KAPITEL 13
014
Wow«, rief Ryu, als wir vor Iris’ Boutique hielten, die vor zurückhaltender Eleganz nur so strotzte. Die Puppe im Schaufenster trug einen unglaublichen schwarzen Hosenanzug. Neben ihr lag eine ganze Pyramide aus Handtaschen, die wahrscheinlich ein kleines Vermögen wert waren. Und ich meine jede einzelne davon und nicht den ganzen Haufen.
»Oh …«, hauchte ich, und beim Anblick einer besonders riesigen roten Ledertasche, in die ich wahrscheinlich selbst hineingepasst hätte, lief mir praktisch das Wasser im Mund zusammen. Ich konnte es kaum erwarten, endlich den Laden zu betreten.
»Da drinnen befindet sich offenbar eine Elbe. Sie hat überall ihre Markierung hinterlassen«, sagte Ryu und verzog das Gesicht. »Ihr Menschen würdet diese Art von Elben wahrscheinlich für Vampire halten, aber sie ernähren sich ausschließlich von Lust. Und sie können Elixier aus jeder Körperflüssigkeit ziehen, nicht nur aus Blut.«
»Ah, eine Elbe«, sagte ich und versuchte, mir die Details aus der mittelalterlichen Mythologie in Erinnerung zu rufen. »Aus jeder Körperflüssigkeit…«, murmelte ich in Gedanken, denn die Vorstellung fand ich eigentlich ziemlich erregend. »Verstehe«, fügte ich zwinkernd hinzu.
Ryu zog mich an sich und küsste mich lang und ausgiebig. »Du bist fast zu süß zum Vögeln, Jane. Aber irgendwie will ich es gerade deshalb mit dir tun.«
»Wow«, murmelte ich und spürte meine Lust einen Gang zulegen. Wir küssten uns weiter heftig, und ich fuhr mit meiner Hand durch sein dichtes braunes Haar. Doch nach einer Weile rissen wir uns keuchend voneinander los, denn es war weder die Zeit noch der Ort für Zärtlichkeiten. Hauptsächlich weil der dumme Porsche zu klein für wilde Spielchen zu zweit war. Da mein Plan, weiter Körperflüssigkeiten mit Ryu auszutauschen, somit vereitelt wurde, war ich etwas frustriert und alles andere als darauf gefasst, was uns jenseits der Tür von Iris’ Boutique erwartete.
Wenn ich gedacht hatte, Grizzie strotzte nur so vor sexueller Ausstrahlung, dann sprudelte die Erscheinung, die uns nun die Tür aufhielt, nur so über vor Erotik, und diese Erotik war so handfest, dass ich beinahe darüber stolperte. Doch perfekt manikürte Hände fingen mich auf, und ehe ich mich’s versah, landete ich an dem schönsten Busen, den ich jemals gesehen hatte. Wenn es um Brüste ging, hatte ich auch einiges zu bieten, aber diese beiden Argumente waren wirklich unschlagbar. »Schätzchen«, hörte ich eine zuckersüße Stimme rufen, »sind Sie okay?« Die Hände halfen mir, mich wieder aufzurichten, und ich blickte auch noch in die schönsten blauen Augen, die ich jemals gesehen hatte. Sie waren wie mein Atlantik im Sturm oder wie der Himmel an einem klaren Sommertag. Oder wie das Wasser in Nans Toilette, wenn sie so einen Duftstein fürs Klo verwendete.
Ryu räusperte sich trocken, und ich fand irgendwie die Kraft, meine Augen von dieser Erscheinung zu lösen.
»Iris, nehme ich an?«, sagte Ryu und streckte dem Geschöpf eine Hand hin, während er mich mit der anderen an seine Seite zog.
Die Lichtgestalt richtete nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf Ryu, und ich konnte mich endlich wieder fangen. »Wow, das war heftig«, dachte ich und versuchte, auch meine zitternden Hände wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Ja«, vernahm ich die butterzarte Stimme. »Und Sie müssen Ryu sein. Schön, Sie kennenzulernen. Und wer ist Ihre reizende Freundin hier?«
»Das ist Jane True«, sagte Ryu und stellte sich resolut zwischen Iris und mich. »Ihre Mutter ist die Selkie Mari, die eine Weile in Rockabill gelebt hat.«
»Ja, natürlich, die kleine Jane«, rief Iris erfreut und wand sich an Ryu vorbei, um mich wieder in ihre grazilen Finger zu bekommen. Mit einer Hand gefährlich weit unten an meiner Taille bugsierte sie mich in den Laden hinein.
