KAPITEL 16
Ist es das?«, fragte ich ungläubig
und starrte auf das gigantische, protzige und ziemlich
geschmacklose Anwesen.
Wir hatten das Hotel nachmittags verlassen und
waren die paar Stunden nach Norden gefahren, wo sich der Hof der
Alfar im Nirgendwo befand. Wir waren bereits eine Dreiviertelstunde
gefahren, ohne ein Anzeichen von Besiedelung, bevor wir an ein
Grundstück kamen, das von einem mit Stacheldraht und
Metallspitzen gesicherten Zaun umgeben war. Nachdem wir eine
gefühlte Ewigkeit an der einschüchternden Begrenzung
entlanggefahren waren, gelangten wir an ein festungsartiges
Sicherheitstor. Ryu hatte etwas in die Überwachungskamera gesagt,
und das Tor hatte sich quietschend geöffnet. Wir waren noch auf
einer langen Straße weitergefahren, die sich durch das stark
bewaldete Grundstück wand, bevor wir vor diesem Gebäude
hielten: ein hässlicher Kasten, der abgesehen von seinen riesigen
Ausmaßen in jeder Neubausiedlung am Stadtrand stehen könnte.
Ryu sah mich irritiert an und bellte dann wieder
sein lustiges Lachen.
»Hoppla«, sagte er, »habe ich ganz vergessen.« Er
hielt mir mit der Hand die Augen zu und murmelte dann etwas, noch
ein wenig außer Atem vom Lachen.
Vor meinen Augen fing es an zu wabern, und mein
Blick verschwamm. Für ein paar beängstigende Momente wollten sich
meine Augen nicht mehr scharf stellen lassen, aber als ich meine
Sehkraft dann wieder zurückerlangt hatte, sah plötzlich alles ganz
anders aus.
Statt des geschmacklosen Klotzes stand dort
plötzlich ein Gebäude, das wirkte, als hätten Walt Disney, Tolkien
und M.C. Escher bei seiner Konstruktion Hand in Hand gearbeitet.
Aber allein schon die Größe des Anwesens war absolut erstaunlich.
Es war weitläufig und fast turmhoch, und es wirkte irgendwie
surreal. Es hatte wohl etwas mit den Formen und den Proportionen zu
tun oder mit dem Zusammenspiel von allem. Jedenfalls widersetzte
sich das Gebäude jeder Logik.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich auf die
Details zu konzentrieren. Das Anwesen bestand aus Dutzenden von
unterschiedlich geformten Türmchen, die durch lange Laubengänge
miteinander verbunden waren. Es war aus grauem Stein, aber in der
spätnachmittäglichen Sonne schimmerten einige der Türme rosa. Die
verschiedenen Dächer hatten zumeist die grünstichige Farbe von
angejahrtem Kupfer oder waren verglast. Doch es gab auch vereinzelt
Türme und Gänge, die mit Dachschindeln oder Reet gedeckt waren. Und
ein gedrungener Turm sah sogar so aus, als bestünde er aus
ineinander verwachsenen Bäumen. Eine steile Steintreppe führte
hinauf zum Eingang des Anwesens, der aus einer massiven Eichentür
mit Eisenbeschlägen bestand.
Ich atmete tief durch und spürte, wie sich mein
Gehirn erst an diesen Anblick gewöhnen musste. »Da bekommt man ja
Kopfschmerzen«, dachte ich, »aber es ist unglaublich
schön.«
»Der Verbund wird ständig von einer Aura
abgeschirmt«, erklärte Ryu mir. »Weil du noch zu wenig Übung darin
hast und die Aura sehr stark ist, konnte sie auch dich täuschen.
