KAPITEL 11
012
Erzähl mir, was dir passiert ist«, sagte Ryu. Seine Stimme klang ruhig in der Dunkelheit. »Ich möchte es mit deinen eigenen Worten hören.«
Ich versteifte mich in seinen Armen. Jetzt war eigentlich Kuscheln angesagt und nicht der Augenblick, die Bombe platzen zu lassen.
»Was?«, fragte ich in der Hoffnung, er könne etwas anderes gemeint haben.
»Erzähl mir, wie das mit deinem Freund passiert ist. Ich meine, als er starb. Und auch, was danach los war.«
Ich stöhnte innerlich. Das war wirklich das Allerletzte, über das ich sprechen wollte. Es war ja schon mehr als eigenartig, mit dem Mann, mit dem man soeben Sex hatte, über seinen ersten - und bisher einzigen - Freund zu sprechen. Aber ihm auch noch von Jasons Tod und seinen Folgen zu erzählen, wäre wirklich die Hölle für mich. Es war mir unmöglich, meinen Schmerz darüber in Worte zu fassen. Außerdem bezweifelte ich, dass Ryu, der Menschen mit Feuerwerken verglichen hatte, auch nur ansatzweise nachfühlen könnte, was ich ihm verständlich machen wollte.
Ich wandte mich von ihm ab, drehte ihm den Rücken zu. Aber so schnell ließ er sich nicht abwimmeln.
»Erzähl es mir«, drängte er mich sanft und rollte sich so zu mir, dass wir in der Löffelchenstellung dalagen.
Ich schloss die Augen und grübelte, bis Ryu mich zärtlich in die Schulter biss. Ich seufzte und fing ganz von vorne an. Insgeheim hoffte ich, dass ich damit davonkommen würde, nur den Anfang zu erzählen. Also begann ich mit meinen Eltern und damit, wie sie sich getroffen hatten. Ich erzählte ihm von Nick und Nan, unseren wunderbaren Bilderbuch-Hippie-Nachbarn, die immer wie eine Familie für mich waren. Die beiden hatten einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn war Stuarts Vater, und die Tochter war auf die schiefe Bahn geraten und hatte angefangen, Drogen zu nehmen. Sie hatte ihren Sohn Jason unter ziemlich dramatischen Umständen allein am Bahnhof von Chicago zurückgelassen, also hatten seine Großeltern ihn zu sich genommen. Natürlich war Jason traurig, dass seine Mutter ihn verlassen hatte, aber meine Eltern und Nick und Nan liebten uns beide so sehr, wie zwei Kinder nur geliebt werden konnten. Und irgendwann verliebten wir uns leidenschaftlich ineinander. Ich weiß nicht mehr, wie genau es angefangen hat, eigentlich hatte es schon immer eine besondere Verbindung zwischen uns gegeben. Wir bedeuteten einander alles, und unsere Beziehung entwickelte sich mit uns. Schon als Kinder waren wir wie Zwillinge. Wir standen uns so nah, man hätte meinen können, wir wären demselben Bauch entsprungen. Und dann, als wir beide sechs Jahre alt waren, verschwand auch meine Mutter. Damals war Rockabill ein Dorf, in dem es niemanden gab, der geschieden war, ein außereheliches Kind hatte oder - Gott bewahre - sein eigen Fleisch und Blut verließ. Jason und ich hatten uns schon vorher nahegestanden, aber jetzt wurde unsere Verbindung außergewöhnlich eng.
»Jason und ich verstanden einander, und wir hatten dieses ›Wir gegen den Rest der Welt‹-Gefühl«, fuhr ich fort und drehte mich wieder um, so dass Ryu und ich uns direkt ansahen. Er lächelte mir aufmunternd zu. Ich nutzte die Gelegenheit und fing an, ein wenig an seiner Unterlippe herumzuknabbern. Dann küsste ich ihn ungestüm und öffnete bereitwillig den Mund, als ich spürte, dass seine Zunge meine suchte. Doch er durchschaute mein Ablenkungsmanöver und wandte entschieden den Kopf ab. »Ich will erst die ganze Geschichte hören«, ermahnte er mich mit sanfter Stimme.
