KAPITEL 2
003
Ich war praktisch schon dabei, mich auszuziehen, noch bevor ich in der kleinen Bucht angekommen war, die mein geheimer Zufluchtsort war. Ich war viel zu wütend, um mich um einen Neoprenanzug zu scheren.
»Scheiß Linda«, dachte ich, als ich mir aufgebracht mein T-Shirt und den BH vom Leib riss.
»Scheiß Rockabill« - dieser Gedanke ließ mich noch schneller aus meiner Jeans und dem Höschen schlüpfen.
»Und Scheiß Ich«, dachte ich, als meine Schuhe und Socken in hohem Bogen in den Sand flogen. Von da waren es nur noch ein paar beherzte Schritte bis ins Meer, dessen Wellen mich sogleich umfingen wie die Arme meiner Mutter, als ich noch ein kleines Mädchen war. Tatsächlich war das Schwimmen alles, was mir von meiner Mutter geblieben war. Ihr Gesicht, das Gesicht in meinen persönlichen Erinnerungen hatte schon vor Jahren angefangen zu verblassen und war von Einzelheiten ersetzt worden, die ich nur von Fotos kannte. Aber unsere gemeinsamen heimlichen Schwimmausflüge mitten in der Nacht werde ich nie vergessen. Sie waren das kleine Geheimnis, das mich als Kind mit ihr verband.
Und das, wie ich heute vermute, meine Familie zerstört hat.
Meine Mutter, Mari, war eines Nachts, als gerade ein heftiger Sturm aufzog, pudelnackt aufgetaucht. Mein Vater und die anderen Männer aus dem Dorf waren schon seit Stunden damit beschäftigt gewesen, die Fenster der Geschäfte und Häuser auf unserer kleinen Hauptstraße und dem Dorfplatz zu verbarrikadieren. Plötzlich stieß sein Freund Trevor einen überraschten Pfiff aus, und Louis schnaubte »Heilige Scheiße«, in dem ehrfurchtsvollen Ton, den er auch anschlug, wenn sie das große Feuerwerk am Vierten Juli bewunderten. Dann hatte mein Vater, und so ziemlich alle, die in Rockabill lebten, aufgeblickt und eine nackte junge Frau mit hüftlangem schwarzen Haar gesehen, die die Straße entlanggeschlendert kam, als hätte sie eine Einladung bekommen, auf der ausdrücklich »Keine Garderobe erwünscht« gestanden hatte. Niemand rührte sich, nur mein großer, mutiger Vater zog seinen Mantel aus und legte ihn der jungen Frau um die Schultern. Sie lächelte ihn an, und er sagte immer, dass das der Moment war, in dem er wusste, dass er sie liebte und nicht ohne sie leben konnte.
Aus Gründen des Anstands hatte er sie jedoch in die einzige Pension von ganz Rockabill gebracht, die die Grays damals betrieben. Dass es strategisch günstig ganz in der Nähe unseres Hauses lag, wurde in der offiziellen Geschichte nie explizit erwähnt. Damals lebten Nick und Nan noch und führten das Gästehaus, nicht Stuarts bösartige Eltern Sheila und Herbert. Nick und Nan gaben ihr ein Bett für die Nacht, waren aber nicht besonders überrascht, als sie es morgens leer vorfanden. Es überraschte sie genauso wenig, dass sie das Mädchen morgens zusammen mit meinem Dad im örtlichen Diner antrafen, wo sie sich ein üppiges Frühstück, bestehend aus Eiern mit Speck und Pfannkuchen, teilten. Ein Jahr später kam ich zur Welt, und wir waren die perfekte glückliche Familie. Meine Eltern liebten sich über alles, und Nick und Nan gaben die idealen Ersatzgroßeltern ab (die Eltern meines Vaters waren schon gestorben, bevor ich geboren wurde), und schon bald wurde Nicks und Nans richtiger Enkel, Jason, mein bester Freund und Seelenverwandter. Sechs Jahre lang war ich wohl das glücklichste Kind der Welt. Bis zu einer Nacht, in der wieder ein Sturm wütete, der fast genauso heftig war wie in der Nacht, als meine Eltern das erste Mal das Bett teilten. Am nächsten Morgen war meine Mutter verschwunden, genauso plötzlich und auf genauso unerklärliche Weise, wie sie aufgetaucht war.
