KAPITEL 7
Vom Parkplatz aus betrachtete Ryu skeptisch
die Kneipe. Das Schweinestall war eine typische Landkneipe:
groß und zugig, ein bisschen schäbig und mit einer begrenzten
Getränkeauswahl, von der sie dafür aber umso mehr auf Vorrat
hatten. Auf der Karte gab es weder Pils von kleinen In-Brauereien
noch Pinot Grigio noch Chardonnay. Das Schweinestall bot
»Weißwein« und »Rotwein«, ein paar der üblichen Sorten Bier und die
unvermeidliche Standardauswahl an hartem Alkohol. Abgesehen davon
waren die Inhaber, Marcus und Sarah Vernon, immer sehr nett zu mir
gewesen, sie gaben sich sogar immer besondere Mühe, dass man sich
bei ihnen wohlfühlte. Außerdem sorgten die Vernons dafür, dass sich
ihre Gäste benahmen.
Es geht sogar das Gerücht, dass Marcus meinen
Lieblingsfeind Stuart am Eröffnungsabend in den Müllcontainer
befördert hat. Stuart hatte sich wie immer wichtig gemacht und dann
einer Touristin an den Hintern gefasst und ihr dabei irgendetwas
Anzügliches ins Ohr geflüstert. Da war Marcus dazwischengegangen.
Der Wirt war zwar
deutlich kleiner als Stu, doch der hatte trotzdem nicht den Hauch
einer Chance. Den einen Augenblick stand er noch da und schaute
verdattert drein, und im anderen steckte er bereits in dem
stinkenden Müllcontainer hinterm Haus.
Ich hätte viel Geld dafür bezahlt, wenn ich in den
Genuss gekommen wäre, Stus Gesicht in dieser Situation zu
sehen.
Das Allerbeste war allerdings, dass Stu am Ende
noch zu Kreuze kriechen und sich bei Marcus entschuldigen musste.
Das Schweinestall war die einzige Bar im Umkreis von
Kilometern, und außerdem hatte Stuart bereits Hausverbot in fast
allen Bars von Rockabill bis Eastport. Also musste er die Suppe
auslöffeln, die er sich selbst eingebrockt hatte, und sich
entschuldigen. Marcus fand dann wohl, Stuart habe seine Lektion
gelernt, und erlaubte ihm, wieder ins Schweinestall zu
kommen.
»Leider«, dachte ich, als ich Stuarts riesigen
Geländewagen auf dem Parkplatz entdeckte. Ich stöhnte genervt. Aber
das Schweinestall war ein ziemlich großer Laden, und der
Parkplatz war voll. Vielleicht würde Stuart ja gar nicht merken,
dass ich da war.
Ryu fand ganz nahe am Eingang noch einen Parkplatz
und nahm wieder meine Hand, als wir in die Bar gingen. »Dieses
Händchenhalten scheint ihm zur Gewohnheit zu werden«, dachte ich,
verunsichert darüber, wie ich dazu stand. Quatsch. Es fühlte sich
verdammt gut an, seine Hand zu halten, aber ich war mir auch
ziemlich sicher, dass ich es eigentlich nicht zulassen sollte.
Nicht zuletzt deshalb, weil er mir gerade gestanden hatte, dass er
ein Vampir war.
»Ach, was soll’s«, gurrte meine Libido, »du wirst
ihn doch wohl nicht dafür verurteilen, dass er Reißzähne hat - er
verurteilt dich ja auch nicht für deinen Dachschaden. Außerdem
sind Vampire einfach unglaublich sexy!«
»Das ist jetzt überhaupt nicht hilfreich«, mischte
sich der etwas tugendhaftere Teil meiner Persönlichkeit in diesen
inneren Monolog ein.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, wischte meine
Libido den vernünftigen Einwand vom Tisch und veranlasste meine
Hand, die von Ryu ein klein wenig zu drücken. Er lächelte mich an,
und man konnte ihm ansehen, dass es ihm gefiel.
»Jane, reiß dich zusammen!«, ermahnte ich mich zum
fünfzigsten Mal an diesem Abend, weil ich merkte, dass meine
Gesichtsfarbe mir wieder einmal entgleiste.
Hinter der langen Bar standen Sarah und Marcus.
Beide waren in etwa gleich groß. Eigentlich sahen sie eher aus wie
Geschwister, abgesehen von ihrer Hautfarbe. Sie war sehr blass, und
er war sehr dunkel. Aber sie hatten ähnlich burschikose Frisuren.
Sarahs Haarspitzen waren hochgegelt, wie um das Volumen seines
Afros nachzuahmen. Sie waren beide etwa ein Meter siebzig groß und
muskulös, aber auf sehr ansprechende Weise. Sie sahen eher aus wie
Akrobaten statt Bodybuilder. Außerdem hatten die beiden sich immer
die Mühe gemacht, sich etwas mit mir zu unterhalten, wenn wir uns
im Ort begegneten, und ich ging wegen ihnen gerne in die Bar.
Allerdings kam ich nicht besonders oft her, weil Stuart hier oft
nicht weit war.
Sarah und Marcus hoben beide abrupt den Kopf, als
ich und Ryu eintraten. »Hmm«, dachte ich. »Den Blick kenne ich.«
Also war ich nur ein bisschen überrascht, als ich wieder Ryus Aura
aufwirbeln spürte, die uns vermutlich für
die anderen Gäste unsichtbar machte, und Marcus wissen wollte, ob
Ryus Anwesenheit mit Nell abgesprochen war.
