KAPITEL 11
Erzähl mir, was dir passiert ist«, sagte
Ryu. Seine Stimme klang ruhig in der Dunkelheit. »Ich möchte es mit
deinen eigenen Worten hören.«
Ich versteifte mich in seinen Armen. Jetzt war
eigentlich Kuscheln angesagt und nicht der Augenblick, die Bombe
platzen zu lassen.
»Was?«, fragte ich in der Hoffnung, er könne etwas
anderes gemeint haben.
»Erzähl mir, wie das mit deinem Freund passiert
ist. Ich meine, als er starb. Und auch, was danach los war.«
Ich stöhnte innerlich. Das war wirklich das
Allerletzte, über das ich sprechen wollte. Es war ja schon mehr als
eigenartig, mit dem Mann, mit dem man soeben Sex hatte, über seinen
ersten - und bisher einzigen - Freund zu sprechen. Aber ihm auch
noch von Jasons Tod und seinen Folgen zu erzählen, wäre wirklich
die Hölle für mich. Es war mir unmöglich, meinen Schmerz darüber in
Worte zu fassen. Außerdem bezweifelte ich, dass Ryu, der Menschen
mit Feuerwerken verglichen hatte, auch nur ansatzweise
nachfühlen könnte, was ich ihm verständlich machen wollte.
Ich wandte mich von ihm ab, drehte ihm den Rücken
zu. Aber so schnell ließ er sich nicht abwimmeln.
»Erzähl es mir«, drängte er mich sanft und rollte
sich so zu mir, dass wir in der Löffelchenstellung dalagen.
Ich schloss die Augen und grübelte, bis Ryu mich
zärtlich in die Schulter biss. Ich seufzte und fing ganz von vorne
an. Insgeheim hoffte ich, dass ich damit davonkommen würde, nur den
Anfang zu erzählen. Also begann ich mit meinen Eltern und damit,
wie sie sich getroffen hatten. Ich erzählte ihm von Nick und Nan,
unseren wunderbaren Bilderbuch-Hippie-Nachbarn, die immer wie eine
Familie für mich waren. Die beiden hatten einen Sohn und eine
Tochter. Der Sohn war Stuarts Vater, und die Tochter war auf die
schiefe Bahn geraten und hatte angefangen, Drogen zu nehmen. Sie
hatte ihren Sohn Jason unter ziemlich dramatischen Umständen allein
am Bahnhof von Chicago zurückgelassen, also hatten seine Großeltern
ihn zu sich genommen. Natürlich war Jason traurig, dass seine
Mutter ihn verlassen hatte, aber meine Eltern und Nick und Nan
liebten uns beide so sehr, wie zwei Kinder nur geliebt werden
konnten. Und irgendwann verliebten wir uns leidenschaftlich
ineinander. Ich weiß nicht mehr, wie genau es angefangen hat,
eigentlich hatte es schon immer eine besondere Verbindung zwischen
uns gegeben. Wir bedeuteten einander alles, und unsere Beziehung
entwickelte sich mit uns. Schon als Kinder waren wir wie Zwillinge.
Wir standen uns so nah, man hätte meinen können, wir wären
demselben Bauch entsprungen. Und dann, als wir beide sechs Jahre
alt waren,
verschwand auch meine Mutter. Damals war Rockabill ein Dorf, in
dem es niemanden gab, der geschieden war, ein außereheliches Kind
hatte oder - Gott bewahre - sein eigen Fleisch und Blut verließ.
Jason und ich hatten uns schon vorher nahegestanden, aber jetzt
wurde unsere Verbindung außergewöhnlich eng.
»Jason und ich verstanden einander, und wir hatten
dieses ›Wir gegen den Rest der Welt‹-Gefühl«, fuhr ich fort und
drehte mich wieder um, so dass Ryu und ich uns direkt ansahen. Er
lächelte mir aufmunternd zu. Ich nutzte die Gelegenheit und fing
an, ein wenig an seiner Unterlippe herumzuknabbern. Dann küsste ich
ihn ungestüm und öffnete bereitwillig den Mund, als ich spürte,
dass seine Zunge meine suchte. Doch er durchschaute mein
Ablenkungsmanöver und wandte entschieden den Kopf ab. »Ich will
erst die ganze Geschichte hören«, ermahnte er mich mit sanfter
Stimme.
