KAPITEL 24
Jarl war ganz offensichtlich nicht erfreut,
mich zu sehen.
»Du Schlampe!«, fauchte er mit verzerrtem Gesicht.
»Du blöde Halbblut-Schlampe, du hast alles ruiniert!« Er
schluchzte fast vor Wut.
»Er hat sie wirklich geliebt«, bemerkte mein
analytisches Hirn scharfsinnig. »Ryu hat sich getäuscht. Die Nagas
waren für Jarl wirklich wie seine Kinder. Und Ryu und ich sind
schuld daran, dass sie nun tot sind.«
Doch die kühle Analyse der heutigen Geschehnisse
wurde übertrumpft von der Reaktion meines Körpers auf die Tatsache,
dass mir gerade jemand ans Leben wollte. Jarl begnügte sich nicht
etwa damit, mich kurz und schmerzlos zu erwürgen, sondern erhöhte
stattdessen mehr und mehr den Druck auf meine Luftröhre und starrte
mir hasserfüllt in die Augen, während er langsam das Leben aus mir
herausquetschte. Er wollte jede Sekunde meines Sterbens
auskosten.
Der Schmerz wurde immer stärker, und mir schwanden
die Sinne. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mein Leben
an mir vorüberzog oder dass ich meinem Schöpfer gegenübertrat oder
dass ich irgendeine andere Erscheinung hatte, bei der ich den Sinn
des Lebens erkannte. Aber da mein zweiter Name »Abartig« ist,
konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie Wally bloß all
das Zeug in seiner Hose versteckt. Besonders die Schwerter. Das war
doch sicher gefährlich.
Kurz bevor mir schwarz vor Augen wurde, nahm ich
aus dem Augenwinkel noch einen Schatten wahr. Plötzlich ließ Jarl
von mir ab. Mit einem zischenden Laut strömte Luft zurück in meine
Lunge. Durch meine gequetschte Kehle zu atmen, tat weh, aber der
Schmerz konnte dem Atemreflex meines Körpers nichts entgegensetzen.
Ich spürte, wie ich langsam an der Wand hinunterrutschte, bis ich
auf der Seite zu liegen kam. Ich konnte Jarls Stiefel erkennen und
riesige Pfoten, die vor mir herumtanzten, während mein Sehvermögen
abwechselnd aussetzte und wieder zurückkehrte. In einem Moment war
alles um mich herum schwarz, und im nächsten ging das Licht wieder
an, die Stiefel waren gefährlich nah vor meinem Gesicht, und dann
wurde es auch schon wieder dunkel. Als ich wieder etwas wahrnahm,
waren die Pfoten zwischen mir und den Stiefeln, doch dann fingen
sie an zu flimmern, und mir wurde wieder schwarz vor Augen.
Plötzlich waren da zwei Fußpaare, eines in Stiefeln und das andere
nackt, bevor ich erneut in Dunkelheit versank. Ein Geräusch holte
mich zurück ins Licht, und ich glaubte, Jarl durch die Luft fliegen
und mit einem lauten Krachen gegen die Wand prallen zu sehen. Dann
war wieder alles schwarz, aber ich spürte, wie mich jemand
aufsetzte. Eine Hand legte sich um meinen Hals, ganz sanft
diesmal, und eine Stimme, die klang wie unter Wasser, sagte mir,
ich solle stillhalten, damit sie mir helfen könne. Wohlige Wärme
durchströmte meinen Körper, und meine Sehkraft kehrte so weit
zurück, dass ich ein verschwommenes Gesicht vor mir erkennen
konnte. Erleichtert schloss ich die Augen, als der Schmerz in
meiner Kehle langsam nachließ. Mein Gehirn versuchte hastig, die
Geschehnisse zu rekonstruieren.
»Jarl«, fuhr es mir durch den Kopf, und ich sah
hinüber zu dem Alfar, der noch immer an der Wand lag. Ich kniff die
Augen zusammen und wimmerte, als ich sah, dass in seinen
zusammengesunkenen Körper wieder Bewegung kam.
»Mist!«, fluchte die Stimme vor mir, die ganz
offenbar ebenfalls wahrgenommen hatte, was ich gesehen hatte.
