KAPITEL 24
025
Jarl war ganz offensichtlich nicht erfreut, mich zu sehen.
»Du Schlampe!«, fauchte er mit verzerrtem Gesicht. »Du blöde Halbblut-Schlampe, du hast alles ruiniert!« Er schluchzte fast vor Wut.
»Er hat sie wirklich geliebt«, bemerkte mein analytisches Hirn scharfsinnig. »Ryu hat sich getäuscht. Die Nagas waren für Jarl wirklich wie seine Kinder. Und Ryu und ich sind schuld daran, dass sie nun tot sind.«
Doch die kühle Analyse der heutigen Geschehnisse wurde übertrumpft von der Reaktion meines Körpers auf die Tatsache, dass mir gerade jemand ans Leben wollte. Jarl begnügte sich nicht etwa damit, mich kurz und schmerzlos zu erwürgen, sondern erhöhte stattdessen mehr und mehr den Druck auf meine Luftröhre und starrte mir hasserfüllt in die Augen, während er langsam das Leben aus mir herausquetschte. Er wollte jede Sekunde meines Sterbens auskosten.
Der Schmerz wurde immer stärker, und mir schwanden die Sinne. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass mein Leben an mir vorüberzog oder dass ich meinem Schöpfer gegenübertrat oder dass ich irgendeine andere Erscheinung hatte, bei der ich den Sinn des Lebens erkannte. Aber da mein zweiter Name »Abartig« ist, konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie Wally bloß all das Zeug in seiner Hose versteckt. Besonders die Schwerter. Das war doch sicher gefährlich.
Kurz bevor mir schwarz vor Augen wurde, nahm ich aus dem Augenwinkel noch einen Schatten wahr. Plötzlich ließ Jarl von mir ab. Mit einem zischenden Laut strömte Luft zurück in meine Lunge. Durch meine gequetschte Kehle zu atmen, tat weh, aber der Schmerz konnte dem Atemreflex meines Körpers nichts entgegensetzen. Ich spürte, wie ich langsam an der Wand hinunterrutschte, bis ich auf der Seite zu liegen kam. Ich konnte Jarls Stiefel erkennen und riesige Pfoten, die vor mir herumtanzten, während mein Sehvermögen abwechselnd aussetzte und wieder zurückkehrte. In einem Moment war alles um mich herum schwarz, und im nächsten ging das Licht wieder an, die Stiefel waren gefährlich nah vor meinem Gesicht, und dann wurde es auch schon wieder dunkel. Als ich wieder etwas wahrnahm, waren die Pfoten zwischen mir und den Stiefeln, doch dann fingen sie an zu flimmern, und mir wurde wieder schwarz vor Augen. Plötzlich waren da zwei Fußpaare, eines in Stiefeln und das andere nackt, bevor ich erneut in Dunkelheit versank. Ein Geräusch holte mich zurück ins Licht, und ich glaubte, Jarl durch die Luft fliegen und mit einem lauten Krachen gegen die Wand prallen zu sehen. Dann war wieder alles schwarz, aber ich spürte, wie mich jemand aufsetzte. Eine Hand legte sich um meinen Hals, ganz sanft diesmal, und eine Stimme, die klang wie unter Wasser, sagte mir, ich solle stillhalten, damit sie mir helfen könne. Wohlige Wärme durchströmte meinen Körper, und meine Sehkraft kehrte so weit zurück, dass ich ein verschwommenes Gesicht vor mir erkennen konnte. Erleichtert schloss ich die Augen, als der Schmerz in meiner Kehle langsam nachließ. Mein Gehirn versuchte hastig, die Geschehnisse zu rekonstruieren.
»Jarl«, fuhr es mir durch den Kopf, und ich sah hinüber zu dem Alfar, der noch immer an der Wand lag. Ich kniff die Augen zusammen und wimmerte, als ich sah, dass in seinen zusammengesunkenen Körper wieder Bewegung kam.