Ich verfluchte ihn innerlich, sammelte mich dann aber wieder und erzählte weiter:
»Jason und ich teilten alles, bis auf ein einziges Geheimnis.« Ich musste mich selbst daran erinnern zu atmen und erzählte dann weiter. »Ich hatte ihm nie von meiner Schwimmerei erzählt. Denn Schwimmen ist in meiner Familie ein so streng gehütetes Geheimnis wie in anderen Inzest, Alkoholsucht oder Untreue.« Meine Stimme versagte, obwohl ich bemüht gewesen war, ganz locker zu klingen.
Dann sprudelte der Rest der Geschichte ganz plötzlich aus mir heraus. »Eines Tages ging ich ganz früh an den Strand, um eine Runde zu schwimmen. Ich ließ meine Klamotten in unserer Lieblingsbucht zurück und tauchte in die Wellen. Aber Jason war auch in die Bucht gekommen, oder er war mir von zu Hause aus gefolgt, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall konnte er nicht wissen, dass mir nichts passieren würde. Es war Winter und das Wasser eiskalt. Außerdem ging an dem Tag ein ziemlich starker Wind, also war der Wellengang sehr stark. Er musste ja glauben, dass ich ertrinken würde.« Dicke Tränen brannten mir auf den Wangen. »Er hat versucht, mich zu retten.« Meine Stimme versagte. Ich konnte nicht mehr weitersprechen und schloss die Augen. Ich spürte, wie Ryu mir die Tränen abwischte, aber ich war meilenweit weg und durchlebte erneut meine schrecklichen Erinnerungen.
Ich sah mich nach meinem erfrischenden Bad im tosenden Meer aus dem Wasser kommen und entdeckte am Strand neben meinem Kleiderhaufen einen zweiten. Ich kniete mich nieder, um ihn genauer zu inspizieren, und ich erinnerte mich noch genau, wie ich mich gefühlt hatte, als mir klarwurde, dass es Jasons New-England-Patriots-T-Shirt war, seine alte abgewetzte North-Face-Jacke und seine Lieblingsjeans. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen. Aber es gibt keine Worte dafür. Ich weiß, dass man im Deutschen neue Wörter erfinden kann, indem man verschiedene andere aneinanderreiht, bis die gemeinte Idee oder das Gefühl deutlich wird. Wenn das auch im Englischen möglich wäre, bestünde ein Wort für das schreckliche Gefühl, das mich übermannte, als ich dort kniete und Jasons löchrige Wandersocken in der Hand hielt, aus einer Kombination aus totaler Verzweiflung, panischer Angst und dem überwältigenden Wunsch, zu wissen, dass er okay, dass alles nur ein Albtraum oder ein Missverständnis war.
»Die restliche Geschichte kennst du«, sagte ich mit tränenrauer Stimme. Ich hielt meine Augen weiter geschlossen. »Ich suchte stundenlang nach ihm, bis ich ihn schließlich im Old-Sow-Strudel entdeckte. Nach einer Weile trieb er zu mir herüber. Ich bildete mir ein, das würde bedeuten, er lebe noch und schwimme auf mich zu. Aber als ich ihn zu fassen bekam, war er kalt, und seine toten Augen starrten mich an.« Ich erschauderte, und Ryu nahm mich noch fester in den Arm, wie um mich zu beschützen.
»Irgendwie habe ich es geschafft, mit ihm zurück an den Strand zu schwimmen. Ich war völlig erschöpft. Ich brach mit ihm zusammen und verlor das Bewusstsein. Ich erwachte erst wieder, als ich die Notarztsirene hörte und man mich in den Krankenwagen schob und Jason in den Leichenwagen. Er war tot und ich so gut wie.«
Ryu nickte und strich mir beruhigend über den Rücken. »Du hast unglaublich viel Energie gebraucht, um ihn aus dem Strudel zu ziehen. Nell meinte, man hätte es meilenweit spüren können, aber sie hatten keine Ahnung, was passiert war und wer dahintersteckte. Sie konnten nicht ahnen, dass du es warst, denn niemand wusste auch nur annähernd, über welche Fähigkeiten du verfügst. Deine Panik war es. Wenn wir so sehr die Kontrolle über uns verlieren, kann das sehr gefährlich für uns sein. So viel Energie freizusetzen, kann uns den Tod kosten. Du hast Glück, dass du überlebt hast.«
Ich presste die Lippen zusammen, und mein Magen verkrampfte sich. »Glück?«, fragte ich bitter. »Ich finde nicht, dass ich Glück hatte. Was ich nach Jasons Tod durchmachen musste, hätte mich beinahe zerstört.« Ryu runzelte die Stirn über meine Worte, aber ich sprach einfach weiter.
