KAPITEL 2
Ich war praktisch schon dabei, mich
auszuziehen, noch bevor ich in der kleinen Bucht angekommen war,
die mein geheimer Zufluchtsort war. Ich war viel zu wütend, um mich
um einen Neoprenanzug zu scheren.
»Scheiß Linda«, dachte ich, als ich mir aufgebracht
mein T-Shirt und den BH vom Leib riss.
»Scheiß Rockabill« - dieser Gedanke ließ mich noch
schneller aus meiner Jeans und dem Höschen schlüpfen.
»Und Scheiß Ich«, dachte ich, als meine Schuhe und
Socken in hohem Bogen in den Sand flogen. Von da waren es nur noch
ein paar beherzte Schritte bis ins Meer, dessen Wellen mich
sogleich umfingen wie die Arme meiner Mutter, als ich noch ein
kleines Mädchen war. Tatsächlich war das Schwimmen alles, was mir
von meiner Mutter geblieben war. Ihr Gesicht, das Gesicht in meinen
persönlichen Erinnerungen hatte schon vor Jahren angefangen zu
verblassen und war von Einzelheiten ersetzt worden, die ich nur von
Fotos kannte. Aber unsere gemeinsamen heimlichen Schwimmausflüge
mitten in der Nacht werde ich nie
vergessen. Sie waren das kleine Geheimnis, das mich als Kind mit
ihr verband.
Und das, wie ich heute vermute, meine Familie
zerstört hat.
Meine Mutter, Mari, war eines Nachts, als gerade
ein heftiger Sturm aufzog, pudelnackt aufgetaucht. Mein Vater und
die anderen Männer aus dem Dorf waren schon seit Stunden damit
beschäftigt gewesen, die Fenster der Geschäfte und Häuser auf
unserer kleinen Hauptstraße und dem Dorfplatz zu verbarrikadieren.
Plötzlich stieß sein Freund Trevor einen überraschten Pfiff aus,
und Louis schnaubte »Heilige Scheiße«, in dem ehrfurchtsvollen Ton,
den er auch anschlug, wenn sie das große Feuerwerk am Vierten Juli
bewunderten. Dann hatte mein Vater, und so ziemlich alle, die in
Rockabill lebten, aufgeblickt und eine nackte junge Frau mit
hüftlangem schwarzen Haar gesehen, die die Straße
entlanggeschlendert kam, als hätte sie eine Einladung bekommen, auf
der ausdrücklich »Keine Garderobe erwünscht« gestanden hatte.
Niemand rührte sich, nur mein großer, mutiger Vater zog seinen
Mantel aus und legte ihn der jungen Frau um die Schultern. Sie
lächelte ihn an, und er sagte immer, dass das der Moment war, in
dem er wusste, dass er sie liebte und nicht ohne sie leben
konnte.
Aus Gründen des Anstands hatte er sie jedoch in die
einzige Pension von ganz Rockabill gebracht, die die Grays damals
betrieben. Dass es strategisch günstig ganz in der Nähe unseres
Hauses lag, wurde in der offiziellen Geschichte nie explizit
erwähnt. Damals lebten Nick und Nan noch und führten das Gästehaus,
nicht Stuarts bösartige Eltern Sheila und Herbert. Nick und Nan
gaben ihr ein Bett
für die Nacht, waren aber nicht besonders überrascht, als sie es
morgens leer vorfanden. Es überraschte sie genauso wenig, dass sie
das Mädchen morgens zusammen mit meinem Dad im örtlichen Diner
antrafen, wo sie sich ein üppiges Frühstück, bestehend aus Eiern
mit Speck und Pfannkuchen, teilten. Ein Jahr später kam ich zur
Welt, und wir waren die perfekte glückliche Familie. Meine Eltern
liebten sich über alles, und Nick und Nan gaben die idealen
Ersatzgroßeltern ab (die Eltern meines Vaters waren schon
gestorben, bevor ich geboren wurde), und schon bald wurde Nicks und
Nans richtiger Enkel, Jason, mein bester Freund und
Seelenverwandter. Sechs Jahre lang war ich wohl das glücklichste
Kind der Welt. Bis zu einer Nacht, in der wieder ein Sturm wütete,
der fast genauso heftig war wie in der Nacht, als meine Eltern das
erste Mal das Bett teilten. Am nächsten Morgen war meine Mutter
verschwunden, genauso plötzlich und auf genauso unerklärliche
Weise, wie sie aufgetaucht war.