Während die Hände des Fremden so sanft waren wie die einer Mutter,
klang seine Stimme rau wie das Knurren eines Hundes. »Wir machen
später damit weiter, Jane. Jetzt muss ich dich erst einmal in
Sicherheit bringen.«
Starke Arme hoben mich hoch und legten mich über
breite Schultern. Ich strampelte, denn mir war eingefallen, dass
ich keine Ahnung hatte, wer dieser Mann war. Ich glaubte zwar, die
Stimme zu kennen, doch das konnte unmöglich sein …
»Halt still«, brummte der Mann sanftmütig. »Wir
müssen dich erst einmal hier herausbringen.«
»Den kenne ich«, dachte ein Teil meines Gehirns,
während ein anderes mir sagte, ich sei einfach nur durchgeknallt.
Die restlichen Gehirnregionen waren noch mit meiner soeben
durchlebten Nahtoderfahrung beschäftigt.
Plötzlich begriff mein noch völlig vernebeltes
Hirn, dass
der Kerl, der mich trug, völlig nackt war, und so wie er mich
geschultert hatte, hatte ich eine hervorragende Sicht auf ein
ziemlich knackiges Hinterteil. Er rannte immer schneller, bis wir
schließlich mit beeindruckender Geschwindigkeit durch das
Verbundsgebäude jagten. Doch das bedeutete auch, dass ich immer
weiter nach hinten rutschte. Er hielt mich zwar an den
Oberschenkeln fest, aber ich befand mich mittlerweile Wange an
Wange mit einer seiner kolossalen Pobacken.
»Vertraue niemandem«, mahnte mich Ryus Stimme
erneut, als wir gerade durch eine Tür in die kalte Nachtluft kamen.
Die Abendkühle und die frische Luft wirkten belebend auf meinen
Körper, erfrischten meine Sinne und brachten mein Bewusstsein
wieder dazu, das Steuer zu übernehmen.
Jetzt fing ich erst richtig an zu strampeln, denn
ich war mir noch immer nicht über die Absichten des
splitterfasernackten Fremden im Klaren. Er hatte mich zwar vor Jarl
gerettet, aber wozu? Warum hatte er mich nicht gleich zurück zu Ryu
gebracht? Panik stieg in mir auf, und mein Körper schaffte es
irgendwie, einen letzten Rest an Adrenalin zu aktivieren. Während
ich die knackigen Gesäßmuskeln, die sich vor meinem Gesicht
bewegten, betrachtete, traf ich eine Spontanentscheidung. Ich
wollte runter und zwar sofort. Also biss ich zu, in das, was
meine Zähne zuerst zu fassen bekamen - und das war, natürlich, der
exponierte Hintern meines Entführers.
Der Mann jaulte auf, und ich rutschte abrupt
kopfüber in Richtung Boden. Ich sauste auf ein keltisches Mosaik zu
und begriff, dass ich mich wohl auf dem kleinen Innenhof
in der Nähe der Grotte befand. Wie ein Seemann fluchend, bekam
mich der Fremde gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor ich mit
dem Kopf auf die ziemlich hart aussehenden Steine schlug. Starke
Arme zogen meine Beine wieder an seiner Brust nach unten, bis er
die Hände um meine Taille legen konnte. Dann hob er mich behutsam
von seiner Schulter und lehnte mich an eine der Wände, von wo aus
ich ihn angriffslustig anfunkelte. Noch stand er mit dem Rücken zu
mir, warf jedoch einen prüfenden Blick über die Schulter auf sein
Hinterteil, auf dem ich zu meiner Genugtuung einen ziemlich
perfekten Gebissabdruck erkannte. Ich hatte so fest zugebissen,
dass ein Zahnarzt einen Abguss davon hätte nehmen können.
»Himmel, Jane«, fluchte die raue Stimme, während er
mit den Fingern über die Bisswunde rieb, »das blutet ja!« Seine
sturmgrauen Augen trafen meine. »Und Menschenbisse sind die
schlimmsten von allen«, fügte er noch vorwurfsvoll hinzu. Mein
Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
»Du Mistkerl!«, krächzte ich schließlich. »Du
müsstest eigentlich ein Hund sein.«
Anyan sah mich genauso fassungslos an, wie ich mich
fühlte. »Du wusstest doch, was ich bin«, verteidigte er sich. »Ich
habe dir doch gesagt, dass ich ein Barghest bin.«
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Und was
glaubst du, bin ich? Etwa eine Enzyklopädie des Übernatürlichen?«,
ächzte ich heiser, denn das Sprechen fiel mir noch immer sehr
schwer. Aber ich war so wütend, dass ich trotzdem weiterschimpfte.