Bald lernte ich die Wahrheit über meine Familie kennen: Das gemütliche Nest, in dem ich glücklich und zufrieden aufgewachsen war, war bloß schöner Schein gewesen. Die Leute aus Rockabill, abgesehen von Nick, Nan und Jason, hatten meine Mutter nie akzeptiert. Viele aus dem Dorf hielten sie für geradezu gefährlich anders und fühlten sich natürlich in ihrem unerbittlichen Urteil bestätigt, als sie ihren Mann und ihre kleine Tochter einfach so zurückließ. Dass ein kleines Mädchen, dessen Mutter sie verlassen hatte, Mitgefühl verdiente, wurde von der Tatsache verdrängt, dass ich fast genauso aussah wie sie: dieselben dunklen Haare und Augen, dieselbe blasse Haut und, als ich älter wurde, dieselben gefährlichen Kurven. Rockabill war keine besonders religiöse Gemeinde, aber unsere puritanischen Vorfahren hatten über die Generationen dennoch ihre Spuren in den Köpfen der Bewohner hinterlassen. »Genau wie ihre Mutter«, tuschelten sie. »Dieses Mädchen sieht aus wie die Sünde selbst.« Das Gerede traf mich und schwoll zu regelrechtem Geschrei an, als sich noch mehr unglückliche Vorfälle ereigneten.
Wütend schwamm ich weiter und rang mit den starken Strömungen und Kabbelungen des großen Strudels im Atlantischen Ozean vor Maine, der den lustigen Namen Old Sow, die alte Sau, trägt und viele kleinere Nebenstrudel mit einschließt, die konsequenterweise »Ferkel« genannt werden. Ich wollte mich in den Wasserwirbeln verlieren, und das unruhige Meer an dieser Stelle erfüllte mir diesen Gefallen nur zu gern.
Der Old-Sow-Strudel hatte den Fischern von Rockabill früher oft das Verderben gebracht. Zu viele von ihnen waren in seinen Fluten gestorben. Doch jetzt waren diese tödlichen Wasserwirbel praktisch unsere Lebensgrundlage: die Touristenattraktion, mit der wir unseren Lebensunterhalt verdienten. Die Old Sow ist einer der vier größten Strudel der Erde, und Boote taten gut daran, nicht hineinzugeraten. Aber ich tollte in seiner Nähe herum wie eine nackte, kleine Robbe.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich trotz meiner geringen Körpergröße so gut schwimmen konnte und warum ich es so sehr liebte. Ich wusste nur, dass ich nirgends glücklicher war als im Wasser. Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann steckte noch mehr dahinter. Ich musste einfach schwimmen. Es war nicht nur ein Verlangen, das mich ins Wasser trieb, sondern eine wahre Sucht. Nicht, dass ich die Bedeutung dieses Bedürfnisses verstand. Ich wusste, meine Liebe fürs Schwimmen war der Schlüssel zu irgendetwas, aber es war einer dieser lästigen, geheimnisvollen Exemplare, die wohl an jedem geerbten Schlüsselbund hingen. Dieser eine Schlüssel, der einfach zu keiner Tür im Haus passen wollte und auch zu keinem Schrank im Arbeitszimmer und keinem Koffer auf dem Speicher. Schwimmen war mein rätselhafter Schlüssel, dessen bloße Präsenz ständig an mir nagte. Aber ganz gleich, an wie vielen Schlössern ich ihn auch ausprobierte, er behielt sein Geheimnis hartnäckig für sich.
Ich versuchte all meine negativen Gedanken zur Seite zu schieben, während der Donner über den Himmel rollte, es in Strömen regnete und sich der Atlantik als Antwort auf das Unwetter störrisch aufbäumte. Der Sturm war bereits aufgezogen, als ich vom Supermarkt nach Hause gefahren war, und war dann losgebrochen, während mein Vater und ich noch beim Abendbrot saßen. Während des Essens hatte ich mich zwingen müssen, nicht meine Gabel auf den Teller zu knallen und in die Nacht hinauszulaufen wie eine Furie. Ich war noch immer so wütend wegen meines Zusammenstoßes mit Linda, dass ich ziemlich ungeduldig mit meinem Vater umsprang. Deshalb fühlte ich mich jetzt schuldig und bitter, und es machte mich außerdem noch wütender …
Wenn es mir so ging, half nur noch schwimmen.