Bald lernte ich die Wahrheit über meine Familie
kennen: Das gemütliche Nest, in dem ich glücklich und zufrieden
aufgewachsen war, war bloß schöner Schein gewesen. Die Leute aus
Rockabill, abgesehen von Nick, Nan und Jason, hatten meine Mutter
nie akzeptiert. Viele aus dem Dorf hielten sie für geradezu
gefährlich anders und fühlten sich natürlich in ihrem
unerbittlichen Urteil bestätigt, als sie ihren Mann und ihre kleine
Tochter einfach so zurückließ. Dass ein kleines Mädchen, dessen
Mutter sie verlassen hatte, Mitgefühl verdiente, wurde von der
Tatsache verdrängt, dass ich fast genauso aussah wie sie: dieselben
dunklen Haare und Augen, dieselbe blasse Haut und, als
ich älter wurde, dieselben gefährlichen Kurven. Rockabill war
keine besonders religiöse Gemeinde, aber unsere puritanischen
Vorfahren hatten über die Generationen dennoch ihre Spuren in den
Köpfen der Bewohner hinterlassen. »Genau wie ihre Mutter«,
tuschelten sie. »Dieses Mädchen sieht aus wie die Sünde selbst.«
Das Gerede traf mich und schwoll zu regelrechtem Geschrei an, als
sich noch mehr unglückliche Vorfälle ereigneten.
Wütend schwamm ich weiter und rang mit den starken
Strömungen und Kabbelungen des großen Strudels im Atlantischen
Ozean vor Maine, der den lustigen Namen Old Sow, die alte Sau,
trägt und viele kleinere Nebenstrudel mit einschließt, die
konsequenterweise »Ferkel« genannt werden. Ich wollte mich in den
Wasserwirbeln verlieren, und das unruhige Meer an dieser Stelle
erfüllte mir diesen Gefallen nur zu gern.
Der Old-Sow-Strudel hatte den Fischern von
Rockabill früher oft das Verderben gebracht. Zu viele von ihnen
waren in seinen Fluten gestorben. Doch jetzt waren diese tödlichen
Wasserwirbel praktisch unsere Lebensgrundlage: die
Touristenattraktion, mit der wir unseren Lebensunterhalt
verdienten. Die Old Sow ist einer der vier größten Strudel der
Erde, und Boote taten gut daran, nicht hineinzugeraten. Aber ich
tollte in seiner Nähe herum wie eine nackte, kleine Robbe.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich trotz meiner
geringen Körpergröße so gut schwimmen konnte und warum ich es so
sehr liebte. Ich wusste nur, dass ich nirgends glücklicher war als
im Wasser. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann
steckte noch mehr dahinter. Ich musste einfach
schwimmen. Es war nicht nur ein Verlangen, das mich ins Wasser
trieb, sondern eine wahre Sucht. Nicht, dass ich die Bedeutung
dieses Bedürfnisses verstand. Ich wusste, meine Liebe fürs
Schwimmen war der Schlüssel zu irgendetwas, aber es war einer
dieser lästigen, geheimnisvollen Exemplare, die wohl an jedem
geerbten Schlüsselbund hingen. Dieser eine Schlüssel, der einfach
zu keiner Tür im Haus passen wollte und auch zu keinem Schrank im
Arbeitszimmer und keinem Koffer auf dem Speicher. Schwimmen war
mein rätselhafter Schlüssel, dessen bloße Präsenz ständig an mir
nagte. Aber ganz gleich, an wie vielen Schlössern ich ihn auch
ausprobierte, er behielt sein Geheimnis hartnäckig für sich.