Ich verfluchte ihn innerlich, sammelte mich dann
aber wieder und erzählte weiter:
»Jason und ich teilten alles, bis auf ein einziges
Geheimnis.« Ich musste mich selbst daran erinnern zu atmen und
erzählte dann weiter. »Ich hatte ihm nie von meiner Schwimmerei
erzählt. Denn Schwimmen ist in meiner Familie ein so streng
gehütetes Geheimnis wie in anderen Inzest, Alkoholsucht oder
Untreue.« Meine Stimme versagte, obwohl ich bemüht gewesen war,
ganz locker zu klingen.
Dann sprudelte der Rest der Geschichte ganz
plötzlich aus mir heraus. »Eines Tages ging ich ganz früh an den
Strand, um eine Runde zu schwimmen. Ich ließ meine Klamotten in
unserer Lieblingsbucht zurück und tauchte in die
Wellen. Aber Jason war auch in die Bucht gekommen, oder er war mir
von zu Hause aus gefolgt, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall konnte
er nicht wissen, dass mir nichts passieren würde. Es war Winter und
das Wasser eiskalt. Außerdem ging an dem Tag ein ziemlich starker
Wind, also war der Wellengang sehr stark. Er musste ja glauben,
dass ich ertrinken würde.« Dicke Tränen brannten mir auf den
Wangen. »Er hat versucht, mich zu retten.« Meine Stimme versagte.
Ich konnte nicht mehr weitersprechen und schloss die Augen. Ich
spürte, wie Ryu mir die Tränen abwischte, aber ich war meilenweit
weg und durchlebte erneut meine schrecklichen Erinnerungen.
Ich sah mich nach meinem erfrischenden Bad im
tosenden Meer aus dem Wasser kommen und entdeckte am Strand neben
meinem Kleiderhaufen einen zweiten. Ich kniete mich nieder, um ihn
genauer zu inspizieren, und ich erinnerte mich noch genau, wie ich
mich gefühlt hatte, als mir klarwurde, dass es Jasons
New-England-Patriots-T-Shirt war, seine alte abgewetzte
North-Face-Jacke und seine Lieblingsjeans. Dieses Gefühl werde ich
nie vergessen. Aber es gibt keine Worte dafür. Ich weiß, dass man
im Deutschen neue Wörter erfinden kann, indem man verschiedene
andere aneinanderreiht, bis die gemeinte Idee oder das Gefühl
deutlich wird. Wenn das auch im Englischen möglich wäre, bestünde
ein Wort für das schreckliche Gefühl, das mich übermannte, als ich
dort kniete und Jasons löchrige Wandersocken in der Hand hielt, aus
einer Kombination aus totaler Verzweiflung, panischer Angst und dem
überwältigenden Wunsch, zu wissen, dass er okay, dass alles nur ein
Albtraum oder ein Missverständnis war.
»Die restliche Geschichte kennst du«, sagte ich mit
tränenrauer Stimme. Ich hielt meine Augen weiter geschlossen. »Ich
suchte stundenlang nach ihm, bis ich ihn schließlich im
Old-Sow-Strudel entdeckte. Nach einer Weile trieb er zu mir
herüber. Ich bildete mir ein, das würde bedeuten, er lebe noch und
schwimme auf mich zu. Aber als ich ihn zu fassen bekam, war er
kalt, und seine toten Augen starrten mich an.« Ich erschauderte,
und Ryu nahm mich noch fester in den Arm, wie um mich zu
beschützen.
»Irgendwie habe ich es geschafft, mit ihm zurück an
den Strand zu schwimmen. Ich war völlig erschöpft. Ich brach mit
ihm zusammen und verlor das Bewusstsein. Ich erwachte erst wieder,
als ich die Notarztsirene hörte und man mich in den Krankenwagen
schob und Jason in den Leichenwagen. Er war tot und ich so gut
wie.«
Ryu nickte und strich mir beruhigend über den
Rücken. »Du hast unglaublich viel Energie gebraucht, um ihn aus dem
Strudel zu ziehen. Nell meinte, man hätte es meilenweit spüren
können, aber sie hatten keine Ahnung, was passiert war und wer
dahintersteckte. Sie konnten nicht ahnen, dass du es warst, denn
niemand wusste auch nur annähernd, über welche Fähigkeiten du
verfügst. Deine Panik war es. Wenn wir so sehr die Kontrolle über
uns verlieren, kann das sehr gefährlich für uns sein. So viel
Energie freizusetzen, kann uns den Tod kosten. Du hast Glück, dass
du überlebt hast.«
Ich presste die Lippen zusammen, und mein Magen
verkrampfte sich. »Glück?«, fragte ich bitter. »Ich finde nicht,
dass ich Glück hatte. Was ich nach Jasons Tod durchmachen musste,
hätte mich beinahe zerstört.« Ryu runzelte die Stirn über meine
Worte, aber ich sprach einfach weiter.