Aber von jetzt an wirst du alles in seiner wahren Gestalt
sehen.«
Ich hatte das Gefühl, dass er ein bisschen zu
optimistisch war, aber ich rang mir trotzdem ein Lächeln ab. Ich
war unheimlich nervös, und außerdem taten mir die Füße schon
furchtbar weh. Ich trug das Outfit mit der schwarzen Hose, der
Bluse, dem engen Gürtel und den Stöckelschuhen, das Iris für mich
ausgesucht hatte. Ich hatte im Hotel, während Ryu schlief, geübt,
auf hohen Absätzen zu gehen und war mir mittlerweile relativ
sicher, dass ich nicht bei jedem Schritt das Gleichgewicht
verlieren würde. Aber so lässig und elegant wie Sarah Jessica
Parker auf High Heels bewegte ich mich noch bei weitem nicht.
Wahrscheinlich würde ich das nie lernen.
»Wie kann es so ein Riesending hier draußen
geben?«, fragte ich Ryu und betrachtete das gigantische Gebilde.
»Wie haben sie das bloß gebaut, ohne dass es jemand bemerkt
hat?«
Ryu musste wieder lachen und legte den Arm um meine
Taille. »Diesen Verbund gab es schon, bevor Menschen die Erde
bevölkerten«, erklärte er mir. »Es hat Völkerwanderungen,
Überfälle, Kriege und sogar die massive Ausbreitung der Städte
überdauert. Nicht einmal Starbucks hat es als Standort für sich
entdecken können.«
Ryu lächelte aufmunternd und zog mich am Arm die
Stufen hinauf, aber ich zögerte. Bevor ich das Verbundsgebäude
betrat, musste ich noch eine Frage beantwortet haben, die mich
schon verfolgte, seit Anyan mich in meine Bucht gejagt und ich die
Wahrheit über meine Herkunft erfahren hatte.
»Meine Mutter?«, fragte ich mit belegter Stimme.
»Werde ich sie sehen?«
Ryu blieb stehen, drehte sich um und sah mich ernst
an. Behutsam strich er mir die Ponyfransen aus den Augen.
»Wahrscheinlich nicht«, gab er zu, unsicher, wie ich darauf
reagieren würde. »Selkies gehören eigentlich nicht an den Hof. Ihre
Welt ist das Meer. Wir Landratten verwirren sie bloß.«
Ich schloss die Augen, als ich seine Worte hörte.
Wenn ich ganz ehrlich war, wusste ich nicht, ob ich erleichtert
oder enttäuscht sein sollte. Ein Teil von mir würde alles geben, um
meine Mutter wiederzusehen; und dadurch, dass ich Nell, Anyan und
Ryu getroffen und durch sie die Wahrheit über mich erfahren hatte,
hatte plötzlich die Möglichkeit dazu bestanden. Doch auf der
anderen Seite war ich noch immer wütend auf sie. Diese Wut
versuchte ich zwar zu verleugnen, aber sie war dennoch
präsent.
Glücklicherweise wartete Ryu bloß schweigend, bis
ich mich wieder gefangen hatte. Als ich die Augen wieder öffnete,
versuchte ich mir ein Lächeln abzuringen, was mir aber nicht recht
gelingen wollte.
»Na ja, sie konnte ja auch nicht wissen, dass ich
hier auftauchen würde«, sagte ich, und meine Stimme klang bitter.
»Schließlich ist sie schon seit zwanzig Jahren irgendwo, wo sie
offenbar ziemlich schlechten Empfang hat.«
Ryu zog mich an sich und umarmte mich fest, eine
Geste, bei der ich plötzlich gegen meine aufsteigenden Tränen
ankämpfen musste. Ein paar Minuten standen wir einfach so da, bis
seine Stimme aus seiner Brust an mein Ohr drang.