»Okay, jetzt weiß ich, warum sie immer so nett zu
mir waren«, dachte ich.
Erst als Ryu Marcus versichert hatte, dass er ganz
rechtmäßig hier war, wandte er sich mir zu.
»Willkommen, Jane«, sagte er und umarmte mich so
fest, als sei ich eine lang verloren geglaubte Schwester. Als er
mich wieder losließ, wurde er sogleich von Sarah abgelöst. Auch sie
drückte mich so fest an sich, dass meine Wirbel knackten, und
murmelte mir ins Ohr: »Ich bin ja so froh, dass du endlich Bescheid
weißt.«
Dann standen sie beide vor mir und strahlten mich
noch einen Moment lang an, bevor sie uns links an die Bar
bugsierten.
Dort saßen bereits Gus Little, Miss Carol und ein
Mann, den ich nicht kannte. Gus arbeitete im Lebensmittelladen, wo
er den Kunden die Einkaufstüten packte, obwohl er bereits nicht
mehr ganz jung war. Es ging das Gerücht, dass Gus »anders« war,
allerdings in geistiger Hinsicht und nicht weil er über besondere
Fähigkeiten verfügte. Er war klein und ziemlich pummelig, hatte ein
großes rundes Gesicht und lustige Augen, die hinter
flaschenbodendicken Brillengläsern schwammen. Außerdem war er kahl
wie ein Ei.
Miss Carol war eine meiner liebsten
Persönlichkeiten in Rockabill, gleich nach Grizzie. Sie war
bestimmt mindestens siebzig und irgendwie immer schon alt gewesen.
Obwohl sie ihr ganzes Leben hier in Rockabill gelebt hatte, sprach
sie mit starkem Südstaatenakzent und trug immer grässliche
pastellfarbene Hosenanzüge mit dazu passenden
Schuhen, Hüten und Handschuhen. Ich hätte nie gedacht, dass
sie ins Schweinestall kam.
Der mir unbekannte Mann war sehr schlank und sah
komisch langgezogen aus, als käme er direkt von der Streckbank. Er
schenkte mir ein verwässertes Lächeln aus trüben, unsteten Augen.
Er wirkte wie ein Greis, obwohl er nicht älter als fünfundfünfzig
sein konnte.
Alle drei begrüßten mich wie eine alte Freundin.
Dann hörte ich das Ploppen einer Champagnerflasche, ein eher
ungewöhnliches Geräusch für das Schweinestall. Marcus und
Sarah schenkten die Gläser ein und verteilten sie an unsere kleine
Gruppe. Ich fragte mich, was sie wohl zu feiern hatten. Da erhob
Sarah ihr Glas und verkündete: »Auf Jane! Willkommen in der
Familie!« Alle stießen miteinander an, während ich erstaunt und wie
versteinert dasaß. Ryu stieß mit seinem Glas an meines und
flüsterte mir ins Ohr: »Du solltest etwas sagen.« Seine Lippen
streiften mein Ohrläppchen, und ich erhob mein Glas und sagte:
»Vielen Dank! Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Ich, äh, das
weiß ich wirklich zu schätzen.« Unbeholfen prostete ich ihnen mit
meiner Sektflöte zu und hob die prickelnde Edelbrause an die
Lippen. Es schmeckte köstlich. Ich hatte noch nie zuvor Champagner
getrunken.
Alle anderen nippten mit mir an ihren Gläsern, und
dann gab Miss Carol einen kleinen Jauchzer von sich und rief:
»Heißt das jetzt, ich bekomme in Zukunft Ermäßigung bei euch?« Ich
musste so sehr lachen, dass mir der Champagner beinahe zur Nase
herausschoss. Miss Carol war eine unserer besten Kundinnen, aber
sie las die schmutzigsten Bücher, die man sich überhaupt vorstellen
konnte. Sie bestellte
sie immer extra, und wir mussten sie eingewickelt hinter der
Ladentheke aufbewahren, bis sie sie abholen kam, so versaut waren
sie.
Alle anderen mussten ebenfalls lachen, und Sarah
und Marcus gingen zurück an die Arbeit. Doch bevor sie sich wieder
um ihre anderen Gäste kümmerten, warfen mir beide noch ein
herzliches Lächeln zu. Niemand der Anwesenden hatte, soweit ich es
überblickte, unserer kleinen Feier auch nur die geringste
Aufmerksamkeit geschenkt.