»Mist!«, fluchte die Stimme vor mir, die ganz offenbar ebenfalls wahrgenommen hatte, was ich gesehen hatte. Während die Hände des Fremden so sanft waren wie die einer Mutter, klang seine Stimme rau wie das Knurren eines Hundes. »Wir machen später damit weiter, Jane. Jetzt muss ich dich erst einmal in Sicherheit bringen.«
Starke Arme hoben mich hoch und legten mich über breite Schultern. Ich strampelte, denn mir war eingefallen, dass ich keine Ahnung hatte, wer dieser Mann war. Ich glaubte zwar, die Stimme zu kennen, doch das konnte unmöglich sein …
»Halt still«, brummte der Mann sanftmütig. »Wir müssen dich erst einmal hier herausbringen.«
»Den kenne ich«, dachte ein Teil meines Gehirns, während ein anderes mir sagte, ich sei einfach nur durchgeknallt. Die restlichen Gehirnregionen waren noch mit meiner soeben durchlebten Nahtoderfahrung beschäftigt.
Plötzlich begriff mein noch völlig vernebeltes Hirn, dass der Kerl, der mich trug, völlig nackt war, und so wie er mich geschultert hatte, hatte ich eine hervorragende Sicht auf ein ziemlich knackiges Hinterteil. Er rannte immer schneller, bis wir schließlich mit beeindruckender Geschwindigkeit durch das Verbundsgebäude jagten. Doch das bedeutete auch, dass ich immer weiter nach hinten rutschte. Er hielt mich zwar an den Oberschenkeln fest, aber ich befand mich mittlerweile Wange an Wange mit einer seiner kolossalen Pobacken.
»Vertraue niemandem«, mahnte mich Ryus Stimme erneut, als wir gerade durch eine Tür in die kalte Nachtluft kamen. Die Abendkühle und die frische Luft wirkten belebend auf meinen Körper, erfrischten meine Sinne und brachten mein Bewusstsein wieder dazu, das Steuer zu übernehmen.
Jetzt fing ich erst richtig an zu strampeln, denn ich war mir noch immer nicht über die Absichten des splitterfasernackten Fremden im Klaren. Er hatte mich zwar vor Jarl gerettet, aber wozu? Warum hatte er mich nicht gleich zurück zu Ryu gebracht? Panik stieg in mir auf, und mein Körper schaffte es irgendwie, einen letzten Rest an Adrenalin zu aktivieren. Während ich die knackigen Gesäßmuskeln, die sich vor meinem Gesicht bewegten, betrachtete, traf ich eine Spontanentscheidung. Ich wollte runter und zwar sofort. Also biss ich zu, in das, was meine Zähne zuerst zu fassen bekamen - und das war, natürlich, der exponierte Hintern meines Entführers.
Der Mann jaulte auf, und ich rutschte abrupt kopfüber in Richtung Boden. Ich sauste auf ein keltisches Mosaik zu und begriff, dass ich mich wohl auf dem kleinen Innenhof in der Nähe der Grotte befand. Wie ein Seemann fluchend, bekam mich der Fremde gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor ich mit dem Kopf auf die ziemlich hart aussehenden Steine schlug. Starke Arme zogen meine Beine wieder an seiner Brust nach unten, bis er die Hände um meine Taille legen konnte. Dann hob er mich behutsam von seiner Schulter und lehnte mich an eine der Wände, von wo aus ich ihn angriffslustig anfunkelte. Noch stand er mit dem Rücken zu mir, warf jedoch einen prüfenden Blick über die Schulter auf sein Hinterteil, auf dem ich zu meiner Genugtuung einen ziemlich perfekten Gebissabdruck erkannte. Ich hatte so fest zugebissen, dass ein Zahnarzt einen Abguss davon hätte nehmen können.
»Himmel, Jane«, fluchte die raue Stimme, während er mit den Fingern über die Bisswunde rieb, »das blutet ja!« Seine sturmgrauen Augen trafen meine. »Und Menschenbisse sind die schlimmsten von allen«, fügte er noch vorwurfsvoll hinzu. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
»Du Mistkerl!«, krächzte ich schließlich. »Du müsstest eigentlich ein Hund sein.«
Anyan sah mich genauso fassungslos an, wie ich mich fühlte. »Du wusstest doch, was ich bin«, verteidigte er sich. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein Barghest bin.«
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Und was glaubst du, bin ich? Etwa eine Enzyklopädie des Übernatürlichen?«, ächzte ich heiser, denn das Sprechen fiel mir noch immer sehr schwer. Aber ich war so wütend, dass ich trotzdem weiterschimpfte. »Ich dachte«, setzte ich an, musste dann aber abbrechen. Meine Kehle versagte vor Schmerz ihren Dienst.