»Ich habe Ihrer Mutter einmal ein wunderschönes rotes Wickelkleid verkauft«, säuselte sie. »Sie waren noch ein Baby, aber mir war schon damals klar, dass einmal eine echte Schönheit aus Ihnen wird. Und jetzt schau sie dir an. Ganz die Mama.« Sie legte mir die Hand auf die Schulter und drehte mich herum. Dann trat sie einen Schritt zurück, um mich besser in Augenschein nehmen zu können. Ich lief immer roter an und sah mich hilfesuchend nach Ryu um. Er schien nicht recht zu wissen, ob er von dem Spektakel irritiert sein oder das Ganze mit seiner Handykamera filmen sollte.
»Sie haben ihre Haare und ihre Augen«, jubelte Iris weiter und strich mir die Ponyfransen aus dem Gesicht. »Und auch ihre Figur. Gebaut wie die junge Salma Hayek«, sagte sie bewundernd und nickte Ryu, der neben sie getreten war, anerkennend zu. »Wie in From Dusk Till Dawn«, fügte sie noch hinzu, und die beiden gafften mich an. Ich bemerkte, dass Ryus Fänge ein wenig hervorgetreten waren, und Iris’ Augen fingen an, begehrlich zu glühen. Ich für meinen Teil fühlte mich, als stünde »Frischfleisch« in großen Lettern auf meiner Brust.
»Danke, Miss, äh, Iris. Aber wir sind eigentlich im Zuge einer Ermittlung hier«, sagte ich und warf Ryu einen, wie ich hoffte, bedeutungsschweren Blick zu.
»Hä?«, fragte er abwesend und studierte meinen Körper weiter von oben bis unten. »Was? … Ach ja, natürlich. Entschuldigung.« Dann wandte er sich wieder ganz professionell an Iris. »Wir sind hier, weil Ihr Name im Terminkalender von Gretchen Kirschner auftaucht, und wir wollten Sie fragen, was es mit diesem vereinbarten Treffen auf sich hat.«
Iris verzog das Gesicht. »Ach, wen interessieren schon Ihre Ermittlungen. Von mir aus erzähle ich Ihnen alles über Gretchen und was sie wollte …«, flötete sie und warf mir das bezauberndste Lächeln zu, das ich je gesehen hatte. Ich machte einen Schritt auf sie zu, bevor ich überhaupt begriff, was ich da tat. »… aber nur, wenn ich Jane dafür einkleiden darf. Dieser Pulli ist völlig indiskutabel.« Wie um ihre Worte zu bekräftigen, streckte sie die Hand danach aus und rieb das Material zwischen den Fingern, als erwartete sie, dass sie sich daran die Hände schmutzig machen würde.
Ryu seufzte. »Also gut, Iris. Wie Sie wollen. Aber lassen Sie uns zur Sache kommen.«
Iris klatschte begeistert in die Hände und eilte in die Bereiche ihrer Boutique, in denen die edelsten und teuersten Kleidungsstücke hingen. Ich sah Ryu verwirrt an, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Wenn eine Elbe sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist sie nicht so leicht davon abzubringen«, sagte er entschuldigend zu mir. »Wenn wir sie nicht bei Laune halten, dann wird sie uns nie erzählen, was wir wissen wollen.« Dann bekamen seine Augen einen verschmitzten Ausdruck. »Außerdem könntest du wirklich einen neuen Pulli gebrauchen«, zog er mich auf. Das machte mich so wütend, dass ich meinen alten Pullover auszog und nach ihm warf.
»Oh, Sie wollen doch wohl nicht ohne mich anfangen«, säuselte Iris und lächelte mich lasziv an. Sie zog einen ganzen Einkaufswagen voll Kleidung hinter sich her, und ich fragte mich, wie sie das ganze Zeug so schnell hatte zusammensammeln können.