Ryu schenkte mir nach, und ich nutzte die
Gelegenheit, ihm zuzuflüstern: »Was für Wesen sind das denn
alle?«
Er füllte auch sein eigenes Glas und antwortete:
»Marcus und Sarah sind Nahual wie Amy. Heutzutage sind sie die am
weitesten verbreitete Art von übernatürlichen Wesen. Die Gründe
dafür sind ziemlich kompliziert. Das zu erklären würde jetzt zu
lange dauern. Und Miss Carol ist übrigens Nells Nichte, also auch
eine Zwergin.«
»Warte«, unterbrach ich ihn. »Sie sieht aber nicht
aus wie ein Zwerg. Und sie hat ihr ganzes Leben in Rockabill
verbracht.«
»Sie ist noch ziemlich jung für eine Zwergin«,
erklärte er mir. »Erst wenn sie ihre volle Kraft entfaltet hat,
schrumpft sie wie Nell. Dann muss sie sich auch ihr eigenes
Territorium suchen, denn zwei ausgewachsene Zwerge können sich
nicht das gleiche Gebiet teilen. Aber bis es so weit ist, steht sie
unter Nells Schutz. Und ich wette, niemand hier in Rockabill kann
sich an eine Zeit erinnern, in der Miss Carol jung war.«
»Ach«, sagte ich, denn ich hatte den Wink
verstanden, »sie umgibt sich also auch mit einer Aura, oder?«
»Die ganze Zeit über.«
»Und was ist mit Gus?«, wollte ich wissen. »Alle in
Rockabill denken, er wäre ein bisschen, äh … langsam.«
Ryu grinste. »Gus ist nicht langsam. Er ist ein
Stein.«
Ich hatte nicht das Gefühl, dass er einen dummen
Witz machte, also wartete ich gespannt auf seine Erklärung.
»Gus ist ein Steingeist. Irgendwo in der Nähe von
Rockabill befindet sich ein Felsen, an den er gebunden ist. Die
meiste Zeit seines Lebens verbringt er in diesem Stein, nur alle
paar hundert Jahre verlässt er ihn für ein paar Jahrzehnte, um eine
Partnerin zu finden. Steingeister sind unglaublich selten, also
tendieren seine Chancen dafür leider gegen null. Aber er versucht
es trotzdem.«
»Und in der Zwischenzeit packt er
Supermarkttüten?«, fragte ich ungläubig.
»Warum denn nicht? So kommt er wenigstens etwas
unter Leute, ohne dass es ihn gleich überfordert. Wir umgeben uns
alle gerne mit Menschen. Sie sind wie… Feuerwerke. Sie strahlen und
verbreiten jede Menge Trubel, und dann verglühen sie und sterben.
Von seiner Wesensart her ist Gus ein echter Stein. Es wird sicher
kein Rennfahrer aus ihm. Aber er kann Lebensmittel einpacken und
dabei ein bisschen menschliche Lebenskraft tanken, also macht er
es.«
Ich dachte ein Weilchen darüber nach, bevor ich
diskret auf den schlaksigen unbekannten Mann zeigte. »Und was ist
er? Er scheint mich zu kennen, aber ich erinnere mich nicht, ihn
schon einmal gesehen zu haben.«
Auf Ryus Gesicht breitete sich ein Grinsen bis zu
seinen Ohren aus. »Das ist… Russ.«
Ich blinzelte irritiert. »Mr. Fluties
Dackel?«
»Ja.« Er lachte. »Nahual leben nicht so lange wie
andere Übernatürliche, weil sie nicht so viel Kontakt zu den
Elementen haben. Russ ist schon fast vierhundert Jahre, also
steinalt für einen Nahual. Aber wenn sie so alt werden, gehen
manche von ihnen als Haustiere in den Ruhestand. Ich kann mir
vorstellen, dass das ein recht angenehmes Leben sein kann. Man
bekommt Futter und wird am Bauch gekrault.« Während er sprach,
betrachtete ich seine ausdrucksvollen Brauen, und ein wohliger
Schauer lief mir den Rücken hinunter. »Auf jeden Fall gibt es
unangenehmere Arten, seinen Lebensabend zu verbringen.«
»Mhm«, war alles, was ich dazu sagen konnte, denn
ich war damit beschäftigt, die Schmetterlinge in meinem Bauch
wieder unter Kontrolle zu bringen, während ich darüber nachsann,
was Ryu mir gerade erzählt hatte. Und ich dachte, ich hätte
Geheimnisse …
»Ja, ein Haustier zu sein, ist bestimmt ein
Riesenspaß, bis der Tierarzt kommt, um dich einzuschläfern«, sagte
ich schließlich. Ryu lachte bellend wie ein Seehund.
Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte ich ihn:
»Woher weißt du überhaupt so viel über sie alle?«
»Das ist mein Job, schon vergessen?«
»Selbstgefälliger kleiner Mistkerl«, dachte ich.
»Aber ein ziemlich sexy selbstgefälliger kleiner Mistkerl«, fügte
ich sogleich in Gedanken hinzu.
Da legte Miss Carol eine Hand auf Ryus Arm und
erkundigte sich, was es mit seiner Anwesenheit in Rockabill auf
sich hatte. Das gab mir die Gelegenheit, mich ein wenig in der
Kneipe umzusehen. Es war allerhand Rockabiller Prominenz anwesend.
Diejenigen, die nur auf ein Getränk da
waren, saßen direkt an der Bar. Joel Irving kauerte wie immer an
seinem Stammplatz. Er genehmigte sich ein Bier und ein Gläschen
Schnaps.
Einige andere Gäste aßen an den Tischen zu Abend.
Das Schweinestall bestand aus einem großen rechteckigen
Raum. Zwei Drittel davon nahm die riesige Bar, die Küche -, in der
die bereits erwähnten unglaublich leckeren, aber schrecklich
ungesunden Burger zubereitet wurden -, und eine kleine Tanzfläche
neben der Musicbox ein. Im übrigen Drittel des Raums befanden sich
die Tische, die Gästetoiletten und eine winzige Karaokebühne.