Schwimmen hatte immer eine fast therapeutische Wirkung auf mich, aber während eines Sturms war es besser als Prozac. Vielleicht lag es daran, dass meine Mutter während eines Unwetters aufgetaucht und wieder verschwunden war, dass ich so verrückt danach war. Aber ich war nie glücklicher als in den Momenten, wenn das Meer wild und wogend und wütend war und ich so machtlos von ihm umfangen wurde wie eine von Lindas Lieblingsbuchheldinnen von einem säbelschwingenden Freier.
Ich wurde von einer besonders starken Welle untergetaucht und bemerkte, dass ich gefährlich nah an die Old Sow herangeraten war. Der Strudel in seiner herrlichen Unvorhersehbarkeit wirbelte munter vor sich hin, obwohl er um diese Nachtzeit eigentlich zur Ruhe gekommen sein sollte. Aber ich war so unglaublich wütend, dass nur wirklich wildes Wasser mir heute helfen konnte. Immer wenn ich mit Linda zusammentraf, musste ich zwangsläufig an meine Mutter denken. Ihr Verschwinden war wie ein fauler Zahn, der längst hätte gezogen werden sollen.
Ich nutzte die Kraft eines der Ferkel der Old Sow, um mich in die Luft schleudern zu lassen, damit ich dann wie ein Tümmler wieder ins Wasser eintauchen konnte. Ich schlug härter auf die Oberfläche auf, als ich erwartet hatte, und das Ferkel sog mich in eine starke Strömung, die mich zu seiner Mutter tragen wollte. Ich kämpfte mit aller Kraft dagegen an, um mich daraus zu befreien, aber die Strömung hielt mich in eisernem Griff. Die Old Sow war zwar nicht so stark wie die kraftvollsten Strudel der Welt, aber dennoch selbst für jemanden mit meinem außergewöhnlichen Schwimmtalent eine Nummer zu groß. Ich war viel zu nah herangekommen, und es würde meine ganze Kraft kosten, mich wieder aus dem Sog zu befreien.
Ich kämpfte verbissen dagegen an, ohne auch nur ein Stückchen vorwärtszukommen, und langsam spürte ich, wie Panik in mir aufstieg. Wenn ich jetzt ertrinken würde, würde mich das echt ankotzen. Es wäre der Beweis dafür, dass alles, was sie nach Jasons Tod über mich gesagt hatten, der Wahrheit entsprach, obwohl es nichts als ein Haufen Lügen war.
Aber dann - wie durch ein Wunder - ließ der Sog nur für einen kurzen Augenblick plötzlich nach. Mit einer fast übermenschlichen Anstrengung gelang es mir, mich zu befreien, und ich entfernte mich respektvoll von der Old Sow und ihrer übermütigen Nachkommenschaft. Mit kräftigen Bewegungen glitt ich durchs Wasser und spürte noch immer das Adrenalin in meinen Adern pulsieren. Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich leichtsinnig genug gewesen war, so nah an den Strudel heranzuschwimmen. Ich verfluchte meine eigene Dummheit, und mein Herz hämmerte in meiner Brust, halb aus Anstrengung, halb aus purer Angst.
Dann erstarrte ich plötzlich: Mein Herz fühlte sich an, als würde sich eine eiskalte Hand darum legen und es zum Stehen bringen wollen. Mein Gehirn versagte. Nur meine Hände und Füße paddelten unbewusst weiter im Wasser, so dass ich nicht unterging wie ein Stein.
Ich war der Old Sow noch einmal unversehrt entkommen, aber jemand anderes hatte nicht so viel Glück gehabt.
Eine Gestalt wippte im Sog des Strudels wie eine albtraumhafte Boje. Und aus einer schrecklichen Erfahrung heraus wusste ich, dass es sich um einen Menschen handeln musste. Hatte ich vorher geglaubt, Angst zu haben, dann hatte ich mich getäuscht, denn jetzt setzte ein panikartiger Fluchtreflex in mir ein. Jede Faser meines Körpers trieb mich aus dem Wasser und wollte mich davon abbringen, mich um das zu kümmern, was da draußen vor sich ging.
Nicht, dass ich gedacht hätte, es handle sich um irgendein Meerungeheuer. Vielmehr nahm ich an, dass es jemand war, den ich liebte: ertrunken und tot durch meine Schuld.