Ich versuchte all meine negativen Gedanken zur
Seite zu schieben, während der Donner über den Himmel rollte, es in
Strömen regnete und sich der Atlantik als Antwort auf das Unwetter
störrisch aufbäumte. Der Sturm war bereits aufgezogen, als ich vom
Supermarkt nach Hause gefahren war, und war dann losgebrochen,
während mein Vater und ich noch beim Abendbrot saßen. Während des
Essens hatte ich mich zwingen müssen, nicht meine Gabel auf den
Teller zu knallen und in die Nacht hinauszulaufen wie eine Furie.
Ich war noch immer so wütend wegen meines Zusammenstoßes mit Linda,
dass ich ziemlich ungeduldig mit meinem Vater umsprang. Deshalb
fühlte ich mich jetzt schuldig und bitter, und es machte mich
außerdem noch wütender …
Wenn es mir so ging, half nur noch schwimmen.
Schwimmen hatte immer eine fast therapeutische
Wirkung auf mich, aber während eines Sturms war es besser als
Prozac. Vielleicht lag es daran, dass meine Mutter während
eines Unwetters aufgetaucht und wieder verschwunden war, dass ich
so verrückt danach war. Aber ich war nie glücklicher als in den
Momenten, wenn das Meer wild und wogend und wütend war und ich so
machtlos von ihm umfangen wurde wie eine von Lindas
Lieblingsbuchheldinnen von einem säbelschwingenden Freier.
Ich wurde von einer besonders starken Welle
untergetaucht und bemerkte, dass ich gefährlich nah an die Old Sow
herangeraten war. Der Strudel in seiner herrlichen
Unvorhersehbarkeit wirbelte munter vor sich hin, obwohl er um diese
Nachtzeit eigentlich zur Ruhe gekommen sein sollte. Aber ich war so
unglaublich wütend, dass nur wirklich wildes Wasser mir heute
helfen konnte. Immer wenn ich mit Linda zusammentraf, musste ich
zwangsläufig an meine Mutter denken. Ihr Verschwinden war wie ein
fauler Zahn, der längst hätte gezogen werden sollen.
Ich nutzte die Kraft eines der Ferkel der Old Sow,
um mich in die Luft schleudern zu lassen, damit ich dann wie ein
Tümmler wieder ins Wasser eintauchen konnte. Ich schlug härter auf
die Oberfläche auf, als ich erwartet hatte, und das Ferkel sog mich
in eine starke Strömung, die mich zu seiner Mutter tragen wollte.
Ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an, um mich daraus zu befreien,
aber die Strömung hielt mich in eisernem Griff. Die Old Sow war
zwar nicht so stark wie die kraftvollsten Strudel der Welt, aber
dennoch selbst für jemanden mit meinem außergewöhnlichen
Schwimmtalent eine Nummer zu groß. Ich war viel zu nah
herangekommen, und es würde meine ganze Kraft kosten, mich wieder
aus dem Sog zu befreien.
Ich kämpfte verbissen dagegen an, ohne auch nur ein
Stückchen vorwärtszukommen, und langsam spürte ich, wie Panik in
mir aufstieg. Wenn ich jetzt ertrinken würde, würde mich das echt
ankotzen. Es wäre der Beweis dafür, dass alles, was sie nach Jasons
Tod über mich gesagt hatten, der Wahrheit entsprach, obwohl es
nichts als ein Haufen Lügen war.
Aber dann - wie durch ein Wunder - ließ der Sog nur
für einen kurzen Augenblick plötzlich nach. Mit einer fast
übermenschlichen Anstrengung gelang es mir, mich zu befreien, und
ich entfernte mich respektvoll von der Old Sow und ihrer
übermütigen Nachkommenschaft. Mit kräftigen Bewegungen glitt ich
durchs Wasser und spürte noch immer das Adrenalin in meinen Adern
pulsieren. Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich leichtsinnig
genug gewesen war, so nah an den Strudel heranzuschwimmen. Ich
verfluchte meine eigene Dummheit, und mein Herz hämmerte in meiner
Brust, halb aus Anstrengung, halb aus purer Angst.