Meine übernatürlichen Freunde hatten angefangen,
über den Mord zu sprechen. Sie fragten sich, welche Auswirkungen er
wohl auf die bestehende Kräfteverteilung in ihrer Welt haben würde.
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was das alles zu bedeuten
hatte. Aber ich wurde von ihrer Unterhaltung abgelenkt, als ich
Stuart inmitten seiner widerlichen Freunde an einem der Tische in
der hintersten Ecke entdeckte. Er verschwand fast hinter den
Spielautomaten, die im Schweinestall »nur zu
Unterhaltungszwecken« aufgestellt waren. Ich hoffte, dass er mich
noch nicht entdeckt hatte. Oder besser noch, dass wir noch immer
von Ryus Aura umgeben waren, wovon ich ausging, da auch niemand
unseren recht dramatischen Auftritt bemerkt zu haben schien.
Sarah gesellte sich zu Ryu und Miss Carol, um ihrer
Unterhaltung zu folgen, und ich betrachtete das kleine Grüppchen
wie aus weiter Ferne. »Die ganze Zeit«, dachte ich, »waren sie
direkt vor meiner Nase…« Der Gedanke, dass ich von all diesen
verschiedenen Kreaturen umgeben war
und nichts bemerkt hatte, war unbegreiflich für mich. Ich dachte
an all die Menschen, die hier in der Bar saßen. So mancher von
ihnen hatte sein armseliges Vergnügen daraus gezogen, mich wie
einen Freak zu behandeln. »Wenn die wüssten, was hier wirklich los
ist«, dachte ich schadenfroh. Ich schaute in die kleine Runde um
mich herum und sah, wie der Steingeist dem Dackelmann nickend
beipflichtete und die junge Zwergin, die aussah wie eine alte Dame,
mit dem attraktiven Vampir flirtete, und musste grinsen.
»Ich bin fast so etwas wie normal«, fuhr es mir bei
ihrem Anblick durch den Kopf, und Hoffnung machte sich breit an dem
dunklen Fleck in mir, der einsam war und es satthatte, sich als
Außenseiter seines eigenen Lebens zu fühlen. »Verdammt! Verglichen
mit ihnen bin ich ja schon fast langweilig normal …«
Jemand berührte meine Hand. Es war Marcus, der mir
einen Fünf-Dollar-Schein hinhielt. »Wieso suchst du dir nicht ein
paar Lieder von der Jukebox aus?«, schlug er vor.
Lächelnd nahm ich das Geld. Ich hatte nicht das
Gefühl, dass Marcus mich mit diesem Trick nur loswerden wollte, ich
nahm an, er ahnte einfach, wie verloren ich mir bei ihrem Gespräch
vorkommen musste.
»Dann wollen wir mal«, sagte ich. »Danke.«
Er lächelte zurück, und ich sprang von meinem
Barhocker. Die Jukebox stand an der Wand hinter uns, und ich wusste
aus Erfahrung, dass sie eine ziemlich gute Musikauswahl umfasste,
zumindest für meinen Geschmack. Es gab alle typischen Partyhits von
Bands wie Aerosmith oder AC/DC und auch immer viele aktuelle Hits,
die gerade im Radio auf und ab liefen. Außerdem gab es eine Reihe
von
Songs, die zwar weniger bekannt waren, die ich aber sehr gerne
mochte.
Für fünf Dollar konnte man sich hier im
Schweinestall zehn Songs aussuchen, und ich kapitulierte
fast vor der großen Auswahl. Es waren so viele Lieder, und
schließlich würde ich mit meiner Auswahl für die nächste halbe
Stunde die Bar beschallen.
»Auf in den Kampf, Torero«, sprach ich mir selbst
Mut zu und nahm die Herausforderung damit feierlich an.
Ich versuchte, eine Auswahl zu treffen, die jedes
Genre berücksichtigte und zwischen schnellen und langsamen Stücken
abwechselte. »Wie eine gute Mixkassette«, dachte ich, auch wenn
heutzutage niemand mehr Mixtapes machte. Auf jeden Fall schmuggelte
ich ein paar meiner Lieblingssongs von den Indigo Girls, von David
Gray und R.E.M. hinein.
Ich brauchte ungefähr zehn Minuten, um meine
Auswahl zu treffen, und als ich an meinen Platz zurückkam,
unterbrachen die anderen ihr Gespräch. Ryu legte seine Hand an
meine Taille, um mir auf den Barhocker zu helfen, was vollkommen
überflüssig war und total sexy. Genau in diesem Moment ertönte das
erste Lied aus den Lautsprechern der Jukebox: Great White mit »Once
Bitten Twice Shy«.
»Ich glaub’s nicht, dass du ausgerechnet diesen
Song ausgesucht hast!«, rief er lachend.
»Es ist eines meiner absoluten Lieblingslieder, und
außerdem fand ich es ziemlich passend. Und wenn ich noch mehr davon
trinke«, sagte ich und hielt mein Champagnerglas hoch, »dann kommst
du noch in den Genuss meiner legendären
Luftgitarren-Showeinlage.«
Ryu machte ein Gesicht wie die Grinsekatze.
»Garçon!«, rief er, wobei er einen Finger in die Luft streckte. Und
Marcus war so freundlich, eine weitere Flasche Prickelbrause zu
bringen.