Anyan kniete sich blitzschnell neben mich hin, und seine großen Hände legten sich wieder um meinen Hals. »Schsch, still«, flüsterte er. »Sei ganz still. Lass mich dich richtig heilen. Deine Luftröhre ist beinahe zerquetscht worden.«
Ich warf ihm meinen giftigsten Blick zu, obwohl ich spürte, dass seine Hände wieder diese angenehme Wärme ausstrahlten, von der ich wusste, dass sie meine Schmerzen linderte. Vorsichtig tastete er mit den Daumen meine Kehle ab und untersuchte sie. Aber erst, als er sich schließlich offenbar davon überzeugt hatte, dass ich nicht gleich umkippen und sterben würde, ließ er sich dazu herab, meinem feindseligen Blick zu begegnen. Als ich in seinen Augen sah, wie besorgt er um mich war, verflog meine Wut.
Da er mich noch heilte und ich sowieso nicht sprechen konnte, hatte ich Zeit, ihn eingehend zu betrachten. Irgendwie kam er mir bekannt vor, aber nicht auf so beängstigende Weise wie Jimmu. In seiner menschlichen Erscheinung wirkte Anyan eher wie jemand, der mir im Traum begegnet war. Das war ein seltsames Gefühl, aber nicht unangenehm. Ich erkundete sein Gesicht, das sich so nah vor meinem befand. Seine Haare hatten die gleiche Farbe wie sein Fell als Hund, und es war genauso zerzaust und lang. Es fiel ihm wirr und lockig auf seine hohen Wangenknochen. Er hatte markante Züge, eine lange, dominante Nase, die noch dazu ziemlich schief war, einen breiten Mund mit vollen Lippen und ein kantiges Kinn. Seine Augen waren groß und ausdrucksvoll, aber diese Beschreibung passte eigentlich auf alles an ihm. Schließlich war er ein äußerst beeindruckender Hund, also verwunderte es kaum, dass er auch als Mensch außergewöhnlich groß gewachsen war. Ich schätzte ihn auf weit über einen Meter achtzig, und seine Hände umfassten problemlos meinen Hals. Wahrscheinlich könnte er meinen Kopf zerquetschen wie eine Traube.
»Ich kenne dich«, dachte ich. Einen Augenblick lang glaubte ich schon, es würde mir wieder einfallen, aber dann verblasste die Idee wieder, bevor sie wirklich Formen angenommen hatte. Ich konzentrierte mich und starrte dabei in seine grauen Augen.
»Tut mir leid«, sagte er und schreckte mich damit aus meinen Gedanken. »Ich wollte dich nicht täuschen. Ich dachte wirklich, du weißt, was gemeint ist, als ich dir sagte, ich sei ein Barghest.«
Ich lächelte ihn an. »Roald Dahl«, krächzte ich entschuldigend.
Er starrte mich einen Moment lang irritiert an, bevor er verstand und sich sein Gesicht aufhellte. »Hexen hexen?«, fragte er lachend. »Meine Güte, Mädchen. Kein Wunder, dass du Angst vor mir hast.« Er kicherte - es klang voll und tief -, und sein Lachen drang über seine Hände in meinen Körper. »Keine Sorge, das ist keine authentische Darstellung unserer Art.«
Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch, und er lächelte verständnisvoll. »Wir sind bimorphe Wesen, wie deine Mutter. Wir haben eine menschliche und eine Hundeform. Aber mit extragroßen Zähnen und Pfoten«, erklärte er, und als er erneut lächelte, fielen mir seine leicht verlängerten Eckzähne auf. Seine Hände konnte ich gerade nicht sehen, aber mir war klar, wie groß sie sein mussten, da er sie mir ohne Probleme ganz um den Hals legen konnte.