»Jane, ich weiß, dass das Verschwinden deiner
Mutter furchtbar hart für dich gewesen sein muss. Und ich weiß
auch, dass nichts, was ich sage, etwas daran ändern kann. Aber mit
Selkies ist das nun mal so, sie brauchen das Meer wie Menschen das
Sonnenlicht.« Er lehnte sich ein bisschen zurück und hob mein Kinn,
so dass ich ihm direkt in die Augen sah. »Seine Mutter gerade mal
sechs Jahre bei sich zu haben, ist natürlich bei weitem nicht
genug«, fuhr er fort und wählte sorgfältig seine Worte. »Aber für
sie muss es unglaublich hart gewesen sein, so lange außerhalb des
Meeres zu leben. Ich weiß, dass das deinen Schmerz nicht aufheben
oder ihren Verlust für dich leichter machen kann...« Ich hatte noch
nie erlebt, dass Ryu um Worte rang, aber jetzt tat er es. Er
schüttelte resigniert den Kopf. »... aber sie muss dich und deinen
Vater sehr geliebt haben«, fügte er hinzu, »weil sie es überhaupt
so lange auf dem Festland ausgehalten hat, selbst wenn sie den
Atlantik praktisch direkt vor der Tür hatte. Das solltest du
wissen.« Ich lehnte meine Stirn an seine Brust und ließ mich einen
Moment von seiner Kraft tragen, während ich darüber nachdachte, was
er mir eben gesagt hatte. Dann hob ich den Kopf, küsste die kleine
Mulde, wo seine Schlüsselbeine zusammenliefen, schob meine Arme
unter seine. Seine Worte hatten mir wieder Mut gemacht, und ich war
nun bereit für alles, was mich erwarten würde.
Als er nun erneut versuchte, mich die steile Treppe
zu
dem aufwendig verzierten und imposanten Eingang hinaufzuziehen,
folgte ich ihm bereitwillig. Ich erinnerte mich daran, das Atmen
nicht zu vergessen und war froh darüber, dass ich mir vorsorglich
Pflaster an die Fersen geklebt hatte. Falls ich dieses Wochenende
in einem Stück überlebte, wäre das eine angenehme Überraschung;
sollten meine Füße aber diese Schuhe überleben, dann wäre das ein
wahres Wunder.
Wie von Geisterhand öffnete sich vor uns die
Eingangstür, und wir betraten eine bemerkenswerte Eingangshalle.
Ich versuchte alles gleichzeitig aufzunehmen, aber es war einfach
zu viel. Da war so viel Licht, dass es meine Sinne schier
überforderte. Meine Augen waren geblendet. Kleine flackernde
Magielichter und riesige, mannshohe Kerzen strahlten miteinander um
die Wette, und selbst die gewölbte Decke schien zu leuchten, als
herrsche draußen kein düsterer Novembertag, sondern als fiele
strahlende Sommersonne durch die Oberlichter in den Raum hinein.
Zum wiederholten Mal an diesem Tage versagte mein Sehvermögen, ich
hatte Schwierigkeiten, mich auf die Eindrücke einzustellen, die
sich mir boten. Doch Ryu führte mich weiter in die Tiefen des
Verbundsgebäudes hinein.
Nur noch eine weitere Tür, allerdings weniger
massiv und abwehrend wie die am Eingang, trennte uns von unserem
Ziel. Und nun, da sich meine Augen an das helle Licht gewöhnt
hatten, sah ich auch, warum es so gleißend war. Die Wände der
Eingangshalle bestanden vollständig aus weißem Marmor und Spiegeln.
Es gab darin keinen Fleck Farbe, abgesehen von vier großartigen
Mosaiken. Zwei befanden sich zu unseren Seiten an der Wand, und
zwei flankierten die Tür in der Wand uns gegenüber. Eines stellte
ein grünes Blatt dar, eines eine Flamme, eines einen Wassertropfen
und das letzte einen Windhauch. »Die vier Elemente«, dachte ich und
bewunderte die Kunstfertigkeit, mit der sie angefertigt worden
waren.
Bisher hatten wir noch keine Menschenseele gesehen.