»Das Drama um zwei ortsansässige Jugendliche, von denen einer im Old-Sow-Strudel ertrunken war, war die große Schlagzeile. Wir waren am Atlantik aufgewachsen und wussten genau, dass wir bei solchen Wetterverhältnissen nichts im Wasser zu suchen hatten. Jason war tot, und ich lag tagelang im Koma, also kursierten die wildesten Spekulationen darüber, was passiert war. Es hieß, Jason und ich hätten einen Selbstmordpakt geschlossen oder dass es Mord mit anschließendem versuchten Selbstmord war oder ein Selbstmord mit missglücktem Rettungsversuch. Da Jason so perfekt war und ich eben die bin, die ich bin, war für alle klar, dass es nur meine Schuld sein konnte. Jason war viel zu lebenslustig, um sich umbringen zu wollen, und ganz sicher traute ihm keiner zu, dass er mich hatte umbringen wollen, um sich dann selbst zu töten. Also musste er mich bei einem Selbstmordversuch ertappt haben und beim Versuch, mich zu retten, gestorben sein. Auf jeden Fall hatte ich, die Schuldige, überlebt, und der arme Jason war tot. Das ist der Stoff, aus dem schlechte Filme gemacht sind. Natürlich stürzten sich die Medien darauf wie die Schmeißfliegen«, sagte ich bitter.
»Wer kommt denn bitte schön auf so absurde Geschichten?«, fragte Ryu verwundert. »Vor allem, wenn es sich um zwei Kinder handelt.«
Ich schnaubte verächtlich. »Wenn sie eine Kamera sehen, sind die Leute gern bereit, alles Mögliche zu sagen, nur damit sie es einmal in die Nachrichten schaffen. Und mich konnte sowieso niemand ausstehen. Also nutzten die Kids in der Schule die Gelegenheit und schlachteten meinen ›Selbstmordversuch‹ aus. Jason sah unglaublich gut aus, er war ein toller Sportler und unheimlich beliebt, nur seine Beziehung mit mir störte das Bild. Niemand hatte je verstanden, was er an mir fand. Also erzählten Linda Allen und Jasons Cousin Stuart den Medien bereitwillig, dass Jason sich von mir lösen wollte und sich nur noch mit mir abgegeben hatte, weil ich ihm leidtat.« Meine Stimme war kalt vor Wut geworden, und Ryus Augen verengten sich vor Mitgefühl.