Hatte mich irgendjemand zur Bucht gehen sehen? Ich hatte unser Haus durch die Hintertür verlassen und war durch den Wald gegangen. Neben uns wohnten nur die Grays, und Sheila und Herbert waren in so einer kühlen Nacht sicher nicht draußen im Garten. Dann war da noch Stuart, aber falls der gedacht hätte, ich ertrinke, dann hätte er ganz sicher keinen Rettungsversuch unternommen. Eher würde er sich nur eine Zigarre anzünden, um meinen Todeskampf richtig genießen zu können.
Dann blieb nur noch mein Vater. Bei diesem Gedanken setzte mein Herz, das kurzzeitig wieder zu schlagen begonnen hatte, erneut aus.
Aber dann meldete sich mein Gehirn zu Wort. Mein Vater wusste ja, dass ich sehr gut schwimmen konnte, selbst wenn er nie darüber sprach. Er würde keinen überstürzten Rettungsversuch unternehmen. Aber der einzige Weg herauszufinden, ob ich wieder den Tod von jemandem zu verantworten hatte, war, diesen Körper zu bergen. Aus dem großen Old-Sow-Strudel, dessen kleiner Ableger mich gerade schon beinahe ertränkt hätte. Scheiße.
Erst ließ ich mich von einem der äußersten Ringe des Strudels treiben und versuchte herauszufinden, wie zur Hölle ich mich der Old Sow weiter nähern könnte. Aber es war unmöglich, es war völlig ausgeschlossen, näher heranzukommen. Der Körper führte, gefangen im Strudel, einen grotesken Tanz auf. Ich konnte ihn auf keinen Fall sich selbst überlassen. Schließlich war es ein Mensch und vermutlich sogar einer, den ich kannte. Erneut stieg Panik in mir auf, und ich befahl mir selbst, nicht näher heranzuschwimmen.
Also trat ich mit kraftvollen Schwimmzügen den Rückzug an. Denk nach, Jane.
Aber mir wollte nichts einfallen. Es gab keinen Weg, näher heranzuschwimmen, und den Körper zu sehen, wie er unter Wasser gesogen und dann wieder an die Oberfläche gedrückt wurde, schürte meine Angst und Panik nur noch weiter.
Meine Gefühle überschlugen sich. Ich versuchte, die Erinnerung zu unterdrücken, aber der Anblick des Körpers, gefangen im Strudel, war, als schaute ich mir eine Videoaufzeichnung dieser schrecklichen Nacht an. Ich zwang mein Gehirn, nicht mehr daran zu denken. Ich durfte diese Gedanken nicht zulassen, nichts würde mich dazu bringen, das Grauen noch einmal zu durchleben. Während ich noch damit kämpfte, meine Angst unter Kontrolle zu bringen, spürte ich ein anderes Gefühl in mir aufsteigen - Wut. Ich war so unglaublich wütend. Was zur Hölle machte schon wieder ein Toter in meinem Strudel? Wie oft sollte ich denn noch eine Leiche darin finden müssen? Sollte es mit Leichen nicht eher genauso sein wie mit Blitzen, die ein und dieselbe Person nur einmal trafen?
Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich dazu, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und auf die Gestalt, die der Gnade der Old Sow auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Der Körper war in dem starken Sog im Epizentrum des wirbelnden Strudels gefangen. Aber mittlerweile schien es so, als verlöre das Wasser an Kraft, denn die Kreise, die die Gestalt zog, wurden anscheinend größer und weiter. »Natürlich wurden sie das«, redete ich mir ein, damit ich meine Angst unter Kontrolle hielt. »Ich bin Jane, die Leichenflüsterin.«
Der Körper schien sich tatsächlich langsam aus dem Sog zu lösen. Der Strudel wurde zwar nicht erkennbar schwächer, aber seine innere Kraft ließ unmerklich nach und trieb nun das von sich weg, was er vorher unerbittlich angesogen hatte.
»Komm schon«, dachte ich voller Ungeduld, schob meine Angst zur Seite und schürte bewusst meine Wut. Ich zog Zorn ganz klar meinen Erinnerungen vor und zwar immer. »Komm zu Jane …«
Die auf dem Wasser wippende Gestalt kam näher und näher, aber nun hing sie in einem der Ferkel fest. Vor Frust hätte ich am liebsten geschrien. Aber jetzt konnte ich zumindest schon sehen, dass es sich bei dem Körper um einen Mann handelte, den ich nicht als einen der Einwohner von Rockabill erkannte. »Wer ist das bloß?«, dachte ich und wandte meine Aufmerksamkeit dann dem hungrigen Ferkel zu. »Lass ihn los!«, rief ich, obwohl meine Stimme im Tosen des Sturms und der Wellen unterging.