Trotzdem wusste ich, dass wir beobachtet wurden. Ich konnte die
Blicke, die auf mich gerichtet waren, so deutlich spüren, als
würden sie mich berühren. Mein Rücken versteifte sich, ich drückte
die Wirbelsäule durch, nahm die Schultern nach hinten und streckte
herausfordernd das Kinn vor. Ich sah, wie Ryu mir aufmunternd
zunickte und dabei seine Augen erwartungsvoll zusammenkniff. Als
wir die letzten Schritte auf die Tür zugingen, öffnete diese sich,
und ich erblickte zum allerersten Mal den Thronsaal der Alfar. Alle
Augen waren auf uns gerichtet, als man uns zu meiner Überraschung
formell ankündigte.
»Ryu Baobhan Sith, Ermittler«, hörte ich eine
sonore Stimme verkünden. »In Begleitung von Jane True.«
Ryu fasste mich am Ellenbogen, als ich leicht
strauchelte, und führte mich in die Mitte des langen Saales. Dort
stand, wie ich nun erkennen konnte, ein Podest mit zwei prächtigen
Thronsesseln darauf. In den Wesen, die auf diesen Thronen saßen,
pulsierte eine so spürbare Energie, dass ich mich zwingen musste,
mich ihnen weiter zu nähern, denn ich wurde von ihrer Kraft
gleichsam körperlich abgestoßen.
Aus den Augenwinkeln erhaschte ich einen Blick auf
die Mitglieder des Hofstaates. Sie standen in kleinen Gruppen
zusammen, und manche beobachteten uns neugierig, während andere zu
sehr in ihre Gespräche vertieft waren, als dass sie uns überhaupt
wahrgenommen hätten. Ich durfte
mich von der Umgebung nicht ablenken lassen, denn ich musste alle
Konzentration darauf verwenden, weiterzugehen. Doch es war schwer,
das überwältigende Kaleidoskop an Farben, Körpern, Prunk und
Gewändern nicht zu beachten, das meinen Blick fast magisch
anzog.
»Und du hast befürchtet, dein Gürtel sei
übertrieben«, kicherte meine innere Stimme amüsiert, als mein Blick
von einer üppigen weiblichen Figur angezogen wurde, die in einem
ziemlich freizügigen Gewand steckte, das vage an das Kostüm einer
Bauchtänzerin erinnerte. Ihr Bauch wogte verlockend, als sie
kicherte, und ich wäre beinahe von unserem mit Teppich vorgegebenen
Pfad abgekommen und direkt auf sie zugesteuert. »Irgendetwas sagt
mir, sie ist eine Elbe, und ich frage mich, was sich sonst noch so
alles hier befindet«, dachte ich, und die Stimme in meinem Kopf
klang besorgt und erwartungsfroh zugleich.
Als wir uns dem Podest genähert hatten, machte Ryu
neben mir plötzlich eine tiefe Verbeugung. Verunsichert darüber,
was ich zu tun hatte, tat ich es ihm gleich. Als er sich wieder
aufrichtete, folgte ich auch darin seinem Beispiel.
Die Wesen vor uns waren so kalt, würdevoll und
makellos wie Marmor. Niemand würde sie jemals für Menschen halten.
Aber abgesehen von ihrer Schönheit und außergewöhnlichen Würde,
waren sie nicht übermäßig anders. Sie waren kleiner, als ich es
erwartet hatte, obwohl man im Sitzen nur schwer mit Sicherheit
sagen konnte, wie groß sie wirklich waren. Ich glaube, ich hatte
einfach angenommen, sie seien Riesen.
Wir standen eine gefühlte Ewigkeit vor ihnen und
warteten,
während ihre Blicke ruhig auf uns gerichtet waren. Schließlich
erhoben sie gemeinsam das Wort und begrüßten zuerst Ryu und dann
mich. Sie sprachen leise, und ich erschauderte vor der Energie, die
dennoch in ihren Stimmen pulsierte.
Ryu verbeugte sich erneut, also machte ich es ihm
wieder nach und fragte mich, ob das in der Kirche vielleicht
genauso war. Immer wenn ich mich verbeugte, schnitt der enge Gürtel
in meine Taille, also hoffte ich, dass dies nicht den ganzen Abend
so weitergehen würde.