Dann erstarrte ich plötzlich: Mein Herz fühlte sich
an, als würde sich eine eiskalte Hand darum legen und es zum Stehen
bringen wollen. Mein Gehirn versagte. Nur meine Hände und Füße
paddelten unbewusst weiter im Wasser, so dass ich nicht unterging
wie ein Stein.
Ich war der Old Sow noch einmal unversehrt
entkommen, aber jemand anderes hatte nicht so viel Glück
gehabt.
Eine Gestalt wippte im Sog des Strudels wie eine
albtraumhafte Boje. Und aus einer schrecklichen Erfahrung heraus
wusste ich, dass es sich um einen Menschen handeln musste. Hatte
ich vorher geglaubt, Angst zu haben, dann hatte ich mich getäuscht,
denn jetzt setzte ein panikartiger Fluchtreflex in mir ein. Jede
Faser meines Körpers trieb
mich aus dem Wasser und wollte mich davon abbringen, mich um das
zu kümmern, was da draußen vor sich ging.
Nicht, dass ich gedacht hätte, es handle sich um
irgendein Meerungeheuer. Vielmehr nahm ich an, dass es jemand war,
den ich liebte: ertrunken und tot durch meine Schuld.
Hatte mich irgendjemand zur Bucht gehen sehen? Ich
hatte unser Haus durch die Hintertür verlassen und war durch den
Wald gegangen. Neben uns wohnten nur die Grays, und Sheila und
Herbert waren in so einer kühlen Nacht sicher nicht draußen im
Garten. Dann war da noch Stuart, aber falls der gedacht hätte, ich
ertrinke, dann hätte er ganz sicher keinen Rettungsversuch
unternommen. Eher würde er sich nur eine Zigarre anzünden, um
meinen Todeskampf richtig genießen zu können.
Dann blieb nur noch mein Vater. Bei diesem Gedanken
setzte mein Herz, das kurzzeitig wieder zu schlagen begonnen hatte,
erneut aus.
Aber dann meldete sich mein Gehirn zu Wort. Mein
Vater wusste ja, dass ich sehr gut schwimmen konnte, selbst wenn er
nie darüber sprach. Er würde keinen überstürzten Rettungsversuch
unternehmen. Aber der einzige Weg herauszufinden, ob ich wieder den
Tod von jemandem zu verantworten hatte, war, diesen Körper zu
bergen. Aus dem großen Old-Sow-Strudel, dessen kleiner Ableger mich
gerade schon beinahe ertränkt hätte. Scheiße.
Erst ließ ich mich von einem der äußersten Ringe
des Strudels treiben und versuchte herauszufinden, wie zur Hölle
ich mich der Old Sow weiter nähern könnte. Aber es war unmöglich,
es war völlig ausgeschlossen, näher heranzukommen. Der Körper
führte, gefangen im Strudel,
einen grotesken Tanz auf. Ich konnte ihn auf keinen Fall sich
selbst überlassen. Schließlich war es ein Mensch und vermutlich
sogar einer, den ich kannte. Erneut stieg Panik in mir auf, und ich
befahl mir selbst, nicht näher heranzuschwimmen.
Also trat ich mit kraftvollen Schwimmzügen den
Rückzug an. Denk nach, Jane.
Aber mir wollte nichts einfallen. Es gab keinen
Weg, näher heranzuschwimmen, und den Körper zu sehen, wie er unter
Wasser gesogen und dann wieder an die Oberfläche gedrückt wurde,
schürte meine Angst und Panik nur noch weiter.