»Sie tragen Größe 38, oder?«, flötete Iris und schob mich und den Wagen, ohne meine Antwort abzuwarten, zu den Umkleidekabinen. Dort angekommen, reichte sie mir ein sehr klein aussehendes Paar schwarze Hosen und eine weiße Bluse. »Ziehen Sie das erst mal an. Zum Warmwerden … und dann legen wir richtig los.«
In der Kabine streifte ich meine alten Jeans ab und begann die schwarze Hose anzuziehen. Sie war aus diesem Stretchmaterial, das sich eng an den Körper schmiegt. Oder besser gesagt, die jede Kurve in einen eisernen Klammergriff nahm. An den Knöcheln war sie sehr lang und eng, also krempelte ich sie hoch. Ich würde sie etwas kürzen lassen müssen. Dann begann der mühsame Prozess des Zuknöpfens. Nachdem ich meine kompletten Eingeweide bis zur Lunge hochgezogen hatte, schaffte ich es endlich, den Reißverschluss und die Knöpfe zu schließen. Dann griff ich zu der weißen Bluse, die, wie ich zugeben musste, ganz fabelhaft war. Sie war aus einem Stoff, der sich besonders weich anfühlte und trotzdem die nötige Festigkeit hatte. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wer sie bügeln würde, falls ich sie mitnehmen sollte, denn ich war eine echte Bügelidiotin. Aber bis jetzt sah die Bluse noch toll aus. Ich wusste jedoch nicht, wie ich darin aussah, denn in der Kabine befand sich kein Spiegel.
Während ich mich umzog, befragte Ryu Iris, leider jedoch ohne viel Glück. Jedes Mal, wenn er ihr eine Frage über Gretchen stellte, drehte Iris sie ihm im Mund herum und fragte ihn über uns aus: Waren wir ein Paar? War es etwas Ernstes? Wann hatten wir uns kennengelernt? Aber ganz besonders schien sie die Frage zu interessieren, wann er Rockabill wieder verlassen würde. Ich ahnte, dass Ryu gleich die Geduld verlieren würde, also trat ich aus der Umkleidekabine.
Iris stieß ein missbilligendes »Tz-tz« aus, und bevor ich mich’s versah, krempelte sie meine Hosenbeine wieder herunter und zog sie so zurecht, dass sie sich um die Waden und die Knöchel lässig bauschten. Dann richtete sie sich wieder auf, öffnete die zwei obersten Knöpfe an meiner Bluse und strich den Stoff an meiner Hüfte zurecht. Dabei glitt ihre Hand gleich zweimal über meinen Hintern, während ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Anschließend holte sie noch einen breiten roten Lackledergürtel aus dem Regal und hatte ihn mir schon fest um die Taille geschlungen, noch bevor ich »Piep!« sagen konnte. Erst als sie merkte, dass ich Schwierigkeiten hatte zu atmen, machte sie den Gürtel ein Loch weiter. Aber dafür erhöhte sie die Schwierigkeit gleich, indem sie meine Füße in unverschämt hohe Schuhe, ebenfalls aus rotem Lackleder, steckte. »Die sind von Miu Miu«, erklärte sie mir, und ich nickte, als wäre mir der Name vertraut. »Das trägt man in dieser Saison. Mary Jane Pumps sind auf den Laufstegen gerade absolut angesagt.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diesen Höllengeräten laufen sollte, aber irgendwie schaffte ich es, zum Spiegel hinüber zu trippeln, ohne mir den Hals zu brechen. Die schwarze Hose saß wie eine zweite Haut, und die sich nach unten verjüngende Form ließ meine kurzen Beine tatsächlich länger aussehen, besonders weil der überflüssige Stoff halb über die hohen Absätze gerutscht war. Der an der Taille eng anliegende Gürtel ließ mein Dekolleté fantastisch aussehen.
Iris stand hinter mir, betrachtete mich im Spiegel und zupfte die Klamotten noch hier und da zurecht. Ich hatte soeben bemerkt, dass sie vor allem im Bereich meiner Oberweite herumnestelte, da sagte Ryu betont freundlich: »Iris, lassen Sie uns zum Geschäftlichen zurückkommen. Jane kann ja noch ein anderes Outfit anprobieren, und in der Zwischenzeit unterhalten wir uns.«
Iris verdrehte genervt die Augen: »Wenn es sein muss.« Sie nötigte mir ein Kleid auf, mit dem ich zurück in die Umkleidekabine ging, wo ich mit einem erleichterten Seufzer aus den hochhackigen Schuhen schlüpfte.