»Linda deutete sogar an, dass sie und Jason angefangen hatten, miteinander zu gehen und dass das vermutlich der Grund war, warum ich ausflippte. Es ist klar, warum Linda so etwas erzählt - sie hatte schon immer für Jason geschwärmt, und sie neigt fast genauso stark zum Selbstbetrug wie die Heldinnen aus den Schundromanen, die sie so gerne liest. Und was Stuart betrifft, er und Jason haben sich nie besonders gut verstanden, als Jason noch lebte. Ich glaube, er hat einfach eine Gelegenheit gewittert, Ärger zu machen, weil er von Natur aus ein fieses Arschloch ist. Besonders Mädchen gegenüber, weil er von denen normalerweise für seine Lügen nicht einmal eine auf die Schnauze bekommt.« Ich versuchte, meine Wut wieder etwas unter Kontrolle zu bringen und fuhr erst dann fort: »Glücklicherweise habe ich nichts von den Medienberichten mitbekommen, denn ich lag zu dem Zeitpunkt noch im Krankenhaus. Man hatte mich fixiert, damit ich mir nichts ›antun‹ konnte. Aber die Leute konnten es natürlich kaum erwarten, mich von den brodelnden Gerüchten, die ich verpasst hatte, zu unterrichten, sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war.«
Ryu schüttelte verständnislos den Kopf. Sein Gesicht sah traurig aus. »Und was geschah dann?«
»Sie mussten mich in die Psychiatrie stecken - zur Überwachung.« Ich verzog mein Gesicht zu einem sarkastischen Lächeln. »Falls ich vorher noch nicht suizidgefährdet gewesen war, dann war ich es von da an bestimmt. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne Jason zu leben, das war einfach undenkbar für mich. Jetzt entsprach ich ganz dem Bild, das sie schon immer von mir hatten. Für sie war ich eine schwarze Seele, die sich selbst zerstören wollte und alle, die sie liebte. Natürlich konnte ich niemandem die Wahrheit sagen: Dass ich einfach nur schwimmen gegangen war. Dass ich nach all den Jahren, in denen wir uns so nahestanden, ein Geheimnis vor Jason bewahrt hatte, und zwar, dass ich aus irgendwelchen Gründen in dem eiskalten und extrem gefährlichen Wasser des Atlantischen Ozeans überleben konnte, wenn ich dort schwimmen ging. Und dann auch noch nackt! Denn natürlich hatte ich in der Nacht, in der Jason starb, keinen Neoprenanzug an, was wiederum wunderbar zu dem anstößigen Auftritt meiner Mutter passte, als sie zum ersten Mal in Rockabill auftauchte. Irgendein schlechter Drehbuchautor hätte sich meinen Selbstmordversuch nicht symbolträchtiger ausdenken können: Verlassene Tochter versucht Selbstmord zu begehen und imitiert dabei den skandalösen Auftritt ihrer Mutter in der Kleinstadt.«
Inzwischen war ich ziemlich wütend, aber Ryu hörte mir einfach weiter schweigend zu.
»An einen besonders schlimmen Tag in der psychiatrischen Klinik erinnere ich mich noch sehr gut. Ich hatte versucht, mich in der Toilette zu ertränken, worauf man mich wieder fixiert und mit Medikamenten ruhiggestellt hat. Als ich aufwachte, saß mein Dad weinend an meinem Bett. Ich flüsterte: ›Erzähl es ihnen einfach.‹ Ich war es müde, dagegen anzukämpfen, und mein mit Barbituraten vollgepumptes Hirn dachte wohl, sie würden mich entlassen, wenn wir ihnen einfach sagten, dass ich bloß schwimmen war. Und dann könnte ich mich draußen in Frieden umbringen.
Mein Dad drückte nur meine Hand, und ich wusste, dass es niemals gesagt würde. Ich glaube, wenn ich nicht festgebunden gewesen wäre, hätte ich ihn in diesem Moment geschlagen. Heute weiß ich natürlich, dass mein Vater nur mit mir in der Klapse gelandet wäre, wenn er die Wahrheit gesagt und erzählt hätte, dass seine verrückte Tochter gar nicht verrückt war, sondern einfach nur bei jedem Wetter im Atlantik schwimmen ging wie schon ihre Mutter. Aber ich habe eine ganze Weile gebraucht, meinem Vater sein Schweigen zu verzeihen. Und das bereue ich heute sehr.«
Es ärgerte mich, dass ich schon wieder heulen musste, wenn ich daran dachte, wie sehr ich meinen Vater verletzt hatte. Er hatte nur das Beste für mich gewollt, und in einer solchen Situation konnte man sich gar nicht »richtig« verhalten. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich mich ganz sicher tatsächlich umgebracht hätte, wenn ich nicht in der Klinik gewesen wäre.