Ich wollte protestieren, aber Ryu winkte
entschieden ab. »Ist doch ein schöner Abend«, sagte er. »Und du
kannst einen schönen Abend gebrauchen. Man sieht dir ja schon von
weitem an, dass du so angespannt bist wie eine
Gitarrensaite.«
Also nahm ich, ohne zu murren, ein weiteres Glas in
Empfang, und wir prosteten uns erneut zu. »Auf das
Schweinestall«, sagte er und zwinkerte mir wieder auf diese
verflixt anziehende Art zu. »Auf das Schweinestall«, stimmte
ich ein, und dann tranken wir beide einen kräftigen Schluck.
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Ich
genoss die Musik und den prickelnden Geschmack meines dritten
Glases Champagner überhaupt. An was Ryu dachte, wusste ich nicht.
Dann verwickelte Miss Carol mich in ein Gespräch über den
Buchladen. Wir unterhielten uns darüber, wie großartig Grizzie und
Tracy waren und welche Bücher sie demnächst bei uns bestellen
wollte. Sie empfahl mir ein paar Titel, die ich aber schon im
meiner Schmuddelschublade hortete - Grizzie hatte sie mir
geschenkt. Ich versprach ihr, sie zu lesen, hatte meine Finger aber
dabei verkreuzt. Ryu plauderte mit Marcus, nachdem Sarah ihn hinter
der Bar abgelöst hatte, und ich glaube, sie sprachen über mich,
denn sie schauten immer wieder herüber, um sicherzugehen, dass Miss
Carol meine Aufmerksamkeit hatte.
Als dann ein weiteres meiner Lieblingslieder,
»Romeo and Juliet« von den Killers, ertönte, erhob sich Russ und
streckte mir einladend die Hand entgegen. »Tanzt du mit einem
alten Hund wie mir?«, fragte er freundlich.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, also
sagte ich einfach Ja. Er humpelte mit mir auf die Tanzfläche, und
wir nahmen eine ziemlich förmliche Walzerhaltung ein. Der Song war
zwar nicht für einen langsamen Tanz geeignet, aber ich brachte es
nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Während wir uns ungeschickt
über die Tanzfläche schoben, wobei er so sehr hinkte, dass ich mir
mehr wie seine Krücke vorkam als wie seine Tanzpartnerin, sprachen
wir über den Morgen, als er Peters Leiche gefunden hatte. Er
erzählte mir, dass er noch versucht hatte, Mr. Flutie abzulenken,
aber in der Trageschlinge hatte er nicht viel ausrichten können,
als sein Herrchen den Toten entdeckte. Ich entschuldigte mich
dafür, dass ich die Sache mit meiner Einmischung so sehr
verkompliziert hatte, denn ich hatte den Eindruck, es wäre allen
lieber gewesen, wenn die Behörden nicht involviert gewesen wären.
Doch er zuckte gleichgültig mit den Schultern und meinte, ich solle
mir deshalb keine Sorgen machen, da solche Dinge sowieso immer so
diskret wie möglich behandelt würden.
Ich sagte ihm, dass mir, während wir tanzten, ein
Gedanke gekommen war.
»Immer raus damit, mein Kind«, sagte Russ und
lächelte mich gütig an.
»Rockabill ist ja kein besonders großes Städtchen,
trotzdem scheinen nicht wenige von, äh … Ihresgleichen hier zu
leben. Gibt es einfach so viele von Ihnen, oder ist Rockabill
irgendwie besonders?« Ich dachte an Buffys Sunnydale und
fragte mich, ob Rockabill eine Art Höllenschlund war.
»Das würde dann auch Lindas und Stuarts Anwesenheit erklären«,
dachte ich bitter.
»Nein, nein, Rockabill ist einfach nur Rockabill«,
sagte der Dackelmann. »Und im Vergleich zu früher gibt es sowieso
nur noch sehr wenige von uns. Aber diejenigen, die gerne unter
Menschen leben, ziehen entweder Großstädte oder eben Orte wie
Rockabill vor, in denen es nur wenige Einheimische, aber viele
Touristen gibt. Die Anonymität der Großstadt hat den Vorteil, dass
man dort einfach nur einer unter vielen ist, und in einem
Touristenort kommt man in Kontakt mit den verschiedensten Leuten,
ohne dass man zu eng mit den Einheimischen werden müsste. Viele von
uns haben auch gern ihr eigenes Gebiet, also müssen wir uns
verteilen. Aber Nell ist ziemlich großzügig und teilt ihr
Territorium mit uns und garantiert sogar für unseren Schutz, also
haben sich einige von uns in Rockabill niedergelassen.«
»So viel zu meiner Vermutung, Linda und Start
könnten Dämonenbrut sein«, dachte ich enttäuscht.
Als das Lied vorüber war, verbeugte Russ sich
galant vor mir und bedankte sich für den Tanz. »Ich danke Ihnen,
Mister … Mister Russ«, erwiderte ich unsicher.
Sarah unterbrach unser unbeholfenes Gespräch, als
gerade Pinks »U & Ur Hand« losdröhnte. »Kannst du auch Swing
tanzen?«, fragte sie mich und nahm meine Hände.
»Nein, leider nicht.« Ich schüttelte den
Kopf.
»Pech!«, sagte sie. »Versuch einfach, es mir
nachzumachen und, wie Mick Jagger sagen würde: Hold on to your
hat!«
Mit diesen Worten wirbelte sie mich auch schon
herum.