Meine Gefühle überschlugen sich. Ich versuchte, die
Erinnerung zu unterdrücken, aber der Anblick des Körpers, gefangen
im Strudel, war, als schaute ich mir eine Videoaufzeichnung dieser
schrecklichen Nacht an. Ich zwang mein Gehirn, nicht mehr daran zu
denken. Ich durfte diese Gedanken nicht zulassen, nichts würde mich
dazu bringen, das Grauen noch einmal zu durchleben. Während ich
noch damit kämpfte, meine Angst unter Kontrolle zu bringen, spürte
ich ein anderes Gefühl in mir aufsteigen - Wut. Ich war so
unglaublich wütend. Was zur Hölle machte schon wieder ein Toter in
meinem Strudel? Wie oft sollte ich denn noch eine Leiche
darin finden müssen? Sollte es mit Leichen nicht eher genauso sein
wie mit Blitzen, die ein und dieselbe Person nur einmal
trafen?
Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich dazu,
mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und auf die Gestalt,
die der Gnade der Old Sow auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.
Der Körper war in dem starken Sog
im Epizentrum des wirbelnden Strudels gefangen. Aber mittlerweile
schien es so, als verlöre das Wasser an Kraft, denn die Kreise, die
die Gestalt zog, wurden anscheinend größer und weiter. »Natürlich
wurden sie das«, redete ich mir ein, damit ich meine Angst unter
Kontrolle hielt. »Ich bin Jane, die Leichenflüsterin.«
Der Körper schien sich tatsächlich langsam aus dem
Sog zu lösen. Der Strudel wurde zwar nicht erkennbar schwächer,
aber seine innere Kraft ließ unmerklich nach und trieb nun das von
sich weg, was er vorher unerbittlich angesogen hatte.
»Komm schon«, dachte ich voller Ungeduld, schob
meine Angst zur Seite und schürte bewusst meine Wut. Ich zog Zorn
ganz klar meinen Erinnerungen vor und zwar immer. »Komm zu Jane
…«
Die auf dem Wasser wippende Gestalt kam näher und
näher, aber nun hing sie in einem der Ferkel fest. Vor Frust hätte
ich am liebsten geschrien. Aber jetzt konnte ich zumindest schon
sehen, dass es sich bei dem Körper um einen Mann handelte, den ich
nicht als einen der Einwohner von Rockabill erkannte. »Wer ist das
bloß?«, dachte ich und wandte meine Aufmerksamkeit dann dem
hungrigen Ferkel zu. »Lass ihn los!«, rief ich, obwohl meine Stimme
im Tosen des Sturms und der Wellen unterging.
Doch als hätte es mich gehört, spuckte das Ferkel
plötzlich sein grausiges Spielzeug aus. Der Mann hatte sich endlich
aus dem Strudel gelöst, und eine dankbare Strömung trieb ihn
geradewegs in meine Richtung. Ich erschauderte, nicht nur wegen der
immer näher kommenden Leiche, sondern auch wegen der unheimlichen
Ähnlichkeit, die diese
Nacht mit der Nacht damals hatte. »Du wirst jetzt nicht daran
denken!«, ermahnte ich mich und schloss diese Tür in meinem Kopf
wieder, noch bevor sie sich ganz öffnen konnte.
Außerdem war der Körper im Hier und Jetzt nur noch
eine Armlänge von mir entfernt …
Hab dich!
Jetzt hatte ich die Leiche zu fassen bekommen und
versuchte sie Richtung Ufer zu ziehen. Das Meer war noch immer rau,
und es war ein weiter Weg, mit der schweren Last an Land zu
schwimmen. Aber ich war bei weitem nicht so erschöpft wie in der
Nacht damals, also ging es schneller als erwartet, und schon bald
war ich so nah ans Ufer herangekommen, dass ich wieder Boden unter
den Füßen spürte und das letzte Stück an Land gehend zurücklegen
konnte. Wer auch immer er war, er war vollständig bekleidet, und
die vollgesogenen Kleider machten es immer schwieriger, ihn zu
bugsieren. Noch immer hatte ich sein Gesicht nicht genau sehen
können. Die Wellen waren zu stark, um ihn umzudrehen. Es gelang
mir, mich unter meiner Last aufzurichten und den Mann an den Strand
zu ziehen. Nach Luft japsend sank ich neben ihm in den Sand. Das
Schwimmen war gar nicht so schlimm gewesen, aber die paar letzten
Meter, die ich ihn hatte tragen müssen, hätten mich fast
umgebracht.