»Und«, dachte ich bitter, »wenn ich mich tatsächlich umgebracht hätte, dann hätte ich all die tollen Sachen verpasst, die Rockabill für mich bereithielt, nachdem ich aus der Klapse entlassen wurde.«
»Das muss schrecklich gewesen sein«, sagte Ryu und drückte mich fest an sich. »Ich kann mir nicht vorstellen, in so einer Klinik eingesperrt zu sein. Besonders, wenn ich wüsste, dass ich gar nicht durchgeknallt bin.«
Ich musste lachen. »Ach, das war nicht das Problem. Ich war ja durchgeknallt. Das war kein Witz mit der Toilette, und das war nur einer von sieben Selbstmordversuchen, die ich unternommen habe.« Ich hielt ihm meine vernarbten Handgelenke hin. »Die stammen nicht von Sportunfällen.«
Ryus Augen blickten traurig drein, als er die Narben erst mit seinen Fingern und dann mit den Lippen berührte. »Wie hast du das bloß angestellt?«, fragte er schließlich. Meine Arme waren ziemlich vernarbt.
»Mit einer Gabel. Aber zu dem Zeitpunkt bekam ich ziemlich starke Medikamente, also habe ich nichts gespürt.«
Betroffen verzog er das Gesicht.
»Und dann war da ja auch noch mein unsichtbarer Freund«, fuhr ich fort.
»Was für ein Freund?«
»Nachts kam immer ein geheimnisvoller Fremder und leistete mir Gesellschaft. Aber nicht irgendwie gruselig oder angsteinflößend«, fügte ich hastig hinzu, als ich seinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. »Er kann nicht real gewesen sein. Er war weder ein Patient noch arbeitete er in der Klinik. Er erschien mir nur nachts, wenn meine Medikamente besonders hoch dosiert waren.« Ich lächelte, diese Erinnerungen waren auf eigenartige Weise positiv, trotz der furchtbaren Umstände.
»Wirklich?«, sagte Ryu mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Wie sah dieser Fremde denn aus?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Wie gesagt, ich war vollgepumpt mit Medikamenten. Ich weiß, er war groß und ein Mann. Ich habe ihn nie richtig sehen können, so vollgedröhnt war ich. Immer wenn ich es versucht habe, wurde alles ganz verschwommen. Wahrscheinlich weil er gar nicht wirklich existierte«, erklärte ich Ryu.
»Und was tat er, wenn er bei dir war?«
»Ach, er hat einfach nur meine Hand gehalten und mir Geschichten erzählt. Die waren unglaublich. Ein bisschen wie Märchen, aber keine, die ich kannte. Ich weiß, das klingt alles ziemlich verrückt, weil dieser Typ bestimmt nur eine Art Nebenwirkung der Barbiturate war, aber glaub mir, er hat mich davor bewahrt, wirklich verrückt zu werden. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich total irre geworden. Vielleicht war er einfach die Verkörperung von Prozac.« Ich lachte, aber Ryu blickte immer noch skeptisch drein. Er hatte die Wahrheit hören wollen, aber vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass ich so ehrlich war, was mich plötzlich ziemlich verunsicherte.
»Ähm, also, du musst dir keine Sorgen machen oder so«, stammelte ich nervös.
»Bitte?«, fragte Ryu und sein Blick wechselte von skeptisch zu verwirrt.
»Mittlerweile geht es mir gut. Du musst also nicht befürchten, dass ich plötzlich durchdrehe. Ich werde jedenfalls keine Kaninchen kochen oder so. Und ich verspreche dir, dass ich dir nicht die Augen mit den Stäbchen aussteche, wenn du mich zum Chinesen ausführst. Oder aus einem fahrenden Auto springe. Oder deine Schuhbänder klaue, um jemanden zu erwürgen. Oder …«
Ryu legte mir den Finger an die Lippen, um mein ängstliches Geplapper zu unterbrechen.
»Jane, ganz ruhig. Ich denke nicht, dass du verrückt bist. Ich glaube, du warst nur vor Kummer außer dir. Und es macht mich traurig, dass du das alles aushalten musstest, ganz allein. Wir hätten uns besser um dich kümmern müssen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich verdiene kein Mitleid«, sagte ich. »Ich war diejenige, die Jason angelogen hat. Und deshalb ist er jetzt tot. Wenn du jemanden bemitleiden willst, dann Jason. Er hätte in dieser Nacht nicht sterben dürfen.«
Ryu runzelte die Stirn. »Ich nehme an, du hast sowieso schon tausend Mal gehört, dass sein Tod nicht deine Schuld ist, oder?«
»Ja, wenn ich jedes Mal einen Cent bekommen hätte bla bla …«, antwortete ich mit gepresster Stimme.