Sarah war unglaublich kräftig. Was wirklich gut
war, denn ich tat mein Bestes, um über meine Füße zu stolpern. Aber
mit ihrer geduldigen Anleitung und weil sie mich hochheben und
absetzen konnte, wo immer sie wollte, gelang mir schon bald
wenigstens so etwas Ähnliches wie Swing zu tanzen.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte
Mal so viel Spaß gehabt hatte. Ich mochte das Lied, auf das wir
tanzten, und ich konnte mir in dem Moment nichts Schöneres
vorstellen, als mich zu dieser Musik zu bewegen, die so laut war,
dass die Boxen dröhnten. Noch besser wurde das Ganze dadurch, dass
Sarah so eine starke Partnerin war. Jedenfalls fühlte ich mich, als
würde ich so gut tanzen, dass es mir nicht peinlich sein musste,
also war es einfach nur purer Spaß. Nach kurzer Zeit war ich völlig
außer Atem, und mir tat alles weh, aber ich wollte nicht, dass das
Lied jemals aufhörte. Als es dann doch ausklang, umarmte ich sie
begeistert und keuchte: »Danke!«, als habe sie mir gerade das Leben
gerettet.
Sie kniff mir fröhlich in die Wange. »Ich danke
dir«, sagte sie. »Wir haben schon so lange darauf gewartet,
dich hier in unserer Bar einmal ausgelassen feiern zu sehen.« Dann
drückte auch sie mich kurz an sich. »Jetzt muss ich aber wieder an
die Arbeit«, meinte sie dann. »Und es sieht so aus, als wollte mich
da jemand ablösen.«
Ich drehte mich um und sah, dass Ryu mit meinem
Champagnerglas hinter mir stand. Ich nahm einen dankbaren Schluck,
denn Swing tanzen machte durstig. Dann nahm er mir das Glas wieder
ab, stellte es auf die Theke und streckte mir einladend die Hand
entgegen.
»Stehe ich auf deiner Tanzkarte?«, fragte er
verschmitzt.
»Hmm, lass mich mal sehen«, neckte ich ihn. Ich
glaube, ich war schon etwas betrunken, denn Flirten fiel mir
plötzlich so leicht wie nie.
»Und?« Er hob eine seiner dunklen Brauen und sah
mich aus seinen goldbraunen Augen fragend an. Mein Herz setzte
einen Schlag lang aus.
»Ich denke, ich kann dich noch irgendwie
dazwischenschieben. Für einen kleinen Tanz.«
Er machte einen Schritt auf mich zu, und plötzlich
lag ich in seinen Armen. »Einfach so«, dachte ich und war
überrascht von der Leichtigkeit, mit der es geschah. Der Champagner
schien meine Hemmungen bereits im Schwitzkasten zu haben.
Das Stück, das gerade lief, war eines der heißesten
Lieder, die man sich vorstellen konnte: David Grays »Debauchery«
aus seinem Album A Century Ends. Es handelt von einem
ziemlich betrunkenen Paar, das sich auf einer Fähre trifft und dann
zu ihm geht, um weiterzutrinken und vor seinem Gaskaminofen Sex zu
haben. Das mag zwar schrecklich klingen, aber irgendwie ist es auch
witzig und erotisch zugleich. Außerdem knurrt David an einer Stelle
wie ein Tier, und ich bekomme jedes Mal weiche Knie, wenn ich das
höre.
Ryu und ich tanzten wie Teenager auf einem
Schulball. Ich hatte meine Arme um seine Schultern geschlungen und
er seine um meine Taille. Ich konnte jeden Zentimeter seines
Körpers so intensiv an meinem spüren, als wäre er elektrisch
geladen.
Eines allerdings konnte ich nicht fühlen, seine
übersinnlichen
Kräfte. Er umgab uns nicht mehr mit seiner Aura. Stattdessen
tanzte er vor aller Augen mit mir. Dass es ihm nichts ausmachte,
sich mit der Dorfhexe zu zeigen, war wie Balsam für mich. Deshalb
warnte ich ihn auch nicht davor, dass dies wahrscheinlich keine so
gute Idee war, wenn man bedachte, dass Stuart sich auch hier
herumtrieb.
Ryu hob amüsiert die Brauen, als David Gray davon
sang, wie er seine neue Freundin ihrer Kleider entledigt. Und als
David sie mit Unmengen von Wein, dem klassischen Verführungsmittel,
ermunterte, lachte er.
»Hübsche Musikauswahl«, sagte er und zog mich noch
ein bisschen fester an sich.
»Ja, mir gefällt das Lied. Sehr.« Aber hallo,
und wie es mir gefiel …
Ich legte meine Wange an seine Brust, damit ich ihm
nicht in die Augen sehen musste. In sein schönes, schönes
Gesicht.
Aber als ich sein Herz genauso laut klopfen hörte
wie meines, hob ich doch wieder den Kopf. Der Klang seines
Herzschlags hatte nämlich nicht gerade dazu beigetragen, den wilden
Tanz meiner Hormone zu beruhigen.
Ich versuchte verzweifelt, mir ein Gesprächsthema
aus dem Ärmel zu schütteln. Da gab es tatsächlich eine Sache, die
mich beschäftigte …
»Ryu?«
»Ja?«, murmelte er. Seine Lippen berührten mein
Ohrläppchen.