Außerdem überzog plötzlich Gänsehaut meinen Körper,
nachdem das Adrenalin langsam abgebaut war. Erst jetzt wurde mir
bewusst, dass ich mich die ganze Zeit an eine Leiche geklammert
hatte.
Und zu allem Überfluss musste ich ihn noch einmal
anfassen, wenn ich erfahren wollte, wer er war.
Der Körper lag mit dem Gesicht im Sand. Als ich ihn
gerade herumwälzen wollte, fiel mein Blick auf seinen Hinterkopf,
und mir drehte es fast den Magen um.
Ein großer Hautlappen hatte sich gelöst und
enthüllte einen sehr weißen Schädelknochen, der offenbar
eingedrückt war. Das Meerwasser hatte schon alles Blut
weggewaschen, aber das machte den Anblick nur noch schlimmer. Nicht
oft wurde man auf so deutliche Weise daran erinnert, dass sich
hinter unseren Gesichtern eines dieser weißen Skelette befindet,
die wohl in allen Kulturen für Tod und Verfall stehen. Ich glaubte
sogar, an der eingedrückten Stelle das Gehirn hervorblitzen zu
sehen und hätte mich beinahe übergeben müssen. Kraftlos ließ ich
mich wieder in den Sand fallen - wohlweislich mit dem Rücken zu dem
Toten - und kämpfte gegen die Wellen der Übelkeit an. Wer er auch
war, er war nicht ertrunken. Rund um die Old Sow gab es keine
Felszungen, an denen er sich diese Kopfverletzung hätte zuziehen
können. Ich spürte einen Anflug der Erleichterung: Wer auch immer
hier heute Nacht gestorben war, es war nicht meine Schuld. Das
machte ihn zwar auch nicht wieder lebendig, doch ich konnte ein
Gefühl der Erleichterung trotzdem nicht unterdrücken.
Dann fiel endlich der Groschen: Tote mit
eingeschlagenem Schädel schlenderten nicht selbst zum Strand.
Er musste ermordet worden sein.
Und um endlich seine Identität herauszufinden,
musste ich ihn erneut anfassen, um ihn herumdrehen zu können.
Also tat ich, was jeder tapfere Krieger tun würde,
wenn er mit einer so schrecklichen Aufgabe konfrontiert wäre: Ich
kniff die Augen zusammen und jammerte: »Oh nein, oh
nein, oh nein«, als ich nach dem Arm der Leiche tastete und ihn
unter Aufwendung all meiner Kraft und so schnell wie möglich
umzudrehen versuchte.
Dann ließ ich mich zitternd und jammernd zurück in
den Sand sinken, bis das Erbrochene, das mir in die Kehle gestiegen
war, wieder den Rückzug angetreten hatte.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, konnte mich aber
nicht dazu durchringen, ihn anzusehen.
»Komm schon, Jane«, redete ich auf mich ein.
»Wahrscheinlich ist er gar nicht aus Rockabill. Vielleicht ist es
ja irgendein Fremder.«
Schließlich musste ich meine Augenlider mit den
Fingerspitzen anheben. Mein ganzer Körper wehrte sich dagegen,
obwohl mein Hirn ihn als komplettes Weichei beschimpfte.