Ich zuckte fast unmerklich zusammen, als sie ihre
durchdringenden Blicke von Ryu lösten und auf mich richteten.
Diesmal erklang die Stimme der Königin allein.
»Jane«, hallte ihre seltsam feierliche Stimme durch den Saal. Sie
hielt mir ihre Hand hin, und ich trat einen Schritt auf sie zu und
ergriff sie. Doch dann stand ich nervös da und wusste nicht, was
ich tun sollte. Zu meiner Überraschung schüttelte sie mir die Hand,
und nach einer Schrecksekunde schüttelte ich auch ihre. Da standen
wir also und schüttelten uns bestimmt eine halbe Minute lang
gegenseitig die Hände wie zwei Manager, die ein Geschäft
abschließen.
»So begrüßt man sich doch unter Menschen, nicht
wahr?«, fragte sie schließlich und lächelte mich freundlich
an.
»Oh, doch, äh, ja, so ist es, äh, Hoheit«,
stammelte ich und hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten
sollte.
Ohne Eile drehte sie sich zu ihrem Mann um und
sagte: »Sie ist hübsch, Orin. Findest du nicht auch?«
Der König richtete seine hellen Silberaugen wieder
auf mich, und ich konnte mein Zittern nur mit Mühe unterdrücken.
Schließlich hielt die Königin noch immer meine Hand in ihrer, und
vor ihrem Mann zu erschaudern, war vielleicht nicht die taktvollste
Reaktion.
Er betrachtete mich von oben bis unten mit
unveränderter Miene. »Ja, ganz bezaubernd, meine Königin«,
erwiderte er schließlich. Er drehte seinen Kopf langsam wieder in
die Ausgangsposition zurück, und ich musste ein Grinsen
unterdrücken. »Sie sind ja nicht gerade von der schnellen Sorte«,
dachte ich, als ich beobachtete, wie die Königin ganze fünf
Sekunden lang brauchte, um ihre Augenlider mit den dichten Wimpern
zum Blinzeln zu schließen und wieder zu öffnen.
Endlich gab sie meine Hand frei, und ihre Augen
wanderten langsam zurück zu Ryu. »Du hast einen wahren Glücksgriff
getan, Jungling«, sprach sie zu ihm mit getragener Stimme. »Sie
wirkt so menschlich, und doch ist sie so offen für die Kraft der
Elemente. Du bekommst bestimmt gutes Elixier.«
Ich sah Ryu stirnrunzelnd und mit erstaunt
geweiteten Augen an. Er wirkte plötzlich sichtlich angespannt.
Seine Kiefer mahlten, während er versuchte, eine passende Antwort
drauf zu finden. Doch schließlich gab er es auf und nickte: »Ja,
Majestät.«
»Na warte, du Mistkerl, heute Abend bekommst du
dein Elixier ab«, dachte ich wütend über die Bemerkung der Königin,
die auf meinen Nährwert abgezielt hatte. »Ich bin doch nicht die
übernatürliche Variante eines Happy Meals!«, dachte ich empört.
»Billig, willig und Nachtisch inklusive.«
»Wir haben dir dein übliches Quartier zugeteilt«,
sagte
die Königin zu Ryu und wandte sich dann an mich: »Ich hoffe, du
genießt deinen Aufenthalt bei uns, Jane. Wir heißen dich in unserer
Familie willkommen.«
»Danke, Hoheit«, brachte ich hervor und musste
insgeheim an die Addams Family denken.