»Ich dachte«, setzte ich an, musste dann aber abbrechen. Meine
Kehle versagte vor Schmerz ihren Dienst.
Anyan kniete sich blitzschnell neben mich hin, und
seine großen Hände legten sich wieder um meinen Hals. »Schsch,
still«, flüsterte er. »Sei ganz still. Lass mich dich richtig
heilen. Deine Luftröhre ist beinahe zerquetscht worden.«
Ich warf ihm meinen giftigsten Blick zu, obwohl ich
spürte, dass seine Hände wieder diese angenehme Wärme ausstrahlten,
von der ich wusste, dass sie meine Schmerzen linderte. Vorsichtig
tastete er mit den Daumen meine Kehle ab und untersuchte sie. Aber
erst, als er sich schließlich offenbar davon überzeugt hatte, dass
ich nicht gleich umkippen und sterben würde, ließ er sich dazu
herab, meinem feindseligen Blick zu begegnen. Als ich in seinen
Augen sah, wie besorgt er um mich war, verflog meine Wut.
Da er mich noch heilte und ich sowieso nicht
sprechen konnte, hatte ich Zeit, ihn eingehend zu betrachten.
Irgendwie kam er mir bekannt vor, aber nicht auf so beängstigende
Weise wie Jimmu. In seiner menschlichen Erscheinung wirkte Anyan
eher wie jemand, der mir im Traum begegnet war. Das war ein
seltsames Gefühl, aber nicht unangenehm. Ich erkundete sein
Gesicht, das sich so nah vor meinem befand. Seine Haare hatten die
gleiche Farbe wie sein Fell als Hund, und es war genauso zerzaust
und lang. Es fiel ihm wirr und lockig auf seine hohen
Wangenknochen. Er hatte markante Züge, eine lange, dominante Nase,
die noch dazu ziemlich schief war, einen breiten Mund mit vollen
Lippen und ein kantiges Kinn. Seine Augen waren groß und
ausdrucksvoll, aber diese Beschreibung passte eigentlich auf alles
an ihm. Schließlich war er ein äußerst beeindruckender Hund, also
verwunderte es kaum, dass er auch als Mensch außergewöhnlich groß
gewachsen war. Ich
schätzte ihn auf weit über einen Meter achtzig, und seine Hände
umfassten problemlos meinen Hals. Wahrscheinlich könnte er meinen
Kopf zerquetschen wie eine Traube.
»Ich kenne dich«, dachte ich. Einen Augenblick lang
glaubte ich schon, es würde mir wieder einfallen, aber dann
verblasste die Idee wieder, bevor sie wirklich Formen angenommen
hatte. Ich konzentrierte mich und starrte dabei in seine grauen
Augen.
»Tut mir leid«, sagte er und schreckte mich damit
aus meinen Gedanken. »Ich wollte dich nicht täuschen. Ich dachte
wirklich, du weißt, was gemeint ist, als ich dir sagte, ich sei ein
Barghest.«
Ich lächelte ihn an. »Roald Dahl«, krächzte ich
entschuldigend.
Er starrte mich einen Moment lang irritiert an,
bevor er verstand und sich sein Gesicht aufhellte. »Hexen
hexen?«, fragte er lachend. »Meine Güte, Mädchen. Kein Wunder,
dass du Angst vor mir hast.« Er kicherte - es klang voll und tief
-, und sein Lachen drang über seine Hände in meinen Körper. »Keine
Sorge, das ist keine authentische Darstellung unserer Art.«
Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch, und er
lächelte verständnisvoll. »Wir sind bimorphe Wesen, wie deine
Mutter. Wir haben eine menschliche und eine Hundeform. Aber mit
extragroßen Zähnen und Pfoten«, erklärte er, und als er erneut
lächelte, fielen mir seine leicht verlängerten Eckzähne auf. Seine
Hände konnte ich gerade nicht sehen, aber mir war klar, wie groß
sie sein mussten, da er sie mir ohne Probleme ganz um den Hals
legen konnte.