Als ich schließlich doch das Gesicht des toten
Mannes anblickte, schluchzte ich beinahe vor Erleichterung - und
aus einem damit verbundenen Schuldgefühl - auf. Ich war
erleichtert, weil ich zwar wusste, wer der Tote war, ihn aber nicht
gut kannte oder viel mit ihm verband. Es war Peter, der sich über
den Winter in ein Ferienhaus der Allens eingemietet hatte. Ich
kannte nicht einmal seinen Familiennamen. Es war bekannt, dass er
an einem Buch arbeitete und außerhalb der Saison hier war, um die
nötige Ruhe dafür zu haben. Er kaufte hin und wieder im Buchladen
ein und schien sich immer gern mit mir zu unterhalten, ohne dass
sein Interesse an mir irgendwie unangenehm gewesen wäre. Peter war
nur ein ziemlich durchschnittlicher Mann mittleren Alters, der zu
jedem freundlich war und vielleicht ein wenig einsam, ganz allein
in seinem winzigen Ferienhaus. Manchmal konnte er zwar ziemlich
aufdringliche
Fragen stellen, aber sobald er merkte, dass er zu weit gegangen
war, ruderte er zurück und entschuldigte sich damit, dass er
manchmal vergaß, dass echte Menschen keine Figuren aus einem Buch
waren, die nur darauf warteten, ihre Geheimnisse zu
offenbaren.
Deshalb fühlte ich mich jetzt auch so schuldig
wegen meiner Erleichterung, nachdem ich ihn erkannt hatte. Peter
war ein netter Mann gewesen und sogar freundlich zu mir geblieben,
als er schon genug Zeit in Rockabill verbracht hatte, um meine
»wahre« Geschichte erfahren zu haben. Er hatte es nicht verdient,
ermordet und dann wie ein Sack Müll entsorgt zu werden.
Apropos entsorgen…
Was zur Hölle sollte ich jetzt bloß mit der
Leiche machen?
Ich konnte ja wohl schlecht die Polizei rufen. Wie
sollte ich ihnen erklären, warum ich hier war? Oder das Mordopfer?
»Bist du wahnsinnig?«, schaltete sich wenig hilfreich mein Gehirn
ein. »Sie werden glauben, du hast ihn umgebracht.«
Es war also völlig ausgeschlossen, die
Polizei zu rufen. Das würde mir bis in alle Ewigkeit anhängen.
Endlich war das Leben für mich in Rockabill wieder halbwegs
erträglich geworden. Vielleicht nicht wirklich angenehm, aber
abgesehen von Linda und Stuart versuchte mittlerweile niemand mehr,
mich aktiv zu vergraulen. Wenn ich mir jetzt irgendetwas Seltsames
erlaubte - und eine Leiche zu finden, würde ich definitiv dazu
zählen -, würde alles wieder von vorne anfangen.
Auch ein anonymer Telefonanruf kam nicht
infrage.
In der Nebensaison lebten nur ein paar hundert
Leute in Rockabill. Anonymität war da ausgeschlossen, vor allem,
weil es sich bei dem Sheriff, der meinen Anruf sicher
entgegennehmen würde, um George Varga handelte, und der war nicht
nur der beste Freund meines Vaters, sondern auch mein Pate gewesen
bei der pseudoheidnischen Taufzeremonie, die Nick und Nan kurz nach
meiner Geburt abgehalten hatten.
Aber wenn ich Peter einfach hier liegen ließ,
konnte ihn jeder finden. Und ich wollte nicht, dass irgendeine
glückliche Familie wie aus einem Werbespot mit ihren obligatorisch
blonden Zwillingen und ihrem Golden Retriever den Strand
entlangspazierte und über einen Toten stolperte, dessen Kopfhaut an
eine Katzenklappe erinnerte.
Oder schlimmer noch, er könnte auch gar nicht
gefunden werden und noch Tage hier herumliegen. Nicht mal
Werbespot-Musterfamilien gehen bei diesem Sturm am Strand
spazieren. Peter einfach tot hier im Sand zurückzulassen, wo er von
Seemöwen angepickt und von Krabben angeknabbert würde, kam also
genauso wenig infrage.