Wir saßen uns noch eine Weile gegenüber, bis er behutsam meinen Hals losließ. Während dieser Zeit achtete ich tunlichst darauf, ihm nicht in den Schritt zu starren. Es irritierte mich, einen splitterfasernackten Typen vor mir zu haben, dessen unglaublich wuschelige Ohren ich erst neulich noch gekrault hatte.
»Wie fühlst du dich?«, erkundigte er sich fürsorglich. Zum Test räusperte ich mich und spürte nur noch ein leichtes Kratzen. Ich weitete meinen Test aus und hustete probeweise. Erleichtert stellte ich fest, dass ich keine Schmerzen mehr hatte.
»Schon viel besser«, sagte ich schließlich. Meine Stimme war noch etwas rau, aber das waren offenbar die einzigen Nachwirkungen, die von meinem Zusammenstoß mit Jarl übriggeblieben waren. Das und ein tiefes Gefühl der Erschöpfung. Ich fühlte mich, als hätte ich fünf Marathonläufe hintereinander gemacht, und spürte, dass ich dem totalen Kollaps nahe war. Ich glaube, ich stand außerdem unter Schock.
»Gut«, sagte er und legte die Hand an mein Kinn, um mein Gesicht zu betrachten. Ich blickte ihn an, während meine Erinnerung mit mir Verstecken spielte.
»Ryu hätte dich gar nicht erst hierherbringen dürfen«, sagte er, und seine raue Stimme klang vorwurfsvoll. »Es war viel zu früh.«
Ich war zum Umfallen erschöpft, und nun hatte mich Anyan auch noch daran erinnert, dass ich mir weiterhin Sorgen um Ryus Sicherheit machen musste. Als ich daran dachte, hatte ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich flippte aus, oder ich fing hysterisch an zu heulen. Ich entschied mich für Ersteres.
»Ich bin doch kein Kind, du Riesenköter!«, schimpfte ich wütend und lenkte all meine Frustration, die sich an diesem Abend in mir angestaut hatte, auf Anyans haarige Brust. »Nur weil ich ein Halbling bin, bin ich doch noch lange kein Schwächling oder verachtenswert oder dumm! Ich habe alles gemeistert, was mir hier an deinem beschissenen Hof passiert ist, und ich habe überlebt.« Ich überdachte noch einmal, was ich soeben gesagt hatte. »Zumindest beinahe«, räumte ich ein, »aber ich habe überlebt. Also betrachte mich bloß nicht als irgendeine minderwertige Lebensform, du Stinker!«
Meine Worte hatten ihm offensichtlich den Wind aus den Segeln genommen. Er ließ sich kraftlos neben mir auf den Boden sinken. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.
»Das habe ich nie«, sagte er schließlich. »Ich fand nie, dass du schwach bist, und ich betrachte dich nicht als irgendetwas Halbes.« Seine Stimme klang traurig. Sie war mir so vertraut, und doch konnte ich sie nicht zuordnen. Am liebsten hätte ich aus Frust darüber geschrien. »Du bist Jane«, fuhr er fort, »und das reicht mir.« Er sah mich an, auf seinem Gesicht lag ein Schatten, aber seine Augen waren ganz klar zu erkennen.
»Natürlich...«, fiel es mir da endlich wieder ein. »Du warst mein unsichtbarer Freund, als ich nach Jasons Tod im Krankenhaus war. Du hast mich immer besucht. Du hast mir Geschichten erzählt und meine Hand gehalten, während ich schlief.« Als ich diese Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich Recht hatte. Und sein Gesichtsausdruck bewies es, ganz gleich, wie verrückt es klang.