Wir saßen uns noch eine Weile gegenüber, bis er
behutsam
meinen Hals losließ. Während dieser Zeit achtete ich tunlichst
darauf, ihm nicht in den Schritt zu starren. Es irritierte mich,
einen splitterfasernackten Typen vor mir zu haben, dessen
unglaublich wuschelige Ohren ich erst neulich noch gekrault
hatte.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte er sich
fürsorglich. Zum Test räusperte ich mich und spürte nur noch ein
leichtes Kratzen. Ich weitete meinen Test aus und hustete
probeweise. Erleichtert stellte ich fest, dass ich keine Schmerzen
mehr hatte.
»Schon viel besser«, sagte ich schließlich. Meine
Stimme war noch etwas rau, aber das waren offenbar die einzigen
Nachwirkungen, die von meinem Zusammenstoß mit Jarl übriggeblieben
waren. Das und ein tiefes Gefühl der Erschöpfung. Ich fühlte mich,
als hätte ich fünf Marathonläufe hintereinander gemacht, und
spürte, dass ich dem totalen Kollaps nahe war. Ich glaube, ich
stand außerdem unter Schock.
»Gut«, sagte er und legte die Hand an mein Kinn, um
mein Gesicht zu betrachten. Ich blickte ihn an, während meine
Erinnerung mit mir Verstecken spielte.
»Ryu hätte dich gar nicht erst hierherbringen
dürfen«, sagte er, und seine raue Stimme klang vorwurfsvoll. »Es
war viel zu früh.«
Ich war zum Umfallen erschöpft, und nun hatte mich
Anyan auch noch daran erinnert, dass ich mir weiterhin Sorgen um
Ryus Sicherheit machen musste. Als ich daran dachte, hatte ich zwei
Möglichkeiten: Entweder ich flippte aus, oder ich fing hysterisch
an zu heulen. Ich entschied mich für Ersteres.
»Ich bin doch kein Kind, du Riesenköter!«,
schimpfte ich wütend und lenkte all meine Frustration, die sich an
diesem Abend in mir angestaut hatte, auf Anyans haarige Brust. »Nur
weil ich ein Halbling bin, bin ich doch noch lange kein Schwächling
oder verachtenswert oder dumm! Ich habe alles gemeistert, was mir
hier an deinem beschissenen Hof passiert ist, und ich habe
überlebt.« Ich überdachte noch einmal, was ich soeben gesagt hatte.
»Zumindest beinahe«, räumte ich ein, »aber ich habe
überlebt. Also betrachte mich bloß nicht als irgendeine
minderwertige Lebensform, du Stinker!«
Meine Worte hatten ihm offensichtlich den Wind aus
den Segeln genommen. Er ließ sich kraftlos neben mir auf den Boden
sinken. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.
»Das habe ich nie«, sagte er schließlich. »Ich fand
nie, dass du schwach bist, und ich betrachte dich nicht als
irgendetwas Halbes.« Seine Stimme klang traurig. Sie war mir so
vertraut, und doch konnte ich sie nicht zuordnen. Am liebsten hätte
ich aus Frust darüber geschrien. »Du bist Jane«, fuhr er fort, »und
das reicht mir.« Er sah mich an, auf seinem Gesicht lag ein
Schatten, aber seine Augen waren ganz klar zu erkennen.
»Natürlich...«, fiel es mir da endlich wieder ein.
»Du warst mein unsichtbarer Freund, als ich nach Jasons Tod im
Krankenhaus war. Du hast mich immer besucht. Du hast mir
Geschichten erzählt und meine Hand gehalten, während ich schlief.«
Als ich diese Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich Recht
hatte. Und sein Gesichtsausdruck bewies es, ganz gleich, wie
verrückt es klang.
»Ich habe dich besucht«, gab er zu. »Ich konnte
dich doch nicht allein an diesem schrecklichen Ort lassen. Wir -
das heißt Nell und ich - fühlten uns verantwortlich für Jasons
Tod.« Er wog die folgenden Worte genau ab, bevor er weitersprach.
»Die Bucht, in der er starb, ist unsere, weißt du. Wir hatten sie
eigentlich geheim halten wollen, damit sich dort nicht die jungen
Leute aus der Umgebung herumtreiben, aber du hast durch die Aura
hindurch sehen können. Wir hatten sie nicht stark genug gemacht. Du
hast auch Jason dorthin mitgenommen, und wir wussten, dass wir sie
eigentlich besser versiegeln hätten sollen. Aber ihr wart so jung
und unschuldig, und du hattest eine so schwere Zeit hinter dir.