»Du hast gesagt, dass du … dass Vampire, Baobhan
Sith meine ich, sich von Gefühlen wie Angst oder Lust nähren. Heißt
das auch, dass ihr jagt, ich meine wirklich Jagd macht auf
Menschen, auch wenn ihr sie dann nicht tötet?«
»Ha, was sagt ihr dazu, Hormone!«, dachte ich
triumphierend. Sich Ryu vorzustellen, wie er verängstigte Frauen
durch nächtliche Straßen verfolgte, war besser als eine kalte
Dusche.
»Manche von uns tun das«, gab er zu. »Aber das Blut
schmeckt immer nach den Gefühlen, die der Mensch gerade hat. Also
ist es eine Frage der Vorlieben. Wie, ob jemand lieber Rotwein oder
Weißwein trinkt. Ich für meinen Teil mag den Geschmack von Angst
nicht.«
Ich dachte darüber nach, was dies im Klartext
bedeutete, und meine Knie wurden ganz weich. Und David Gray hatte
noch nicht mal geknurrt. Dann ist es also der Geschmack der
Lust, den er mag, jubelte meine Libido.
Ryus Hand rutschte etwas tiefer und streichelte mir
sanft über den unteren Rücken. Er massierte mich leicht und drückte
meine Hüften gleichzeitig noch näher an sich.
Das Lied passte zu dem, was er tat, denn David Gray
bat seine Partnerin auch gerade, näher zu kommen. Und dann knurrte
David, und das verfehlte bei mir nie seine Wirkung.
Mit der anderen Hand schob mir Ryu eine Haarsträhne
aus dem Gesicht und strich mir über die Wange. Dann glitt sie in
meinen Nacken, und er neigte meinen Kopf leicht nach hinten, so
dass sich mein Gesicht dem seinen zuwandte …
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich
widerstehen sollte. Ich fragte mich, ob ich das Richtige tat. Aber
er war witzig und schön und so anders, und er wusste um
meine dunklen Geheimnisse und störte sich nicht daran … Ich
betrachtete Ryus Gesicht, suchte nach der Antwort auf eine Frage,
die ich nicht einmal zu stellen wagte.
Da nahm ich mit dem letzten bisschen meines
Verstandes,
das noch nicht außer Kraft gesetzt war, die Spitzen seiner
scharfen Fangzähne wahr, die unter seiner Oberlippe hervorblitzten.
»Ach du Schande!«, dachte der Teil von mir, der sich noch
fragen konnte, wo sie hier wohl den Erste-Hilfe-Kasten
aufbewahrten. Gleichzeitig fragte sich der Teil, der sich extrem zu
Ryu hingezogen fühlte, hoffnungsfroh: »Heißt das, er mag
mich?«
Doch meine widerstreitenden Gefühle verstummten
abrupt, als ich Ryus Lippen auf meinen spürte. Es war nur eine
flüchtige Berührung, so sanft wie von einer Feder. »Er mag mich!«,
jubelte ich innerlich. Und wenn ich ehrlich war, mochte ich ihn
auch … also wappnete ich mich für das, was nun kommen würde.
Aber noch bevor Ryus Lippen die meinen noch einmal
berühren konnten, wurden wir von einer wütenden, verächtlichen
Stimme unterbrochen.
»Nette Vorstellung, Schlampe!«
Natürlich war es Stuart.
Ryus Arme fühlten sich plötzlich wie aus Stahl an,
aber ich schaffte es irgendwie, mich aus ihnen zu lösen und
umzudrehen. Stuart stand hinter mir und hatte seine Kumpels im
Schlepptau wie in einem schlechten Wildwestfilm. Er funkelte mich
an, als wolle er gleich auf mich losgehen, was er vermutlich auch
am liebsten getan hätte.
»Hör zu, Arschloch«, sagte er zu Ryu, »ich weiß ja
nicht, was dir dieses Miststück erzählt hat, aber ich hoffe, du
hast eine gute Lebensversicherung. Sie bringt nämlich gerne ihre
Freunde um.«
Ich erhaschte einen Blick auf Ryus Gesicht, als er
einen Schritt auf den pöbelnden Kerl zu machte, und konnte
nicht glauben, dass Stuart wirklich so dummdreist war, sich mit
ihm anzulegen. Ryu wirkte nicht etwa nur ein bisschen bedrohlich,
er sah zum Fürchten aus.
»Er ist eben ein richtiger Vampir«, dachte ich
bewundernd.
Eine von Stuarts wenigen guten Eigenschaften ist
seine Konsequenz. Und in diesem Fall verhielt er sich konsequent
dumm. Anstatt den Rückzug anzutreten wie seine Kumpels, missachtete
er alle Warnsignale.
Stuart starrte mich an, und seine Stimme troff nur
so vor Verachtung, als er sagte: »Eigentlich hätte es dich treffen
sollen in dieser Nacht, du blöde Schlampe.«
Er hatte kaum den letzten Ton über die Lippen
gebracht, da lag er auch schon auf dem Boden. Ryu hatte ihn mit
einem einzigen Schlag kalt erwischt. Alle bis auf zwei von Stuarts
»Freunden« hatten sich bereits verdrückt.
