussehendes Loch ins Nackenschild einer der verbliebenen Schlangen gerissen, die sich nun vor Schmerz am Boden wand. Doch Orins Geschoss war zu weit geflogen und schlug mit schrecklichen Folgen in ein Grüppchen Bediensteter des Hofes ein. Ich zwang mich, den Blick von diesem Blutbad abzuwenden, und betete im Stillen, dass Elspeth nicht unter den Toten war.
Als mein Blick auf Ryu fiel, der glücklicherweise noch am Leben war, aber weiterhin mit Jimmu focht, atmete ich tief durch und fasste den Mut, meine Deckung hinter der Säule zu verlassen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich mir langsam ein Knäuel Kämpfender näherte, das aus zwei Spriggan-Bodyguards und der zweiten Nagafrau bestand. Es sah so aus, als versuchten sich alle drei gegenseitig totzuprügeln. Mir fiel wieder ein, dass Ryu gesagt hatte, die Spriggans seien Söldner, und mindestens einer von ihnen schien auch wirklich nicht so recht zu wissen, auf welcher Seite er stand.
Hastig stieß ich mich also von der Säule ab und stürzte mich ins Getümmel. So schnell ich konnte, rannte ich auf den Menschen und den Ausgang hinter ihm zu. Ich schrie auf, als ein abgetrennter Arm direkt vor mir landete. Zu meinem Entsetzen erkannte ich den goldenen Armreif an dem fleischigen Bizeps - es war Wallys. Schon war der Dschinn zur Stelle und kniete sich hin, um sein abgetrenntes Körperteil aufzuheben. Er verdrehte die Augen, wie jemand, der sich über seine eigene Ungeschicktheit lustig macht, weil ihm gerade der Geldbeutel runtergefallen ist, und steckte sich den Arm einfach wieder an. Dann fischte er noch eine Waffe aus seiner Pluderhose - diesmal eine ziemlich gemein aussehende Keule - und stürzte sich wieder ins Gemenge. Dabei grinste er, als würde er Süßigkeiten und keine Schläge verteilen.
Ich schüttelte den Kopf und rannte gebückt weiter. Als ich den Mann erreicht hatte, saß er noch immer da, als befände er sich zu Hause auf dem Sofa und nicht am Rande eines Schlachtfelds. Ich packte seine Hand und wollte ihn mit mir zur Tür ziehen, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Ich zog noch fester an ihm, stemmte mich in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel gegen seinen Widerstand - ohne Erfolg.
Schließlich richtete ich mich auf und ließ seine Hand los. Ich sah ihn ratlos an, doch in seinen Augen herrschte gähnende Leere. Also nahm ich all meinen weiblichen Instinkt zusammen und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wahrscheinlich hätte ich ihm genauso gut einen Peitschenhieb versetzen können.
Doch der Schlag tat seine Wirkung. Er zwinkerte einmal, dann noch einmal und erwachte plötzlich wieder zum Leben. Ich packte ihn an den Schultern, damit er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete, denn es hätte keinem von uns genutzt, wenn er in diesem Moment in Panik ausgebrochen wäre.
Die Alfar hatten mittlerweile das Sperrfeuer eröffnet, und kleinere Explosionen erschütterten die Halle an verschiedenen Orten. Wir mussten von hier verschwinden und zwar pronto.
»Hey, Kumpel«, sagte ich laut genug, damit er mich bei all dem Lärm um uns herum hören konnte, aber trotzdem so gefasst wie möglich. »Wie heißt du?«
»Ed«, sagte er irritiert. »Wo bin ich?«
Er versuchte, sich umzusehen, aber ich legte meine Hände an seine Wangen, damit er seinen Blick auf mich gerichtet hielt. »Ed«, erklärte ich, »wir sind an einem Ort, an dem keiner von uns sein möchte. Also lass uns von hier verschwinden, okay?« Ich nahm seine Hand und versuchte wieder, ihn wegzuziehen, aber er rührte sich noch immer nicht.
»Da war so eine Frau…«, murmelte er immer noch sichtlich verwirrt.
»Ja«, unterbrach ich seine Gedanken, »da war eine Frau, aber jetzt ist sie weg. Wir müssen los und zwar sofort.« Meine Stimme wurde vor Aufregung langsam schrill. Rechts neben uns kam Unruhe auf, und allerlei Kreaturen hechteten aus dem Weg. Irgendetwas kam da auf uns zu.