Doch als hätte es mich gehört, spuckte das Ferkel plötzlich sein grausiges Spielzeug aus. Der Mann hatte sich endlich aus dem Strudel gelöst, und eine dankbare Strömung trieb ihn geradewegs in meine Richtung. Ich erschauderte, nicht nur wegen der immer näher kommenden Leiche, sondern auch wegen der unheimlichen Ähnlichkeit, die diese Nacht mit der Nacht damals hatte. »Du wirst jetzt nicht daran denken!«, ermahnte ich mich und schloss diese Tür in meinem Kopf wieder, noch bevor sie sich ganz öffnen konnte.
Außerdem war der Körper im Hier und Jetzt nur noch eine Armlänge von mir entfernt …
Hab dich!
Jetzt hatte ich die Leiche zu fassen bekommen und versuchte sie Richtung Ufer zu ziehen. Das Meer war noch immer rau, und es war ein weiter Weg, mit der schweren Last an Land zu schwimmen. Aber ich war bei weitem nicht so erschöpft wie in der Nacht damals, also ging es schneller als erwartet, und schon bald war ich so nah ans Ufer herangekommen, dass ich wieder Boden unter den Füßen spürte und das letzte Stück an Land gehend zurücklegen konnte. Wer auch immer er war, er war vollständig bekleidet, und die vollgesogenen Kleider machten es immer schwieriger, ihn zu bugsieren. Noch immer hatte ich sein Gesicht nicht genau sehen können. Die Wellen waren zu stark, um ihn umzudrehen. Es gelang mir, mich unter meiner Last aufzurichten und den Mann an den Strand zu ziehen. Nach Luft japsend sank ich neben ihm in den Sand. Das Schwimmen war gar nicht so schlimm gewesen, aber die paar letzten Meter, die ich ihn hatte tragen müssen, hätten mich fast umgebracht.
Außerdem überzog plötzlich Gänsehaut meinen Körper, nachdem das Adrenalin langsam abgebaut war. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich die ganze Zeit an eine Leiche geklammert hatte.
Und zu allem Überfluss musste ich ihn noch einmal anfassen, wenn ich erfahren wollte, wer er war.
Der Körper lag mit dem Gesicht im Sand. Als ich ihn gerade herumwälzen wollte, fiel mein Blick auf seinen Hinterkopf, und mir drehte es fast den Magen um.
Ein großer Hautlappen hatte sich gelöst und enthüllte einen sehr weißen Schädelknochen, der offenbar eingedrückt war. Das Meerwasser hatte schon alles Blut weggewaschen, aber das machte den Anblick nur noch schlimmer. Nicht oft wurde man auf so deutliche Weise daran erinnert, dass sich hinter unseren Gesichtern eines dieser weißen Skelette befindet, die wohl in allen Kulturen für Tod und Verfall stehen. Ich glaubte sogar, an der eingedrückten Stelle das Gehirn hervorblitzen zu sehen und hätte mich beinahe übergeben müssen. Kraftlos ließ ich mich wieder in den Sand fallen - wohlweislich mit dem Rücken zu dem Toten - und kämpfte gegen die Wellen der Übelkeit an. Wer er auch war, er war nicht ertrunken. Rund um die Old Sow gab es keine Felszungen, an denen er sich diese Kopfverletzung hätte zuziehen können. Ich spürte einen Anflug der Erleichterung: Wer auch immer hier heute Nacht gestorben war, es war nicht meine Schuld. Das machte ihn zwar auch nicht wieder lebendig, doch ich konnte ein Gefühl der Erleichterung trotzdem nicht unterdrücken.
Dann fiel endlich der Groschen: Tote mit eingeschlagenem Schädel schlenderten nicht selbst zum Strand.
Er musste ermordet worden sein.
Und um endlich seine Identität herauszufinden, musste ich ihn erneut anfassen, um ihn herumdrehen zu können.
Also tat ich, was jeder tapfere Krieger tun würde, wenn er mit einer so schrecklichen Aufgabe konfrontiert wäre: Ich kniff die Augen zusammen und jammerte: »Oh nein, oh nein, oh nein«, als ich nach dem Arm der Leiche tastete und ihn unter Aufwendung all meiner Kraft und so schnell wie möglich umzudrehen versuchte.