»Das Drama um zwei ortsansässige Jugendliche, von
denen einer im Old-Sow-Strudel ertrunken war, war die große
Schlagzeile. Wir waren am Atlantik aufgewachsen und wussten genau,
dass wir bei solchen Wetterverhältnissen nichts im Wasser zu suchen
hatten. Jason war tot, und ich lag tagelang im Koma, also
kursierten die wildesten Spekulationen darüber, was passiert war.
Es hieß, Jason und ich hätten einen Selbstmordpakt geschlossen oder
dass es Mord mit anschließendem versuchten Selbstmord war oder ein
Selbstmord mit missglücktem Rettungsversuch. Da Jason so perfekt
war und ich eben die bin, die ich bin, war für alle klar, dass es
nur meine Schuld sein konnte. Jason war viel zu lebenslustig, um
sich umbringen zu wollen, und ganz sicher traute ihm keiner zu,
dass er mich hatte umbringen wollen, um sich dann selbst zu töten.
Also musste er mich bei einem Selbstmordversuch ertappt haben und
beim Versuch, mich zu retten, gestorben sein. Auf jeden Fall hatte
ich, die Schuldige, überlebt, und der arme Jason war tot. Das ist
der Stoff, aus dem schlechte Filme gemacht sind. Natürlich stürzten
sich die Medien darauf wie die Schmeißfliegen«, sagte ich
bitter.
»Wer kommt denn bitte schön auf so absurde
Geschichten?«, fragte Ryu verwundert. »Vor allem, wenn es sich um
zwei Kinder handelt.«
Ich schnaubte verächtlich. »Wenn sie eine Kamera
sehen, sind die Leute gern bereit, alles Mögliche zu sagen, nur
damit sie es einmal in die Nachrichten schaffen. Und mich konnte
sowieso niemand ausstehen. Also nutzten die Kids in der Schule die
Gelegenheit und schlachteten meinen ›Selbstmordversuch‹ aus. Jason
sah unglaublich gut
aus, er war ein toller Sportler und unheimlich beliebt, nur seine
Beziehung mit mir störte das Bild. Niemand hatte je verstanden, was
er an mir fand. Also erzählten Linda Allen und Jasons Cousin Stuart
den Medien bereitwillig, dass Jason sich von mir lösen wollte und
sich nur noch mit mir abgegeben hatte, weil ich ihm leidtat.« Meine
Stimme war kalt vor Wut geworden, und Ryus Augen verengten sich vor
Mitgefühl.
»Linda deutete sogar an, dass sie und Jason
angefangen hatten, miteinander zu gehen und dass das vermutlich der
Grund war, warum ich ausflippte. Es ist klar, warum Linda so etwas
erzählt - sie hatte schon immer für Jason geschwärmt, und sie neigt
fast genauso stark zum Selbstbetrug wie die Heldinnen aus den
Schundromanen, die sie so gerne liest. Und was Stuart betrifft, er
und Jason haben sich nie besonders gut verstanden, als Jason noch
lebte. Ich glaube, er hat einfach eine Gelegenheit gewittert, Ärger
zu machen, weil er von Natur aus ein fieses Arschloch ist.