»Die Koboldin rief mich vor ein paar Tagen an und wollte mit mir über Peter sprechen, aber zu unserem Termin ist sie nicht erschienen. Deshalb kann ich Ihnen auch nicht genau sagen, was Gretchen wollte. Ich habe sie schließlich nicht getroffen. Also, warum konzentrieren wir uns nicht lieber wieder auf Jane?«, sagte Iris, und dann wurde ihre Stimme plötzlich wieder zuckersüß. »Ich hätte da noch ganz fantastische Wäsche im Lager …«
»Das klingt ja sehr verlockend«, unterbrach sie Ryu, nun schon mit etwas schärferer Stimme, »aber ich fürchte, wir müssen uns erst einmal auf das konzentrieren, was Sie eben über Peter sagten. Sie kennen Peter also?«, erkundigte er sich. »Wissen Sie denn auch, dass er ermordet wurde?«
Ich versuchte gerade, mich aus den engen Hosen zu schälen, und konnte mir nun vorstellen, wie sich eine Schlange wohl beim Häuten fühlen musste, als ich Iris seufzen hörte. »Ja«, sagte sie. »Er war so ein netter Mann. Er konnte diese eine Sache mit seinem …«
»Ja, sicher«, unterbrach Ryu sie hastig, und ich musste mir auf die Lippen beißen, um nicht lauthals loszuprusten. »Aber irgendjemand hat Peter umgebracht, und nun ist auch Gretchen tot, die in der Gegend war, um in seinem Mordfall zu ermitteln. Wir wissen bisher nur über Gretchens Nachforschungen, dass sie sich mit Ihnen treffen wollte, und wir müssen unbedingt den Grund dafür herausfinden.«
Ich schlüpfte über Kopf in das Kleid, das Iris mir gegeben hatte, und war angenehm überrascht. Es war aus einem seidigen Material, das sich wie Wasser auf meiner Haut anfühlte. Außerdem hatte es ein wunderschönes Muster aus zwei Lilatönen, einem strahlenden Pink und etwas Weiß. Das Muster war eigentlich geometrisch, aber einige Linien waren leicht verschnörkelt, so dass es eher organisch wirkte. An der Taille war eine Schärpe befestigt, mit der ich nichts Rechtes anzufangen wusste. Ich hatte ja schon in der Bluse vorher Dekolleté gezeigt, aber in diesem Kleid wirkte ich wie eine Reklametafel für üppige Oberweiten. Außerdem war es unverschämt kurz.
Vor meiner Kabine war eine Gesprächspause eingetreten, und ich wusste, dass Ryu dabei war, sich eine neue Strategie zu überlegen. Ganz klar, Iris wusste etwas, das sie uns vorenthielt. Aus ihren Ausflüchten klang eine Berechnung, die Bände sprach. Aber ich bekam langsam das Gefühl, dass es genauso wenig Sinn hatte, Iris mit Fragen zu bedrängen, wie zu erwarten, dass einem ein Golden Retriever aufs Wort folgte. Das gelang nur, wenn man ihn mit Leckerli lockte, Bällchen warf und ihm den Bauch kraulte, aber mit Druck kam man nicht weit. Und mir schwante, dass ich in dieser Situation hier der Hundeknochen war.
Also trat ich aus der Umkleide wie auf eine Bühne. Iris seufzte theatralisch und klatschte begeistert in die Hände. Und sogar Ryu wirkte, trotz seiner Verärgerung über Iris, ziemlich erfreut, als er mich so sah.
»Es ist ein Kimono-Minikleid«, erklärte Iris. Sie kam zu mir und wickelte mir die dunkellila Schärpe ein paarmal um die Taille, bevor sie sie vorne zu einem kleinen Knoten band. Dass es sich um ein Minikleid handelte, war offensichtlich, und dass es von einem japanischen Kimono inspiriert war, erklärte die langen fließenden Ärmel. Iris kramte ein weiteres Paar ultrahohe Stöckelschuhe hervor. Diesmal waren sie in dem helleren Lilaton des Kleides, und das Material hatte kleine, unregelmäßig geformte dreieckige Löcher, so dass es aussah wie ein Tigerfellmuster. Die Ränder waren mit Gold eingefasst. »Plateau-Pumps von Christian Louboutin, wie man ja leicht an den roten Sohlen erkennen kann«, erklärte sie mir und half mir, sie anzuziehen.