Ich zog noch fester an seiner Hand, und er sah mich an. Langsam machte er Anstalten aufzustehen, als ob er meine Angst spürte. Ich zerrte weiter an ihm und signalisierte ihm, sich zu beeilen. Er nickte, als habe er gerade eine Entscheidung getroffen, und erhob sich endlich. Mit einem entschlossenen Satz sprang er vom Podest und landete direkt hinter mir. Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Los, lauf«, sagte er, und ich war gerade dabei mich umzudrehen, als ich etwas Feuchtes an meine Wange spritzen spürte. Der Gesichtsausdruck des Mannes verwandelte sich wie in Zeitlupe von Entschlossenheit in Verständnislosigkeit. Unser beider Blicke wanderten nach unten, und völlig fassungslos betrachteten wir das glühende Schwert, das ihm aus der Brust herausstand. Seine Augen erloschen, und er sank auf die Knie. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich schrie.
Eine Bewegung hinter dem Rücken des sterbenden Mannes zog meinen Blick an. Es war Jimmu. Er hatte das Schwert geworfen - entweder auf mich, und der Mann war dazwischen geraten, oder auf den Mann, um Jimmu den Weg frei zu machen. So oder so, nun stand nichts mehr zwischen mir und der mörderischen Wut des Naga.
Ich wich zurück und kämpfte gegen Jimmus lähmenden Blick an. Ich wünschte, ich hätte noch einmal die Gelegenheit, meinen Vater anzurufen. Die Ereignisse hatten mich so überrumpelt, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, meine Angelegenheiten zu regeln. Aber ich denke, es ist normal, dass Leute Mitte zwanzig nicht an so etwas denken. Ein Fehler, den ich sicher nicht noch einmal machen würde - das heißt, falls ich noch einmal die Gelegenheit dazu bekam.
»Und vor ein paar Tagen hast du dir noch Gedanken darüber gemacht, wie es ist, ewig zu leben«, dachte ich, als sich Jimmus Gesicht meinem auf Zentimeter näherte. Anscheinend wollte er mir in die Augen sehen, wenn er mich tötete.
Doch bevor der Dolch, den Jimmu bereits gezückt hatte, meine Kehle erreichte, stürzte sich Ryu auf den Naga. Mein Beschützer blutete heftig aus einer klaffenden Wunde im Gesicht, und er schien etwas zu humpeln, aber es gelang ihm trotzdem, Jimmu von mir weg und zu Boden zu reißen. Dabei flog dem Angreifer der Dolch aus der Hand, und Ryu nutzte die Gelegenheit, Jimmu mit den Fäusten zu bearbeiten. Da mir bewusst war, dass ich noch immer nicht in Sicherheit war, und weil ich nicht mit ansehen wollte, wie jemand zu blutigem Brei geschlagen wurde, ganz gleich, wie wenig ich ihn mochte, beschloss ich, alles Weitere Ryu zu überlassen. Mit einem letzten Blick auf den toten Menschen, dessen Tod beim Versuch ihn zu retten ich letztendlich verschuldet hatte, floh ich durch die Tür aus der Halle.
Ich fand mich auf einem der endlos langen Flure des Verbundsgebäudes wieder. Dieser hier war eng und hatte Wände aus dunklem Stein. Nur wenige Türen schienen von ihm abzugehen. Ich gab meinen Augen einen Moment Zeit, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen, bevor ich weiterging. Ein paar Sekunden später vernahm ich ein Geräusch, das mich unwillkürlich innehalten ließ, bis mir klarwurde, dass es von mir selbst ausging. Ich weinte - der Schreck der Ereignisse dieses Abends saß mir tief in den Knochen. Aber ich beschloss, mich nicht um meine Tränen zu kümmern, sondern mich darauf zu konzentrieren, einfach immer weiter zu gehen.
Das bedeutete jedoch auch, dass ich die Schritte meines Angreifers nicht hörte. Gerade war ich noch stur vor mich hin gestapft, und schon drückte mich jemand gegen die Wand und quetschte mir mit einer Hand die Luft ab.
»Oh verdammt«, dachte ich noch, als alles um mich herum grau wurde. »Das hätte ich kommen sehen müssen.«