Besonders Mädchen gegenüber, weil er von denen normalerweise für
seine Lügen nicht einmal eine auf die Schnauze bekommt.« Ich
versuchte, meine Wut wieder etwas unter Kontrolle zu bringen und
fuhr erst dann fort: »Glücklicherweise habe ich nichts von den
Medienberichten mitbekommen, denn ich lag zu dem Zeitpunkt noch im
Krankenhaus. Man hatte mich fixiert, damit ich mir nichts ›antun‹
konnte. Aber die Leute konnten es natürlich kaum erwarten, mich von
den brodelnden Gerüchten, die ich verpasst hatte, zu unterrichten,
sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war.«
Ryu schüttelte verständnislos den Kopf. Sein
Gesicht sah traurig aus. »Und was geschah dann?«
»Sie mussten mich in die Psychiatrie stecken - zur
Überwachung.« Ich verzog mein Gesicht zu einem sarkastischen
Lächeln. »Falls ich vorher noch nicht suizidgefährdet gewesen war,
dann war ich es von da an bestimmt. Ich konnte mir nicht
vorstellen, ohne Jason zu leben, das war einfach undenkbar für
mich. Jetzt entsprach ich ganz dem Bild, das sie schon immer von
mir hatten. Für sie war ich eine schwarze Seele, die sich selbst
zerstören wollte und alle, die sie liebte. Natürlich konnte ich
niemandem die Wahrheit sagen: Dass ich einfach nur schwimmen
gegangen war. Dass ich nach all den Jahren, in denen wir uns so
nahestanden, ein Geheimnis vor Jason bewahrt hatte, und zwar, dass
ich aus irgendwelchen Gründen in dem eiskalten und extrem
gefährlichen Wasser des Atlantischen Ozeans überleben konnte, wenn
ich dort schwimmen ging. Und dann auch noch nackt! Denn natürlich
hatte ich in der Nacht, in der Jason starb, keinen Neoprenanzug an,
was wiederum wunderbar zu dem anstößigen Auftritt meiner Mutter
passte, als sie zum ersten Mal in Rockabill auftauchte. Irgendein
schlechter Drehbuchautor hätte sich meinen Selbstmordversuch nicht
symbolträchtiger ausdenken können: Verlassene Tochter versucht
Selbstmord zu begehen und imitiert dabei den skandalösen Auftritt
ihrer Mutter in der Kleinstadt.«
Inzwischen war ich ziemlich wütend, aber Ryu hörte
mir einfach weiter schweigend zu.
»An einen besonders schlimmen Tag in der
psychiatrischen Klinik erinnere ich mich noch sehr gut. Ich hatte
versucht, mich in der Toilette zu ertränken, worauf man mich wieder
fixiert und mit Medikamenten ruhiggestellt hat. Als
ich aufwachte, saß mein Dad weinend an meinem Bett. Ich flüsterte:
›Erzähl es ihnen einfach.‹ Ich war es müde, dagegen anzukämpfen,
und mein mit Barbituraten vollgepumptes Hirn dachte wohl, sie
würden mich entlassen, wenn wir ihnen einfach sagten, dass ich bloß
schwimmen war. Und dann könnte ich mich draußen in Frieden
umbringen.
Mein Dad drückte nur meine Hand, und ich wusste,
dass es niemals gesagt würde. Ich glaube, wenn ich nicht
festgebunden gewesen wäre, hätte ich ihn in diesem Moment
geschlagen. Heute weiß ich natürlich, dass mein Vater nur mit mir
in der Klapse gelandet wäre, wenn er die Wahrheit gesagt und
erzählt hätte, dass seine verrückte Tochter gar nicht verrückt war,
sondern einfach nur bei jedem Wetter im Atlantik schwimmen ging wie
schon ihre Mutter. Aber ich habe eine ganze Weile gebraucht, meinem
Vater sein Schweigen zu verzeihen. Und das bereue ich heute
sehr.«
Es ärgerte mich, dass ich schon wieder heulen
musste, wenn ich daran dachte, wie sehr ich meinen Vater verletzt
hatte. Er hatte nur das Beste für mich gewollt, und in einer
solchen Situation konnte man sich gar nicht »richtig« verhalten.
Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich mich ganz sicher
tatsächlich umgebracht hätte, wenn ich nicht in der Klinik gewesen
wäre.
»Und«, dachte ich bitter, »wenn ich mich
tatsächlich umgebracht hätte, dann hätte ich all die tollen Sachen
verpasst, die Rockabill für mich bereithielt, nachdem ich aus der
Klapse entlassen wurde.«
»Das muss schrecklich gewesen sein«, sagte Ryu und
drückte mich fest an sich. »Ich kann mir nicht vorstellen,
in so einer Klinik eingesperrt zu sein. Besonders, wenn ich
wüsste, dass ich gar nicht durchgeknallt bin.«
Ich musste lachen. »Ach, das war nicht das Problem.