Ryu und ich verbeugten uns erneut, dann nahm er
mich am Arm und führte mich wieder aus dem Thronsaal. Erst in
diesem Moment fiel mir ein Mann auf, der in einigem Abstand hinter
dem Königspaar stand, halb verdeckt von dem Vorhang zu der Nische,
in der er sich befand. Er hatte dieselben Silberaugen wie die
beiden Monarchen und dieselben Silberhaare. Doch während ihres lang
und fließend war, war seines kurzgeschnitten und in die Stirn
gekämmt wie bei Cäsar. Die Art, wie er mich anstarrte, konnte einem
wirklich das Fürchten lehren. Anders als der gleichmütige, fast
schon leere Blick von Orin, sprach aus den Augen dieses Wesens ein
starkes Gefühl, das ich aus jahrelanger Erfahrung nur zu gut
kannte, nämlich Verachtung. Mir lief es kalt den Rücken hinunter,
und ich streckte meine Hand nach Ryus aus. Für einen Moment vergaß
ich, dass ich eigentlich gerade sauer auf ihn war. Er drückte
aufmunternd meine Hand, und es gelang mir, ein Minimum Würde an den
Tag zu legen, als wir zurück in Richtung Eingangshalle
gingen.
Alles in allem und abgesehen von dem Kerl mit dem
irren Blick, fand ich, war es ganz gut gelaufen. Ich war stolz auf
mich, dass ich dem Druck standgehalten hatte, an diesem mir völlig
fremdartig erscheinenden Hof vorgestellt zu werden. »Den Rest
schaffst du mit links«, sagte ich mir zuversichtlich und war
plötzlich ganz ruhig und gefasst. »Wird schon schiefgehen.«
Aber just in diesem Moment verhedderten sich meine
Füße in einer kleinen Falte im Teppich. Ich stolperte und wäre
beinahe der Länge nach hingeschlagen, wenn Ryu nicht blitzschnell
reagiert und mich aufgefangen hätte. Er landete mit einem Knie am
Boden, als er mich stützte, und ich hing halb in der Luft in seinen
starken Armen.
Bei unserem Eintreten hatte man uns nur
oberflächlich zur Kenntnis genommen, aber nun waren wirklich aller
Augen auf uns gerichtet.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich versucht,
Ryu vorzuschlagen, mich als Ablenkungsmanöver hoch über den Kopf zu
heben, wie Johnny es mit Baby in Dirty Dancing macht, doch
das konnte ich mir gerade noch verkneifen.
Mit so viel Anmut, wie ich aufbringen konnte, wand
ich mich aus Ryus Armen. Er biss die Zähne zusammen, um nicht
lauthals loszulachen, aber der Schalk blitzte aus seinen Augen. Ich
funkelte ihn wütend an, was nicht gerade dazu beitrug, seine
Belustigung zu mindern. Doch er gab sich alle Mühe, beim Aufstehen
wenigstens ein wenig betreten dreinzublicken.
Ich hielt den Kopf hoch erhoben, als wir die
letzten Schritte bis zur Tür des Thronsaals zurücklegten, und Ryu
riss sich zusammen, bis die Türflügel hinter uns zugefallen waren,
aber dann schallte sein bellendes Lachen durch die leere
Eingangshalle.
»Dir wird das Lachen schon noch vergehen, mein
Lieber«, herrschte ich ihn wütend an.
Doch er lachte so heftig, dass ihm die Tränen in
die Augen traten. Schließlich musste ich ebenfalls kichern, und
nach einer Weile krümmte ich mich wie er vor Lachen.
»Oh, Jane«, japste er, hob mich hoch und trug mich
zu einer der unzähligen Treppen, die aus der Halle führten. »Du
bist wunderbar.« Er musste noch immer lachen, doch ich konnte
sehen, dass seine Fänge leicht hervortraten.
Von plötzlicher Müdigkeit übermannt, kuschelte ich
mich an seine Brust. Ich gähnte, und er blickte auf mich
hinunter.
»Nicht einschlafen, Jane«, ermahnte er mich sanft.
»Die Nacht ist noch lang.«
Irgendwie hatte ich geahnt, dass er das sagen
würde. Ich seufzte und versuchte meine Kräfte für den restlichen
Abend zu sammeln.
»Was auch immer man von dir verlangen wird, du
wirst es schaffen«, sagte ich mir, »solange du endlich diese Schuhe
loswirst.«