»Aber du bist an seinem Tod wirklich nicht schuld.«
»Doch, bin ich. Ich hätte nur einen Ton sagen müssen, dann hätte er gewusst, dass ich nachts heimlich schwimmen ging. Man hatte mir immer eingebläut, dass meine Schwimmerei ein großes Geheimnis bleiben musste, aber Jason liebte mich, ganz gleich, was gekommen wäre.« Ich sagte es so, als wäre es eine naturgegebene Tatsache, aber in Wahrheit bohrte ich damit nur gnadenlos in meinem wunden Punkt. Denn was, wenn Jason meine nächtlichen Ausflüge ins Meer nicht akzeptiert hätte? Vielleicht wäre das Schwimmen der letzte sprichwörtliche Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte.
»Ist ja auch egal«, fuhr ich fort. »Er ist tot, und ich habe schon so lange mit dieser Schuld gelebt, dass es mittlerweile … wie der Bucheinband der Geschichte meines Lebens ist. Ich muss nach vorne blicken. Auch wenn ich mir nie verzeihen kann, ich muss nach vorne blicken.«
»Jane, Schatz, ist das realistisch? Wie willst du in die Zukunft blicken und dein Leben leben, wenn du dir noch immer für Jasons Tod die Schuld gibst?«
Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Ich muss es einfach, Ryu. Ich kann so nicht länger leben …« Zu meinem Entsetzen versagte an dieser Stelle meine Stimme.
»Ach, Jane.« Ryu seufzte und zog mich auf sich. Er fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Was soll ich nur mit dir machen?«
»Lenk mich ab«, dachte ich und versuchte meine Tränen zurückzuhalten. »Erfinde mich neu. Hilf mir, mich selbst zu vergessen. Rette mich aus meinem Leben …« Einen Moment lang sah ich mich als Mina und Ryu als Gary Oldman in Dracula. Allerdings der junge, scharfe Dracula mit den langen Haaren und nicht der alte mit dem komischen Eierkopf.
»Erlöse mich von all dem Tod um mich herum«, würde ich flüstern und das Blut aus seiner Brust schlürfen. Aber dann würde ich all meine Freunde aussaugen, und man müsste mir die Stirn mit geweihten Hostien verbrennen. Vielleicht war das doch nicht die beste Lösung … außerdem hatte ich wahrscheinlich eine völlig falsche Vorstellung von dieser ganzen Vampirsache.
»Also, welche Optionen habe ich denn deiner Meinung nach?«, wollte ich wissen und schaute ihn fragend durch meine langen Ponyfransen hindurch an.
Plötzlich blickte ich in hungrige Augen, und er zog mich mit einem Ruck ein Stück weiter hoch, so dass ich in Küssweite war.
»Ich könnte dich entführen und so lange in meinen Turm einsperren, bis ich alle deine Schuldgefühle weggestreichelt habe«, sagte er und verlieh seinen Worten Nachdruck mit einem zärtlichen Kuss auf meine immer noch gerunzelte Stirn.
»Oder ich könnte dich jetzt und hier so heftig lieben, dass du vergisst, dass du überhaupt eine Vergangenheit hast, geschweige denn dich an Details aus dieser Vergangenheit erinnerst.« Diesmal küsste er meine Augenbraue, die sich angesichts dieser Prahlerei skeptisch hochgezogen hatte.
»Oder ich könnte beides machen, aber mit etwas Sahne obendrauf und vielleicht noch mit diesen plüschigen Handschellen, die es jetzt überall zu kaufen gibt«, fuhr er fort, als er den Anflug eines Lächelns auf meinem Gesicht entdeckte. »Ich wäre vielleicht sogar bereit, noch einen Hamster draufzulegen, oder zwei?«, schlug er vor, als mein Lächeln in ein zögerliches Kichern überging.
»Also der Hamster«, stellt er fest, umarmte mich und küsste mich endlich richtig.