Ich war ja durchgeknallt. Das war kein Witz mit der Toilette, und
das war nur einer von sieben Selbstmordversuchen, die ich
unternommen habe.« Ich hielt ihm meine vernarbten Handgelenke hin.
»Die stammen nicht von Sportunfällen.«
Ryus Augen blickten traurig drein, als er die
Narben erst mit seinen Fingern und dann mit den Lippen berührte.
»Wie hast du das bloß angestellt?«, fragte er schließlich. Meine
Arme waren ziemlich vernarbt.
»Mit einer Gabel. Aber zu dem Zeitpunkt bekam ich
ziemlich starke Medikamente, also habe ich nichts gespürt.«
Betroffen verzog er das Gesicht.
»Und dann war da ja auch noch mein unsichtbarer
Freund«, fuhr ich fort.
»Was für ein Freund?«
»Nachts kam immer ein geheimnisvoller Fremder und
leistete mir Gesellschaft. Aber nicht irgendwie gruselig oder
angsteinflößend«, fügte ich hastig hinzu, als ich seinen
erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. »Er kann nicht real
gewesen sein. Er war weder ein Patient noch arbeitete er in der
Klinik. Er erschien mir nur nachts, wenn meine Medikamente
besonders hoch dosiert waren.« Ich lächelte, diese Erinnerungen
waren auf eigenartige Weise positiv, trotz der furchtbaren
Umstände.
»Wirklich?«, sagte Ryu mit einem seltsamen
Gesichtsausdruck. »Wie sah dieser Fremde denn aus?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Wie
gesagt, ich war vollgepumpt mit Medikamenten. Ich weiß, er war
groß und ein Mann. Ich habe ihn nie richtig sehen können, so
vollgedröhnt war ich. Immer wenn ich es versucht habe, wurde alles
ganz verschwommen. Wahrscheinlich weil er gar nicht wirklich
existierte«, erklärte ich Ryu.
»Und was tat er, wenn er bei dir war?«
»Ach, er hat einfach nur meine Hand gehalten und
mir Geschichten erzählt. Die waren unglaublich. Ein bisschen wie
Märchen, aber keine, die ich kannte. Ich weiß, das klingt alles
ziemlich verrückt, weil dieser Typ bestimmt nur eine Art
Nebenwirkung der Barbiturate war, aber glaub mir, er hat mich davor
bewahrt, wirklich verrückt zu werden. Wenn er nicht gewesen
wäre, wäre ich total irre geworden. Vielleicht war er einfach die
Verkörperung von Prozac.« Ich lachte, aber Ryu blickte immer noch
skeptisch drein. Er hatte die Wahrheit hören wollen, aber
vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass ich so ehrlich war,
was mich plötzlich ziemlich verunsicherte.
Ȁhm, also, du musst dir keine Sorgen machen oder
so«, stammelte ich nervös.
»Bitte?«, fragte Ryu und sein Blick wechselte von
skeptisch zu verwirrt.
»Mittlerweile geht es mir gut. Du musst also nicht
befürchten, dass ich plötzlich durchdrehe. Ich werde jedenfalls
keine Kaninchen kochen oder so. Und ich verspreche dir, dass ich
dir nicht die Augen mit den Stäbchen aussteche, wenn du mich zum
Chinesen ausführst. Oder aus einem fahrenden Auto springe. Oder
deine Schuhbänder klaue, um jemanden zu erwürgen. Oder …«
Ryu legte mir den Finger an die Lippen, um mein
ängstliches Geplapper zu unterbrechen.
»Jane, ganz ruhig. Ich denke nicht, dass du
verrückt bist. Ich glaube, du warst nur vor Kummer außer dir. Und
es macht mich traurig, dass du das alles aushalten musstest, ganz
allein. Wir hätten uns besser um dich kümmern müssen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich verdiene kein
Mitleid«, sagte ich. »Ich war diejenige, die Jason angelogen hat.
Und deshalb ist er jetzt tot. Wenn du jemanden bemitleiden willst,
dann Jason. Er hätte in dieser Nacht nicht sterben dürfen.«
Ryu runzelte die Stirn. »Ich nehme an, du hast
sowieso schon tausend Mal gehört, dass sein Tod nicht deine Schuld
ist, oder?«
»Ja, wenn ich jedes Mal einen Cent bekommen hätte
bla bla …«, antwortete ich mit gepresster Stimme.