»Ich habe dich besucht«, gab er zu. »Ich konnte dich doch nicht allein an diesem schrecklichen Ort lassen. Wir - das heißt Nell und ich - fühlten uns verantwortlich für Jasons Tod.« Er wog die folgenden Worte genau ab, bevor er weitersprach. »Die Bucht, in der er starb, ist unsere, weißt du. Wir hatten sie eigentlich geheim halten wollen, damit sich dort nicht die jungen Leute aus der Umgebung herumtreiben, aber du hast durch die Aura hindurch sehen können. Wir hatten sie nicht stark genug gemacht. Du hast auch Jason dorthin mitgenommen, und wir wussten, dass wir sie eigentlich besser versiegeln hätten sollen. Aber ihr wart so jung und unschuldig, und du hattest eine so schwere Zeit hinter dir. Also ließen wir euch gewähren, und ihr habt euch dort so wohlgefühlt... zu wohl«, fügte er schuldbewusst hinzu. »Wenn wir euch die Bucht nicht hätten benutzen lassen, wärst du mit deiner Schwimmerei umsichtiger gewesen. Und wenn du vorsichtiger gewesen wärst, dann wäre Jason noch am Leben.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir so leid, Jane. Es ist unsere Schuld, dass er ertrunken ist.«
Ich zweifelte keine Sekunde: Was er sagte, war absolut lächerlich.
»Anyan«, hörte ich mich sagen, »das stimmt doch nicht. Jasons Tod, war ein...« Meine Stimme erstarb. Ich war dabei, zu sagen, dass Jasons Tod ein Unfall gewesen war. Meine Welt geriet ins Wanken, und ich musste ein paarmal tief durchatmen, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Also habe ich dich besucht«, fuhr er unbeirrt fort. »Du warst wie… zerbrochen. Und man hätte dich niemals in diese Klinik stecken dürfen. Wir hätten viel früher eingreifen müssen. Aber wahrscheinlich habe ich alles nur noch schlimmer gemacht, oder?« Seine Stimme war jetzt so leise geworden, dass ich ihn kaum noch verstehen konnte.
»Nein«, widersprach ich ihm ohne zu zögern, ohne dass mir bewusst gewesen wäre, dass ich so empfand, bevor ich es sagte. »Du bist der Grund, warum ich es überhaupt durchgestanden habe. Ich meine, ich wusste zwar nicht, dass du real bist, sondern habe gedacht, du wärst der Beweis dafür, dass ich verrückt bin. Aber wenn es mir wirklich schlechtging, wenn ich dachte, ich könnte es keinen weiteren Tag mehr aushalten, dann warst du da, und ich habe mich nicht mehr ganz so allein gefühlt.«
Als ich das gesagt hatte, schwiegen wir beide. Dieser Abend war einfach viel zu heftig gewesen - zu viele Enthüllungen, zu viel Gewalt, zu viele schmerzhafte Erinnerungen. »Zu viel Schmerz, Punkt«, dachte ich bitter und rieb mir mit der Hand den Hals.
»Warst du auch der, der Jimmu damals am Pool abgelenkt hat?«, fragte ich schließlich und brach damit das Schweigen. Anyan nickte.
»Danke«, sagte ich. »Du hast mir zweimal das Leben gerettet.« Ich atmete tief durch. »Und es tut mir leid, dass ich dich Stinker genannt habe. Übrigens riecht dein Atem sogar nach Zahnpasta, was jetzt auch viel plausibler ist, seit ich weiß, dass du Daumen hast.« Er schenkte mir ein kleines Lächeln, das ich erwiderte, obwohl in meinem Kopf noch immer Aufruhr herrschte. »Also, warum hat Jarl mich angegriffen?«
Anyan seufzte tief. »Ich denke, Jarl wusste, was Jimmu tat. Ich glaube, der Naga handelte auf seinen Befehl hin. Aber vielleicht hat Jarl auch die Wahrheit gesagt, und er wusste nichts davon.« Ich fühlte, wie Anyans kräftige Schultern sich resigniert neben mir hoben und senkten. »Wer weiß schon, welche Motive die Alfar allgemein und Jarl im Besonderen haben. Jedenfalls hat er Halblinge von jeher verachtet.«
»Nun ja, Ryu wird es sicherlich interessieren, dass ich von Jarl angegriffen worden bin...« Ich verstummte, als Anyan sich zu mir wandte und mich fest ansah. Mit einer flüchtigen Geste ließ er ein Magielicht direkt neben unseren Köpfen aufflackern.