Also ließen wir euch gewähren, und ihr habt euch dort so
wohlgefühlt... zu wohl«, fügte er schuldbewusst hinzu. »Wenn wir
euch die Bucht nicht hätten benutzen lassen, wärst du mit deiner
Schwimmerei umsichtiger gewesen. Und wenn du vorsichtiger gewesen
wärst, dann wäre Jason noch am Leben.« Er schüttelte traurig den
Kopf. »Es tut mir so leid, Jane. Es ist unsere Schuld, dass er
ertrunken ist.«
Ich zweifelte keine Sekunde: Was er sagte, war
absolut lächerlich.
»Anyan«, hörte ich mich sagen, »das stimmt doch
nicht. Jasons Tod, war ein...« Meine Stimme erstarb. Ich war dabei,
zu sagen, dass Jasons Tod ein Unfall gewesen war. Meine Welt geriet
ins Wanken, und ich musste ein paarmal tief durchatmen, um mich
wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Also habe ich dich besucht«, fuhr er unbeirrt
fort. »Du warst wie… zerbrochen. Und man hätte dich niemals in
diese Klinik stecken dürfen. Wir hätten viel früher eingreifen
müssen. Aber wahrscheinlich habe ich alles nur noch schlimmer
gemacht, oder?« Seine Stimme war jetzt so leise geworden, dass ich
ihn kaum noch verstehen konnte.
»Nein«, widersprach ich ihm ohne zu zögern, ohne
dass mir bewusst gewesen wäre, dass ich so empfand, bevor ich es
sagte. »Du bist der Grund, warum ich es überhaupt durchgestanden
habe. Ich meine, ich wusste zwar nicht, dass du real bist, sondern
habe gedacht, du wärst der Beweis dafür, dass ich verrückt bin.
Aber wenn es mir wirklich schlechtging, wenn ich dachte, ich könnte
es keinen weiteren Tag mehr aushalten, dann warst du da, und ich
habe mich nicht mehr ganz so allein gefühlt.«
Als ich das gesagt hatte, schwiegen wir beide.
Dieser Abend war einfach viel zu heftig gewesen - zu viele
Enthüllungen, zu viel Gewalt, zu viele schmerzhafte Erinnerungen.
»Zu viel Schmerz, Punkt«, dachte ich bitter und rieb mir mit der
Hand den Hals.
»Warst du auch der, der Jimmu damals am Pool
abgelenkt hat?«, fragte ich schließlich und brach damit das
Schweigen. Anyan nickte.
»Danke«, sagte ich. »Du hast mir zweimal das Leben
gerettet.« Ich atmete tief durch. »Und es tut mir leid, dass ich
dich Stinker genannt habe. Übrigens riecht dein Atem sogar nach
Zahnpasta, was jetzt auch viel plausibler ist, seit ich weiß, dass
du Daumen hast.« Er schenkte mir ein kleines Lächeln, das ich
erwiderte, obwohl in meinem Kopf noch immer Aufruhr herrschte.
»Also, warum hat Jarl mich angegriffen?«
Anyan seufzte tief. »Ich denke, Jarl wusste, was
Jimmu
tat. Ich glaube, der Naga handelte auf seinen Befehl hin. Aber
vielleicht hat Jarl auch die Wahrheit gesagt, und er wusste nichts
davon.« Ich fühlte, wie Anyans kräftige Schultern sich resigniert
neben mir hoben und senkten. »Wer weiß schon, welche Motive die
Alfar allgemein und Jarl im Besonderen haben. Jedenfalls hat er
Halblinge von jeher verachtet.«
»Nun ja, Ryu wird es sicherlich interessieren, dass
ich von Jarl angegriffen worden bin...« Ich verstummte, als Anyan
sich zu mir wandte und mich fest ansah. Mit einer flüchtigen Geste
ließ er ein Magielicht direkt neben unseren Köpfen
aufflackern.