Als sie mich dann zum Spiegel umdrehte, musste ich zugeben, dass ich eine ziemlich gute Figur machte. Das Kleid war fantastisch, und ich wirkte groß und elegant - zumindest in diesem Spiegel. In Wirklichkeit reichte ich Iris nur knapp bis ans Kinn, und in diesen Schuhen würde ich vermutlich laufen, als wäre ich soeben vom Pferd gestiegen. Aber so lange ich ganz still hielt, ließ sich die Illusion noch aufrechterhalten.
Iris schnurrte buchstäblich, als sie mir das Kleid über den Hüften glattstrich. Und es dann vorsichtshalber noch einmal glattstrich. Und noch einmal. Das war meine Chance, und ich nutzte sie.
»Iris?«, fragte ich leise säuselnd, weil ich sie nicht aus ihren Tagträumen aufschrecken wollte.
»Ja?«, murmelte sie und zog den Stoff an meinem Ausschnitt zurecht, damit der Dekolleté-Effekt noch deutlicher wurde.
»Erzählen Sie uns von Peter«, sagte ich schmeichelnd. »Hat er Ihnen gesagt, warum er in Rockabill war? Mir hat er erzählt, er arbeite an einem Buch.«
Iris sah mir direkt in die Augen, und ich machte wieder wie gebannt einen Schritt auf sie zu. »Diese Frau ist gefährlich«, warnte mich mein Hirn, während meine Libido übermütig die Möglichkeit einer lesbischen Affäre in Betracht zog.
Die Elbe lachte und sagte: »Ach, so ein frecher Kerl! Er schrieb doch nicht an einem Buch, sondern hatte hier in Rockabill einen Halbling im Visier. Deshalb war er hier. Was anderes konnte er auch nicht. Er war so gut wie ein Mensch. Von den Fähigkeiten seines Vaters, einem Elben, hatte er fast gar nichts geerbt. Aber aus irgendeinem Grund konnte er andere Halblinge aufspüren.« Sie zuckte mit den Schultern. »Man weiß nie, was herauskommt, wenn man ein Kind mit einem Sterblichen hat. Manchmal sind sie wie man selbst und manchmal wie der menschliche Partner. Und manchmal ähneln sie keinem von beiden und sind völlig einzigartig.«
Gedankenverloren löste Iris die Schärpe um meine Taille und band sie dann erneut nur etwas anders wieder zu. Ich sah Ryu an, dass er sehr gespannt war, aber er war vorsichtig genug, sich nicht in unser Gespräch einzumischen.
»Peter hatte also einen Halbling im Visier?«, hakte ich so behutsam wie möglich nach. »Etwa mich?«
Iris sah mich erschrocken an. »Ach, Jane«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang wie kandierte Früchte und ließ mich beinahe dahinfließen. »Es tut mir so leid. Das war mir selber gar nicht klar, bis Sie es eben sagten, aber es muss sich um Sie gehandelt haben.«
Ich lächelte sie an und berührte ihr goldenes Haar. Es war noch weicher als der Stoff, aus dem mein Kleid gemacht war. »Ist schon okay, Iris«, murmelte ich. »Sie wussten es ja nicht. Außerdem muss er ja keine schlechten Absichten gehabt haben. Oder wissen Sie, was er vorhatte?«
»Ich weiß nur, dass er … Halblinge beobachtete, um eine Art … Bestandsaufnahme zu machen. Er sagte mir, dass seine Auftraggeber über die Halblinge Bescheid wissen wollen: wer ihre Eltern waren und über welche Fähigkeiten sie verfügen. Er meinte, er lege eine Art Katalog an … für zukünftige Forschungen.« Ich spürte, dass Iris verwirrt war. Sie zögerte mehr und mehr beim Sprechen. Sie schien wirklich bestürzt darüber, dass ich der fragliche Halbling war.
»Iris«, sagte ich sanft zu ihr und brachte ein weiteres Leckerli ins Spiel. »Ich könnte doch noch etwas anprobieren?«
Sie lächelte so strahlend wie die aufgehende Sonne. »Oh ja, ich hätte da das perfekte Kleid …«
Sie nahm einen silbernen Hauch von Stoff von der Stange, und ihre Augen fingen wieder an zu glänzen. »Ich helfe Ihnen damit«, sagte sie zu mir und versuchte, ihre Stimme möglichst sachlich klingen zu lassen.