Er sah mir so intensiv in die Augen, dass ich schon fürchtete, er würde gleich nach vorne kippen und mit seinem Kopf gegen meine Stirn stoßen. »Jane«, sagte er eindringlich, »hier sind Kräfte am Werk, die keiner von uns beiden nachvollziehen kann. Du bist ganz neu in dieser Welt, und ich habe mich zu lange von ihr ferngehalten.« Betrübt schüttelte er seinen zotteligen Kopf. »Ich habe uns beide im Stich gelassen, und das tut mir leid. Aber hör mir jetzt gut zu. Du darfst niemandem erzählen, was heute zwischen dir und Jarl vorgefallen ist. Nicht einmal Ryu.« Ich wollte schon protestieren, aber er legte mir einen Finger auf die Lippen.
»Ryu mag dich, das weiß ich«, sagte er widerwillig. »Aber du musst wissen, seine Position und sein Ehrgeiz machen ihn...« Er zögerte. »... nicht gerade vertrauensunwürdig in dem Sinne, dass er dich willentlich verletzen würde, aber trotzdem gefährlich. Bis wir wissen, was Jarls Angriff zu bedeuten hat, müssen wir es unbedingt für uns behalten. Bitte, du musst mir vertrauen.«
Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt, und sein Blick war so ernst, dass ich erst einmal schwieg. Doch innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, Ryu zu verteidigen. Natürlich würde ich ihm erzählen, was heute Nacht passiert war. Schließlich handelte es sich um Ryu, Herrgott noch mal.
Doch bevor ich meine Position in dieser Sache zum Ausdruck bringen konnte, wurden wir gestört.
»Meine Güte, Jane«, rief eine vertraute Stimme, und mein Herz machte einen Satz. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand und kam umständlich auf die Beine. »Dem Himmel sei Dank, dir ist nichts passiert«, rief Ryu erleichtert, doch als sein Blick auf Anyan fiel, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Ryu«, schluchzte ich, und plötzlich kamen mir die Tränen, die ich mir zuvor verkniffen hatte. Als ich mich endlich aufgerappelt hatte, eilte ich zu ihm, und er legte die Arme um mich.
Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust, klammerte mich wie eine Klette an ihn und sog seinen Geruch ein. Er roch ein wenig streng - aber unter den Ausdünstungen von Blut und Schweiß erkannte ich dennoch Ryus vertrauten Duft.
Er streichelte meinen Nacken und drückte seine Lippen an meine Stirn. »Was ist passiert?«, wollte er wissen. »Und was macht Anyan Barghest hier?«
Ich öffnete den Mund, bereit, ihm alles zu erzählen: von Wally und seinem Arm, von den Spriggans und ihrem vermeintlichen Verrat, von Nyx und der Augenhöhle der Schlange und am allerwichtigsten natürlich von Jarl und seinem Angriff auf mich.
Aber aus irgendeinem Grund zögerte ich einen Moment lang und sah mich um. Anyan war aufgestanden und entfernte sich bereits von uns. Er hatte schon fast das kleine Tor erreicht, das zum Pool führte. Unsere Blicke trafen sich noch einmal, und ich musste wieder an das Geräusch von Leichenteilen denken, die aus einem Sack auf den Boden glitten. Ich erschauderte und begriff plötzlich, was Anyan versucht hatte, mir klarzumachen. Ich vertraute Ryu voll und ganz. Und ich wusste, dass er nicht einfach darüber hinwegsehen würde, dass mir Jarl wehgetan hatte.
Ich wandte mich wieder Ryu zu, der den Barghest ziemlich unfreundlich ansah. Mir fiel auf, dass Ryus Wange bereits wieder verheilt war. »Ich weiß nicht«, sagte ich schließlich. »Ich muss einen Schlag auf den Kopf bekommen haben. Jedenfalls war ich, als ich zu mir kam, hier draußen mit Anyan. Er hat mich geheilt.« Ich hörte das leise Schnappen des Tors, das sich hinter dem Barghest schloss.