Dann ließ ich mich zitternd und jammernd zurück in den Sand sinken, bis das Erbrochene, das mir in die Kehle gestiegen war, wieder den Rückzug angetreten hatte.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, konnte mich aber nicht dazu durchringen, ihn anzusehen.
»Komm schon, Jane«, redete ich auf mich ein. »Wahrscheinlich ist er gar nicht aus Rockabill. Vielleicht ist es ja irgendein Fremder.«
Schließlich musste ich meine Augenlider mit den Fingerspitzen anheben. Mein ganzer Körper wehrte sich dagegen, obwohl mein Hirn ihn als komplettes Weichei beschimpfte.
Als ich schließlich doch das Gesicht des toten Mannes anblickte, schluchzte ich beinahe vor Erleichterung - und aus einem damit verbundenen Schuldgefühl - auf. Ich war erleichtert, weil ich zwar wusste, wer der Tote war, ihn aber nicht gut kannte oder viel mit ihm verband. Es war Peter, der sich über den Winter in ein Ferienhaus der Allens eingemietet hatte. Ich kannte nicht einmal seinen Familiennamen. Es war bekannt, dass er an einem Buch arbeitete und außerhalb der Saison hier war, um die nötige Ruhe dafür zu haben. Er kaufte hin und wieder im Buchladen ein und schien sich immer gern mit mir zu unterhalten, ohne dass sein Interesse an mir irgendwie unangenehm gewesen wäre. Peter war nur ein ziemlich durchschnittlicher Mann mittleren Alters, der zu jedem freundlich war und vielleicht ein wenig einsam, ganz allein in seinem winzigen Ferienhaus. Manchmal konnte er zwar ziemlich aufdringliche Fragen stellen, aber sobald er merkte, dass er zu weit gegangen war, ruderte er zurück und entschuldigte sich damit, dass er manchmal vergaß, dass echte Menschen keine Figuren aus einem Buch waren, die nur darauf warteten, ihre Geheimnisse zu offenbaren.
Deshalb fühlte ich mich jetzt auch so schuldig wegen meiner Erleichterung, nachdem ich ihn erkannt hatte. Peter war ein netter Mann gewesen und sogar freundlich zu mir geblieben, als er schon genug Zeit in Rockabill verbracht hatte, um meine »wahre« Geschichte erfahren zu haben. Er hatte es nicht verdient, ermordet und dann wie ein Sack Müll entsorgt zu werden.
Apropos entsorgen…
Was zur Hölle sollte ich jetzt bloß mit der Leiche machen?
Ich konnte ja wohl schlecht die Polizei rufen. Wie sollte ich ihnen erklären, warum ich hier war? Oder das Mordopfer? »Bist du wahnsinnig?«, schaltete sich wenig hilfreich mein Gehirn ein. »Sie werden glauben, du hast ihn umgebracht.«
Es war also völlig ausgeschlossen, die Polizei zu rufen. Das würde mir bis in alle Ewigkeit anhängen. Endlich war das Leben für mich in Rockabill wieder halbwegs erträglich geworden. Vielleicht nicht wirklich angenehm, aber abgesehen von Linda und Stuart versuchte mittlerweile niemand mehr, mich aktiv zu vergraulen. Wenn ich mir jetzt irgendetwas Seltsames erlaubte - und eine Leiche zu finden, würde ich definitiv dazu zählen -, würde alles wieder von vorne anfangen.
Auch ein anonymer Telefonanruf kam nicht infrage.
 
In der Nebensaison lebten nur ein paar hundert Leute in Rockabill. Anonymität war da ausgeschlossen, vor allem, weil es sich bei dem Sheriff, der meinen Anruf sicher entgegennehmen würde, um George Varga handelte, und der war nicht nur der beste Freund meines Vaters, sondern auch mein Pate gewesen bei der pseudoheidnischen Taufzeremonie, die Nick und Nan kurz nach meiner Geburt abgehalten hatten.
Aber wenn ich Peter einfach hier liegen ließ, konnte ihn jeder finden. Und ich wollte nicht, dass irgendeine glückliche Familie wie aus einem Werbespot mit ihren obligatorisch blonden Zwillingen und ihrem Golden Retriever den Strand entlangspazierte und über einen Toten stolperte, dessen Kopfhaut an eine Katzenklappe erinnerte.