Dann kamen mir Mr. Flutie und sein arthritischer
Dackel Russ in den Sinn. Mr. Flutie war pensionierter
Feuerwehrmann, er konnte also vertragen, einen Toten zu sehen. Und
er »führte« seinen Hund jeden Tag auf der gleichen Strecke Gassi.
Na ja, eigentlich trug er Russ die meiste Zeit in einem dieser
schicken Babytragetücher, die die neureichen Vollzeitmamis in den
Städten so gerne verwendeten. Er setzte Russ nur ab, damit der sein
kleines Geschäft erledigen konnte, und dann wurde der gebrechliche
Dackel sofort wieder im Tragetuch verstaut.
Ich mochte Mr. Flutie sehr, aber selbst ich fand,
dass seine Würde unter dieser Babytragetasche litt.
Egal, Mr. Flutie war der perfekte Leichenfinder.
Egal, ob Regen oder Sonnenschein, er stand im Morgengrauen auf und
ging den ansonsten selten benutzten Trampelpfad gleich hinter dem
Strand entlang. Und das Auffinden von Peter würde ihn auch nicht
sein ganzes Leben lang verfolgen.
Mittlerweile war es fast ein Uhr morgens, also
musste ich mich beeilen, wenn ich noch etwas Schlaf bekommen
wollte, bevor ich morgen früh wieder zur Arbeit musste. Ich
brauchte fast eine halbe Stunde, um den Toten den kurzen Weg zu dem
Trampelpfad zu zerren, da ich ihn ungefähr alle zehn Schritte
absetzen und verschnaufen musste. So ein Toter war wirklich
schwer! Außerdem musste ich jedes Mal beinahe kotzen, wenn ich den
losen Hautlappen an seinem Kopf flattern sah, und ich hatte genug
Folgen von CSI gesehen, um zu wissen, dass man mich über
meinen Mageninhalt leicht mit diesem Ort in Verbindung bringen
konnte.
Aber trotz meiner Erschöpfung und der Übelkeit, die
mich immer wieder überkam, schafften wir es schließlich auf Mr.
Fluties Gassiweg. Ich versuchte, Peter so zu drapieren, dass es
natürlich aussah, bis mir klarwurde, wie völlig absurd das war.
Dann hatte ich das Gefühl, es wäre falsch, einfach so fortzugehen.
Also beugte ich den Kopf und betete so gut wie möglich, denn ich
war in meinem Leben in keinem Gottesdienst gewesen. Ich sagte
Peter, wie leid es mir tue, dass er gestorben sei, und dass ich
hoffte, er habe seinen Frieden gefunden. Ich entschuldigte mich
außerdem dafür, dass ich ihn einfach so zurückließ und bat ihn als
Schriftsteller um Verständnis für mein Dilemma und meine
Gründe, nicht die Polizei zu rufen. Als ich ihm dann auch noch zu
erklären anfing, wie gut Mr. Flutie geeignet war, die Behörden
einzuschalten, sah ich mich plötzlich von außen, wie ich mich
splitterfasernackt mit einer Leiche unterhielt. Also unterbrach ich
mein Gebet und legte stattdessen eine Schweigeminute ein. Dann ging
ich zurück zum Strand und achtete dabei darauf, dass ich alle
Spuren verwischte, die der Sturm nicht schon beseitigt hatte. Dort
angekommen rannte ich noch einmal schnurstracks ins Wasser. Ich
fühlte mich schmutzig. Regen, Meerwasser und Dreck hatten sich auf
meiner Haut zu einer klebrigen Schicht vermischt, die noch von
einer Sandkruste überzogen war. Ich rubbelte mich erst im flachen
Wasser ab und schwamm dann hinaus, nicht nur, um mir den Schmutz
abzuspülen, sondern auch, um zu meiner geheimen Bucht
zurückzugelangen, in der noch meine Kleider lagen.
Während ich mich anzog, wusste ich, dass ich in
dieser Nacht kein Auge zutun würde. Und selbst wenn es mir gelänge,
würde ich im Traum von ertrunkenen Körpern, die im Wasser treiben,
verfolgt werden.