Ryu sah mich prüfend an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Okay, Jane, solange du in Sicherheit bist, soll es mir recht sein.« Er legte die Arme wieder um mich, und ich schmiegte mich in seine Umarmung. Besser spät als nie hatte ich Anyans Worte verstanden. Ryu mochte mich, und er nahm seinen Job ernst. Wenn ich ihm sagen würde, was Jarl getan hatte, würde er ermitteln. »Und momentan, ohne Beweise außer der Aussage eines Halblings wie mir, wird Jarl Ryu zerquetschen wie einen Käfer«, dachte ich und wischte meine Triefnase an seinem Hemd ab. Meine Nase lief, und er war sowieso schon schmutzig. Okay, es war nicht gerade die feine Art, aber er hielt mich so fest, dass ich meine Arme nicht bewegen konnte.
»Hast du gerade deine Nase an mir abgeputzt?«, fragte er. In seiner Stimme schwangen eine Vielzahl verschiedener Gefühle mit, aber »Das glaub ich jetzt nicht« stand ganz oben auf der Liste.
»Vielleicht«, murmelte ich zögerlich und schielte zu ihm hoch.
»Oh, Jane«, sagte er und zauberte ein Taschentuch hervor. Mit dem er erst sein verschmiertes Hemd und dann meine Nase abwischte. »Was soll ich bloß mit dir machen?«
»Mich nach Hause bringen?«, schlug ich hoffnungsvoll vor.
»Natürlich«, sagte er, doch seine Augen behielten ihren traurigen Ausdruck, »das habe ich dir ja versprochen, oder? Aber jetzt bringe ich dich erst einmal ins Bett.« Nachdem er mir zur Sicherheit noch einmal die Nase abgewischt hatte, hob er mich hoch und trug mich hinein. Er drückte mich fest an seine Brust und übersäte mein Gesicht mit Schmetterlingsküssen. Er humpelte noch immer leicht, aber ich dachte mir: »Wenn er mein Gewicht aushält, dann lasse ich ihn mal.« Außerdem war ich selbst nicht gerade in der besten körperlichen Verfassung.
»Ich hatte solche Angst, als ich dich nirgends finden konnte«, sagte er.
»Ich hatte auch Angst«, sagte ich wahrheitsgetreu.
»Es tut mir leid, dass sich alles so entwickelt hat. So habe ich mir dein Debüt am Hof der Alfar sicher nicht vorgestellt.«
»Ich weiß, Ryu. Ich weiß.« Dann fiel mir etwas ein. »Hast du Jimmu getötet?«, erkundigte ich mich, überrascht, wie beiläufig meine Frage klang.
»Klar«, antwortete Ryu und schenkte mir ein fang-tastisches Grinsen, »aber er war ziemlich widerspenstig. Erst wollte er einfach nicht kooperieren und sterben.«
»Hm. Na ja, das ist gut. Dass Jimmu tot ist, meine ich. Oh, und du hättest sehen sollen, was Wally gemacht hat«, fügte ich hinzu und setzte zu einer gekürzten Version meiner Erlebnisse dieses Abends an. Dass ich ihm nicht alles sagen durfte, hieß ja nicht, dass ich ihm nicht wenigstens ein paar Sachen erzählen konnte.
Als ich ihm dann von Wallys Arm berichtet hatte und davon, was Nyx mit der Schlange angestellt hatte, waren wir wieder in unserem Zimmer angelangt. Ich musste Nyx wirklich meinen Respekt zollen. Sie war zwar eine Schlampe, aber eine ziemlich harte Kämpferin.
Danach kommunizierten wir nicht mehr viel, zumindest nicht verbal. Trotz allem, was passiert war - oder vielleicht auch gerade deshalb -, stellte ich fest, dass mein Körper noch viel mehr zu sagen hatte, als ich gedacht hätte. Trotz seiner Erschöpfung wollte er noch übers Leben philosophieren und übers Sterben und die Moral und über Angst, Schmerz und Liebe und über die Lust … ganz besonders über die Lust.
Zu meiner Freude war Ryus Körper nur zu gern bereit, mit meinem in Dialog zu treten, den wir so lange führten, bis wir beide zu müde waren, um uns weiter zu unterhalten, sowohl im eigentlichen als auch im übertragenen Sinne.
»Wenn ich früher gewusst hätte, dass ein Diskurs so viel Spaß machen kann«, dachte ich, als ich in Ryus Armen einschlief, »wäre ich dem Debattierklub beigetreten...«