»Schafft ihn bloß hier weg«, knurrte Ryu die beiden
an. Etwas sagte mir, dass er diesmal nicht die Hilfe seiner Aura
brauchte, damit sie ihm gehorchten. »Und wenn ihr uns nachher
draußen auflauern solltet, dann breche ich euch alle Knochen. Ist
das klar?«
Stuarts Freunde nickten, packten ihn auf beiden
Seiten unter den Armen und schleppten ihn davon so schnell sie
konnten. Für einen Moment herrschte in der Bar Totenstille. Doch
als Stuart und seine zwei Helfer durch die Tür verschwunden waren,
kehrten alle wieder zu ihren Unterhaltungen zurück, als sei nichts
geschehen. Man war es gewohnt, dass Stuart sich wie ein Vollidiot
benahm.
»Geht es dir gut?«, erkundigte sich Ryu. Dabei nahm
er meine Hand und schaute mir prüfend in die Augen.
»Ja«, log ich. Bisher war es so ein schöner Abend
gewesen, und Stuart hatte ihn ruiniert.
»Möchtest du noch etwas trinken?«, fragte er.
»Nein. Kannst du mich bitte nach Hause bringen? Tut
mir leid.« Plötzlich war mir zum Weinen zumute. Eine Runde
Schwimmen wäre jetzt genau das Richtige. Und dann vielleicht noch
eine Runde Heulen. »Was hast du erwartet, Jane?«, sagte ich mir,
wütend auf mich selbst. Rockabill würde mich nie vergessen lassen,
was passiert war.
»Natürlich. Ich bringe dich nach Hause«, sagte Ryu,
obwohl er nicht gerade glücklich darüber wirkte.
Ich wartete an der Tür, während er die Rechnung
beglich und meine Sachen holte. Meinen neu gewonnenen Freunden
winkte ich zum Abschied bloß schwach zu. Ich wollte nicht zu ihnen
gehen und mir anhören, wie sie sich für Stuarts Verhalten
entschuldigten. Es war zu peinlich und schrecklich traurig
obendrein, denn ich befürchtete, dass dieser Hauch Freiheit, die
Möglichkeit, meiner Vergangenheit zu entfliehen, die ich heute
Abend verspürt hatte, doch nur eine Illusion war.
Ryu wollte zuerst überprüfen, ob Stu und seine Gang
nicht draußen am Parkplatz auf der Lauer lagen, um sich für die
erlittene Schmach zu rächen. Als ich an der Tür wartete, bemerkte
ich, dass der unheimliche, schmierige Typ mit der dicken Brille,
der heute Morgen mit der Touristengruppe im Buchladen gewesen war,
an einem kleinen Tisch saß, gleich hinter dem großen, an dem Stuart
und seine Freunde gesessen hatten. Anscheinend hatte
Brillenschleiche der Old-Sow-Strudel so gut gefallen, dass er über
Nacht in Rockabill bleiben wollte. Seine Brillengläser
reflektierten
das Licht, aber ich wusste, dass er mich beobachtete. Vor
Bitterkeit krampfte sich mein Magen zusammen. »Ich hoffe, wir haben
dir eine gute Vorstellung geliefert, Penner«, dachte ich.
Ich stieß die Tür nach draußen auf, denn ich nahm
an, dass Stu und seine Freunde sich aus dem Staub gemacht hatten.
Schließlich waren seine Kumpels wenigstens ein bisschen heller als
er.
Den kurzen Weg von der Bar zu mir nach Hause saßen
Ryu und ich schweigend im Auto. Als wir bei mir angekommen waren,
stieg Ryu aus und begleitete mich zur Tür.
»Danke«, sagte ich. »Ich hatte einen sehr schönen
Abend. Es tut mir leid, dass Stuart uns alles verdorben hat …« Ich
spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und senkte den
Kopf, damit er es nicht sehen konnte.
Aber Ryu legte seine Hand unter mein Kinn und hob
meinen Kopf, so dass sich unsere Blicke wieder trafen. »Ich kann
nachempfinden, wie gefangen du dich hier fühlen musst. Und ich kann
dir sagen, mir gefällt das gar nicht.«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, meine Tränen
wegzublinzeln. »Ich bin nicht gefangen«, log ich gepresst.
»Schließlich sind da noch mein Vater und Grizzie und Tracy, und
jetzt weiß ich ja auch von Amy und Nell und …« Ich verstummte. Ich
merkte, dass ich zu bemüht protestierte.
Ryu nahm meine Hand und führte sie an seinen Mund.
Ich spürte seine Lippen an meiner Handfläche.
»Du hast mehr verdient«, sagte er. »Viel mehr. Mehr
vom Leben und mehr Glück.«
»Vielleicht auch nicht«, flüsterte ich, und dann
brach ich doch in Tränen aus.
Er wischte sie mir mit den Daumen fort, nahm sanft
mein Gesicht in seine Hände, und wieder fühlte ich seine Lippen auf
meinen. Als er merkte, dass ich nicht reagierte, löste er sich
sofort von mir.
Er strich meinen Mantel glatt und lächelte mich
traurig an.
»Gute Nacht, Jane. Wir sehen uns morgen nach der
Arbeit. Ich hole dich im Buchladen ab.«
Ich nickte nur, denn ich war zu erschöpft, um etwas
zu sagen.
Erst als er davongefahren war, ging ich ins Haus.
Mein Vater schlief schon, alles war still. Ich ging durch die
Vordertür hinein und durch die Hintertür gleich wieder
hinaus.
Ich musste schwimmen.