»Aber du bist an seinem Tod wirklich nicht
schuld.«
»Doch, bin ich. Ich hätte nur einen Ton sagen
müssen, dann hätte er gewusst, dass ich nachts heimlich schwimmen
ging. Man hatte mir immer eingebläut, dass meine Schwimmerei ein
großes Geheimnis bleiben musste, aber Jason liebte mich, ganz
gleich, was gekommen wäre.« Ich sagte es so, als wäre es eine
naturgegebene Tatsache, aber in Wahrheit bohrte ich damit nur
gnadenlos in meinem wunden Punkt. Denn was, wenn Jason meine
nächtlichen Ausflüge ins Meer nicht akzeptiert hätte? Vielleicht
wäre das Schwimmen der letzte sprichwörtliche Tropfen gewesen, der
das Fass zum Überlaufen gebracht hätte.
»Ist ja auch egal«, fuhr ich fort. »Er ist tot, und
ich habe schon so lange mit dieser Schuld gelebt, dass es
mittlerweile … wie der Bucheinband der Geschichte meines Lebens
ist. Ich muss nach vorne blicken. Auch wenn ich mir nie verzeihen
kann, ich muss nach vorne blicken.«
»Jane, Schatz, ist das realistisch? Wie willst du
in die Zukunft blicken und dein Leben leben, wenn du dir noch immer
für Jasons Tod die Schuld gibst?«
Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Ich muss es
einfach, Ryu. Ich kann so nicht länger leben …« Zu meinem Entsetzen
versagte an dieser Stelle meine Stimme.
»Ach, Jane.« Ryu seufzte und zog mich auf sich. Er
fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Was soll ich nur mit dir
machen?«
»Lenk mich ab«, dachte ich und versuchte meine
Tränen zurückzuhalten. »Erfinde mich neu. Hilf mir, mich selbst zu
vergessen. Rette mich aus meinem Leben …« Einen Moment lang sah ich
mich als Mina und Ryu als Gary Oldman in Dracula. Allerdings
der junge, scharfe Dracula mit den langen Haaren und nicht der alte
mit dem komischen Eierkopf.
»Erlöse mich von all dem Tod um mich herum«, würde
ich flüstern und das Blut aus seiner Brust schlürfen. Aber dann
würde ich all meine Freunde aussaugen, und man müsste mir die Stirn
mit geweihten Hostien verbrennen. Vielleicht war das doch nicht die
beste Lösung … außerdem hatte ich wahrscheinlich eine völlig
falsche Vorstellung von dieser ganzen Vampirsache.
»Also, welche Optionen habe ich denn deiner Meinung
nach?«, wollte ich wissen und schaute ihn fragend durch meine
langen Ponyfransen hindurch an.
Plötzlich blickte ich in hungrige Augen, und er zog
mich mit einem Ruck ein Stück weiter hoch, so dass ich in Küssweite
war.
»Ich könnte dich entführen und so lange in meinen
Turm einsperren, bis ich alle deine Schuldgefühle weggestreichelt
habe«, sagte er und verlieh seinen Worten Nachdruck mit einem
zärtlichen Kuss auf meine immer noch gerunzelte Stirn.
»Oder ich könnte dich jetzt und hier so heftig
lieben, dass du vergisst, dass du überhaupt eine Vergangenheit
hast, geschweige denn dich an Details aus dieser Vergangenheit
erinnerst.« Diesmal küsste er meine Augenbraue, die sich angesichts
dieser Prahlerei skeptisch hochgezogen hatte.
»Oder ich könnte beides machen, aber mit etwas
Sahne obendrauf und vielleicht noch mit diesen plüschigen
Handschellen, die es jetzt überall zu kaufen gibt«, fuhr er fort,
als er den Anflug eines Lächelns auf meinem Gesicht entdeckte. »Ich
wäre vielleicht sogar bereit, noch einen Hamster draufzulegen, oder
zwei?«, schlug er vor, als mein Lächeln in ein zögerliches Kichern
überging.
»Also der Hamster«, stellt er fest, umarmte mich
und küsste mich endlich richtig.