Ich seufzte. »Wer A sagt, muss auch B sagen«, dachte ich, löste die Schärpe um meine Taille und zog mir das Kleid, das ich gerade trug, über den Kopf.
Iris betrachtete mich verstohlen, bevor sie mir in den silbrigen Stoffhauch half. Ihre sinnliche Ausstrahlung und das offensichtliche Verkaufstalent waren wohl auch der Grund dafür, dass ihre Boutique so gut lief, obwohl sie sich abseits der ausgetretenen Modepfade bewegte.
Während sie noch damit beschäftigt war, das Kleid richtig zu drapieren, unternahm ich einen erneuten Vorstoß. »Iris, was Peter gemacht hat, klingt nicht, als ob es gefährlich war, und trotzdem wurde er ermordet. Hat er Ihnen gegenüber erwähnt, dass er sich irgendwie bedroht fühlte?«
Ich wusste nicht, ob Ryu sich nun stärker auf Iris’ Herumgezupfe konzentrierte oder auf meine Worte, aber er nickte beipflichtend. »Für seinen Handlanger mache ich mich ziemlich gut«, dachte ich amüsiert.
»Irgendetwas war schon komisch«, sagte Iris. »Aber Peter wollte nicht darüber sprechen. Um ehrlich zu sein, haben wir sowieso nicht viel geredet, wenn wir zusammen waren.« Sie lächelte mich an und griff um mich herum, um mir den BH zu öffnen. Ich hielt den Atem an. Sie streifte mir die Träger über die Schultern, und ihre Hände strichen an meinen Armen entlang hinunter. Dann griff sie sich meinen BH zwischen den beiden Körbchen und entledigte mich seiner mit einem sanften Ruck, damit er nicht mehr störend unter dem Kleid hervorlugte.
»Aber er meinte, dass irgendetwas Verdächtiges mit den Halblingen vorginge, die er katalogisierte. Er sagte zwar nicht, worum es sich handelte, aber es kann nichts Gutes gewesen sein, denn ich konnte schmecken, dass er Angst hatte.« Ein erregter Schauder lief mir den Rücken hinunter, als sie das Wort »schmecken« verwendete, um zu beschreiben, wie sie Peters Gefühle wahrgenommen hatte, und hinter mich trat, um mein Kleid zu schließen. Mit ihrer freien Hand strich sie mir wie nebenbei die Wirbelsäule entlang, was mich dazu veranlasste, kerzengerade dazustehen, während sie den Reißverschluss hochzog. Das Kleid saß sehr eng, aber ich denke, das war beabsichtigt.
Ryu betrachtete mich mit ausgefahrenen Fängen, während Iris noch immer dicht hinter mir stand und den Nackenverschluss einhakte. Dann band sie mein Haar zu einem Pferdeschwanz, damit mein Hals freilag. Das Kleid muss ganz gut an mir ausgesehen haben, denn Ryu fing beinahe an zu sabbern.
Dann ließ mich Iris noch in ein anderes Paar Schuhe mit geradezu lächerlich hohen Absätzen und roten Sohlen schlüpfen. Ich wurde das Gefühl nicht los, sie wollte mich unbedingt auf den Geschmack bringen, öfter hohe Schuhe zu tragen. »Noch mehr Louboutin«, flötete sie. »Diesmal allerdings Peeptoes.« Die Wahnsinnsgeräte waren aus schwarzem Satin und hatten quer über die Zehen diese entzückenden Schleifchen.
»Er hat auch gesagt, dass er jemanden gesehen hat, der eigentlich nicht hier sein dürfte. Allerdings war er sich dessen nicht sicher. Das heißt, er war nicht sicher, dass der, den er gesehen hatte, auch der war, den er meinte, und es kam mir so vor, als könne er sich nicht vorstellen, dass dieser Jemand wirklich hier war«, sagte sie etwas verworren, und ich versuchte, ihrem Gestammel zu folgen. »Aber gleichzeitig war er ziemlich sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte.« Iris war einen Schritt zurückgetreten und betrachtete mich zufrieden. Doch dann zupfte sie vorsichtshalber doch noch ein wenig an meinem Kleid herum.