Oder schlimmer noch, er könnte auch gar nicht gefunden werden und noch Tage hier herumliegen. Nicht mal Werbespot-Musterfamilien gehen bei diesem Sturm am Strand spazieren. Peter einfach tot hier im Sand zurückzulassen, wo er von Seemöwen angepickt und von Krabben angeknabbert würde, kam also genauso wenig infrage.
Dann kamen mir Mr. Flutie und sein arthritischer Dackel Russ in den Sinn. Mr. Flutie war pensionierter Feuerwehrmann, er konnte also vertragen, einen Toten zu sehen. Und er »führte« seinen Hund jeden Tag auf der gleichen Strecke Gassi. Na ja, eigentlich trug er Russ die meiste Zeit in einem dieser schicken Babytragetücher, die die neureichen Vollzeitmamis in den Städten so gerne verwendeten. Er setzte Russ nur ab, damit der sein kleines Geschäft erledigen konnte, und dann wurde der gebrechliche Dackel sofort wieder im Tragetuch verstaut.
Ich mochte Mr. Flutie sehr, aber selbst ich fand, dass seine Würde unter dieser Babytragetasche litt.
Egal, Mr. Flutie war der perfekte Leichenfinder. Egal, ob Regen oder Sonnenschein, er stand im Morgengrauen auf und ging den ansonsten selten benutzten Trampelpfad gleich hinter dem Strand entlang. Und das Auffinden von Peter würde ihn auch nicht sein ganzes Leben lang verfolgen.
Mittlerweile war es fast ein Uhr morgens, also musste ich mich beeilen, wenn ich noch etwas Schlaf bekommen wollte, bevor ich morgen früh wieder zur Arbeit musste. Ich brauchte fast eine halbe Stunde, um den Toten den kurzen Weg zu dem Trampelpfad zu zerren, da ich ihn ungefähr alle zehn Schritte absetzen und verschnaufen musste. So ein Toter war wirklich schwer! Außerdem musste ich jedes Mal beinahe kotzen, wenn ich den losen Hautlappen an seinem Kopf flattern sah, und ich hatte genug Folgen von CSI gesehen, um zu wissen, dass man mich über meinen Mageninhalt leicht mit diesem Ort in Verbindung bringen konnte.
Aber trotz meiner Erschöpfung und der Übelkeit, die mich immer wieder überkam, schafften wir es schließlich auf Mr. Fluties Gassiweg. Ich versuchte, Peter so zu drapieren, dass es natürlich aussah, bis mir klarwurde, wie völlig absurd das war. Dann hatte ich das Gefühl, es wäre falsch, einfach so fortzugehen. Also beugte ich den Kopf und betete so gut wie möglich, denn ich war in meinem Leben in keinem Gottesdienst gewesen. Ich sagte Peter, wie leid es mir tue, dass er gestorben sei, und dass ich hoffte, er habe seinen Frieden gefunden. Ich entschuldigte mich außerdem dafür, dass ich ihn einfach so zurückließ und bat ihn als Schriftsteller um Verständnis für mein Dilemma und meine Gründe, nicht die Polizei zu rufen. Als ich ihm dann auch noch zu erklären anfing, wie gut Mr. Flutie geeignet war, die Behörden einzuschalten, sah ich mich plötzlich von außen, wie ich mich splitterfasernackt mit einer Leiche unterhielt. Also unterbrach ich mein Gebet und legte stattdessen eine Schweigeminute ein. Dann ging ich zurück zum Strand und achtete dabei darauf, dass ich alle Spuren verwischte, die der Sturm nicht schon beseitigt hatte. Dort angekommen rannte ich noch einmal schnurstracks ins Wasser. Ich fühlte mich schmutzig. Regen, Meerwasser und Dreck hatten sich auf meiner Haut zu einer klebrigen Schicht vermischt, die noch von einer Sandkruste überzogen war. Ich rubbelte mich erst im flachen Wasser ab und schwamm dann hinaus, nicht nur, um mir den Schmutz abzuspülen, sondern auch, um zu meiner geheimen Bucht zurückzugelangen, in der noch meine Kleider lagen.
Während ich mich anzog, wusste ich, dass ich in dieser Nacht kein Auge zutun würde. Und selbst wenn es mir gelänge, würde ich im Traum von ertrunkenen Körpern, die im Wasser treiben, verfolgt werden.