Er sah mir so intensiv in die Augen, dass ich schon
fürchtete, er würde gleich nach vorne kippen und mit seinem Kopf
gegen meine Stirn stoßen. »Jane«, sagte er eindringlich, »hier sind
Kräfte am Werk, die keiner von uns beiden nachvollziehen kann. Du
bist ganz neu in dieser Welt, und ich habe mich zu lange von ihr
ferngehalten.« Betrübt schüttelte er seinen zotteligen Kopf. »Ich
habe uns beide im Stich gelassen, und das tut mir leid. Aber hör
mir jetzt gut zu. Du darfst niemandem erzählen, was heute
zwischen dir und Jarl vorgefallen ist. Nicht einmal Ryu.« Ich
wollte schon protestieren, aber er legte mir einen Finger auf die
Lippen.
»Ryu mag dich, das weiß ich«, sagte er widerwillig.
»Aber du musst wissen, seine Position und sein Ehrgeiz machen
ihn...« Er zögerte. »... nicht gerade vertrauensunwürdig in dem
Sinne, dass er dich willentlich verletzen würde, aber trotzdem
gefährlich. Bis wir wissen, was Jarls Angriff zu bedeuten hat,
müssen wir es unbedingt für uns behalten. Bitte, du musst
mir vertrauen.«
Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander
entfernt, und sein Blick war so ernst, dass ich erst einmal
schwieg. Doch innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, Ryu zu
verteidigen. Natürlich würde ich ihm erzählen, was heute
Nacht passiert war. Schließlich handelte es sich um Ryu, Herrgott
noch mal.
Doch bevor ich meine Position in dieser Sache zum
Ausdruck bringen konnte, wurden wir gestört.
»Meine Güte, Jane«, rief eine vertraute Stimme, und
mein Herz machte einen Satz. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen
die Wand und kam umständlich auf die Beine. »Dem Himmel sei Dank,
dir ist nichts passiert«, rief Ryu erleichtert, doch als sein Blick
auf Anyan fiel, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Ryu«, schluchzte ich, und plötzlich kamen mir die
Tränen, die ich mir zuvor verkniffen hatte. Als ich mich endlich
aufgerappelt hatte, eilte ich zu ihm, und er legte die Arme um
mich.
Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust, klammerte
mich wie eine Klette an ihn und sog seinen Geruch ein. Er roch ein
wenig streng - aber unter den Ausdünstungen von Blut und Schweiß
erkannte ich dennoch Ryus vertrauten Duft.
Er streichelte meinen Nacken und drückte seine
Lippen an meine Stirn. »Was ist passiert?«, wollte er wissen. »Und
was macht Anyan Barghest hier?«
Ich öffnete den Mund, bereit, ihm alles zu
erzählen: von Wally und seinem Arm, von den Spriggans und ihrem
vermeintlichen Verrat, von Nyx und der Augenhöhle der Schlange und
am allerwichtigsten natürlich von Jarl und seinem Angriff auf
mich.
Aber aus irgendeinem Grund zögerte ich einen Moment
lang und sah mich um. Anyan war aufgestanden und entfernte sich
bereits von uns. Er hatte schon fast das kleine Tor erreicht, das
zum Pool führte. Unsere Blicke trafen sich noch einmal, und ich
musste wieder an das Geräusch von Leichenteilen denken, die aus
einem Sack auf den Boden glitten. Ich erschauderte und begriff
plötzlich, was Anyan versucht hatte, mir klarzumachen. Ich
vertraute Ryu voll und ganz. Und ich wusste, dass er nicht einfach
darüber hinwegsehen würde, dass mir Jarl wehgetan hatte.
Ich wandte mich wieder Ryu zu, der den Barghest
ziemlich unfreundlich ansah. Mir fiel auf, dass Ryus Wange bereits
wieder verheilt war. »Ich weiß nicht«, sagte ich schließlich. »Ich
muss einen Schlag auf den Kopf bekommen haben. Jedenfalls war ich,
als ich zu mir kam, hier draußen mit Anyan. Er hat mich geheilt.«
Ich hörte das leise Schnappen des Tors, das sich hinter dem
Barghest schloss.