»Er hat es zwar vor mir nie zugeben wollen, aber er hatte Angst. Besonders zum Schluss«, erklärte Iris.
Dann war der Moment gekommen, in dem sie mich zum Spiegel umdrehte, und sogar ich schnappte bei meinem Anblick nach Luft.
Das Kleid war einfach unglaublich. Es hatte einen tiefen V-Ausschnitt, der bis hinunter zu einem empireartigen Taillenansatz verlief. Dort markierte eine Blumenspange den Übergang vom Neckholderausschnitt zum fließenden Rest. Das Kleid war aus Chiffon, und es kam mir so vor, als umgäben mich ganze Wolken dieses Stoffes. Noch nie im Leben hatte ich so fantastisch ausgesehen. Und die absolute Krönung waren die Schuhe, die einfach atemberaubend schick waren. Jeder Gedanke an Peter war verflogen, als ich mich drehte und wendete, um mich in dem 360-Grad-Spiegel von allen Seiten betrachten zu können. »Das ist kein Kleid«, dachte ich begeistert, »sondern ein Traum!«
Ryus Stimme klang heiser, als er sich nach einer Weile wieder einmischte: »Iris, all diese Informationen sind eine große Hilfe, aber haben Sie irgendeine Idee, warum Peter Angst hatte?«
Iris wandte sich Ryu zu und sah dabei so ernst aus, wie ich sie den ganzen Abend über noch nicht erlebt hatte: »Nein, das weiß ich nicht, und ich war auch klug genug, nicht danach zu fragen. Ich bin im Leben nicht so weit gekommen, weil ich Fragen gestellt habe, deren Antworten ich besser nicht wissen sollte. Alles, was ich weiß, ist, dass Peter sich vor irgendetwas ernsthaft fürchtete, und damit gab ich mich zufrieden.«
Iris ging zu dem zierlichen Sekretär hinüber, der neben dem Spiegel an der Wand stand. Sie öffnete eine der Schubladen mit einem Schlüssel und nahm eine Fächermappe heraus.
Ich spielte hingerissen mit dem langen Rock meines Kleides, breitete ihn fächerförmig aus und ließ ihn dann fallen, so dass der Stoff meine Beine umspielte. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. »Es könnte mir gehören«, dachte ich, »wenn ich blitzschnell aus den hohen Schuhen schlüpfe und mich damit aus dem Staub mache. Die Elbe wird mich zwar bestimmt leicht einholen, aber wenn ich es schaffen würde, an die Porsche-Schlüssel zu kommen, dann hätte ich eine echte Chance …«
»Ich habe selbst gar nicht hineingeschaut«, hörte ich Iris sagen und riss mich endlich von meinem Spiegelbild los. Sie überreichte Ryu die Mappe und klopfte sich dann die Hände ab, als sei sie froh, das Ding los zu sein. »Es ist eine Kopie von Peters Fallordner. Er hat sie bei mir hinterlegt, zur Sicherheit. Er bat mich, sie der zuständigen Behörde zu übergeben, sollte ihm etwas passieren.« Sie sah Ryu forschend an. »Und ich glaube, das sind Sie. Ich bin jedenfalls froh, wenn ich das Ding aus meinem Laden habe.«
Ich sah, dass Ryu ganz wild darauf war, die Unterlagen durchzugehen. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Mit einem Seufzen griff ich nach dem Reißverschluss meines Kleides im Nacken und versuchte ihn zu öffnen. Als Iris dies sah, eilte sie sofort zu mir, um mir beim Ausziehen zu helfen.
Als sie dabei war, den Zipper zu öffnen, schien ihr noch etwas einzufallen. »Ach ja, Peter hat mir gesagt, für wen er arbeitet.«
Ryu sah sie an, sein Blick war so stechend und fokussiert wie der eines Wolfes beim Anblick von einem Pfund Frischfleisch.
»Es ist ein Vampir wie Sie«, sagte sie zu Ryu. »Der Name war Nyx, wenn ich mich nicht täusche.«
Ich beobachtete fasziniert, wie Ryus Gesicht abwechselnd ungefähr sechs verschiedene Lilatöne annahm und er einige derbe Flüche ausstieß. Dann riss er meinen grauen Pulli in der Mitte entzwei. Woraufhin auch ich zu fluchen anfing.