Ryu sah mich prüfend an. Dann schüttelte er den
Kopf und sagte: »Okay, Jane, solange du in Sicherheit bist, soll es
mir recht sein.« Er legte die Arme wieder um mich, und ich
schmiegte mich in seine Umarmung. Besser spät als nie hatte ich
Anyans Worte verstanden. Ryu mochte mich, und er nahm seinen Job
ernst. Wenn ich ihm sagen würde, was Jarl getan hatte, würde er
ermitteln. »Und momentan, ohne Beweise außer der Aussage eines
Halblings wie mir, wird Jarl Ryu zerquetschen wie einen Käfer«,
dachte ich und wischte meine Triefnase an seinem Hemd ab. Meine
Nase lief, und er war sowieso schon schmutzig. Okay, es war nicht
gerade die feine Art, aber er hielt mich so fest, dass ich meine
Arme nicht bewegen konnte.
»Hast du gerade deine Nase an mir abgeputzt?«,
fragte er. In seiner Stimme schwangen eine Vielzahl verschiedener
Gefühle mit, aber »Das glaub ich jetzt nicht« stand ganz oben auf
der Liste.
»Vielleicht«, murmelte ich zögerlich und schielte
zu ihm hoch.
»Oh, Jane«, sagte er und zauberte ein Taschentuch
hervor. Mit dem er erst sein verschmiertes Hemd und
dann meine Nase abwischte. »Was soll ich bloß mit dir
machen?«
»Mich nach Hause bringen?«, schlug ich
hoffnungsvoll vor.
»Natürlich«, sagte er, doch seine Augen behielten
ihren traurigen Ausdruck, »das habe ich dir ja versprochen, oder?
Aber jetzt bringe ich dich erst einmal ins Bett.« Nachdem er mir
zur Sicherheit noch einmal die Nase abgewischt hatte, hob er mich
hoch und trug mich hinein. Er drückte mich fest an seine Brust und
übersäte mein Gesicht mit Schmetterlingsküssen. Er humpelte noch
immer leicht, aber ich dachte mir: »Wenn er mein Gewicht aushält,
dann lasse ich ihn mal.« Außerdem war ich selbst nicht gerade in
der besten körperlichen Verfassung.
»Ich hatte solche Angst, als ich dich nirgends
finden konnte«, sagte er.
»Ich hatte auch Angst«, sagte ich
wahrheitsgetreu.
»Es tut mir leid, dass sich alles so entwickelt
hat. So habe ich mir dein Debüt am Hof der Alfar sicher
nicht vorgestellt.«
»Ich weiß, Ryu. Ich weiß.« Dann fiel mir etwas ein.
»Hast du Jimmu getötet?«, erkundigte ich mich, überrascht, wie
beiläufig meine Frage klang.
»Klar«, antwortete Ryu und schenkte mir ein
fang-tastisches Grinsen, »aber er war ziemlich
widerspenstig. Erst wollte er einfach nicht kooperieren und
sterben.«
»Hm. Na ja, das ist gut. Dass Jimmu tot ist, meine
ich. Oh, und du hättest sehen sollen, was Wally gemacht hat«, fügte
ich hinzu und setzte zu einer gekürzten Version meiner Erlebnisse
dieses Abends an. Dass ich ihm nicht alles sagen durfte, hieß ja
nicht, dass ich ihm nicht wenigstens ein paar Sachen erzählen
konnte.
Als ich ihm dann von Wallys Arm berichtet hatte und
davon, was Nyx mit der Schlange angestellt hatte, waren wir wieder
in unserem Zimmer angelangt. Ich musste Nyx wirklich meinen Respekt
zollen. Sie war zwar eine Schlampe, aber eine ziemlich harte
Kämpferin.
Danach kommunizierten wir nicht mehr viel,
zumindest nicht verbal. Trotz allem, was passiert war - oder
vielleicht auch gerade deshalb -, stellte ich fest, dass mein
Körper noch viel mehr zu sagen hatte, als ich gedacht hätte. Trotz
seiner Erschöpfung wollte er noch übers Leben philosophieren und
übers Sterben und die Moral und über Angst, Schmerz und Liebe und
über die Lust … ganz besonders über die Lust.
Zu meiner Freude war Ryus Körper nur zu gern
bereit, mit meinem in Dialog zu treten, den wir so lange führten,
bis wir beide zu müde waren, um uns weiter zu unterhalten, sowohl
im eigentlichen als auch im übertragenen Sinne.
»Wenn ich früher gewusst hätte, dass ein Diskurs so
viel Spaß machen kann«, dachte ich, als ich in Ryus Armen
einschlief, »wäre ich dem Debattierklub beigetreten...«