KAPITEL 7
008
Vom Parkplatz aus betrachtete Ryu skeptisch die Kneipe. Das Schweinestall war eine typische Landkneipe: groß und zugig, ein bisschen schäbig und mit einer begrenzten Getränkeauswahl, von der sie dafür aber umso mehr auf Vorrat hatten. Auf der Karte gab es weder Pils von kleinen In-Brauereien noch Pinot Grigio noch Chardonnay. Das Schweinestall bot »Weißwein« und »Rotwein«, ein paar der üblichen Sorten Bier und die unvermeidliche Standardauswahl an hartem Alkohol. Abgesehen davon waren die Inhaber, Marcus und Sarah Vernon, immer sehr nett zu mir gewesen, sie gaben sich sogar immer besondere Mühe, dass man sich bei ihnen wohlfühlte. Außerdem sorgten die Vernons dafür, dass sich ihre Gäste benahmen.
Es geht sogar das Gerücht, dass Marcus meinen Lieblingsfeind Stuart am Eröffnungsabend in den Müllcontainer befördert hat. Stuart hatte sich wie immer wichtig gemacht und dann einer Touristin an den Hintern gefasst und ihr dabei irgendetwas Anzügliches ins Ohr geflüstert. Da war Marcus dazwischengegangen. Der Wirt war zwar deutlich kleiner als Stu, doch der hatte trotzdem nicht den Hauch einer Chance. Den einen Augenblick stand er noch da und schaute verdattert drein, und im anderen steckte er bereits in dem stinkenden Müllcontainer hinterm Haus.
Ich hätte viel Geld dafür bezahlt, wenn ich in den Genuss gekommen wäre, Stus Gesicht in dieser Situation zu sehen.
Das Allerbeste war allerdings, dass Stu am Ende noch zu Kreuze kriechen und sich bei Marcus entschuldigen musste. Das Schweinestall war die einzige Bar im Umkreis von Kilometern, und außerdem hatte Stuart bereits Hausverbot in fast allen Bars von Rockabill bis Eastport. Also musste er die Suppe auslöffeln, die er sich selbst eingebrockt hatte, und sich entschuldigen. Marcus fand dann wohl, Stuart habe seine Lektion gelernt, und erlaubte ihm, wieder ins Schweinestall zu kommen.
»Leider«, dachte ich, als ich Stuarts riesigen Geländewagen auf dem Parkplatz entdeckte. Ich stöhnte genervt. Aber das Schweinestall war ein ziemlich großer Laden, und der Parkplatz war voll. Vielleicht würde Stuart ja gar nicht merken, dass ich da war.
Ryu fand ganz nahe am Eingang noch einen Parkplatz und nahm wieder meine Hand, als wir in die Bar gingen. »Dieses Händchenhalten scheint ihm zur Gewohnheit zu werden«, dachte ich, verunsichert darüber, wie ich dazu stand. Quatsch. Es fühlte sich verdammt gut an, seine Hand zu halten, aber ich war mir auch ziemlich sicher, dass ich es eigentlich nicht zulassen sollte. Nicht zuletzt deshalb, weil er mir gerade gestanden hatte, dass er ein Vampir war.
»Ach, was soll’s«, gurrte meine Libido, »du wirst ihn doch wohl nicht dafür verurteilen, dass er Reißzähne hat - er verurteilt dich ja auch nicht für deinen Dachschaden. Außerdem sind Vampire einfach unglaublich sexy!«
»Das ist jetzt überhaupt nicht hilfreich«, mischte sich der etwas tugendhaftere Teil meiner Persönlichkeit in diesen inneren Monolog ein.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, wischte meine Libido den vernünftigen Einwand vom Tisch und veranlasste meine Hand, die von Ryu ein klein wenig zu drücken. Er lächelte mich an, und man konnte ihm ansehen, dass es ihm gefiel.
»Jane, reiß dich zusammen!«, ermahnte ich mich zum fünfzigsten Mal an diesem Abend, weil ich merkte, dass meine Gesichtsfarbe mir wieder einmal entgleiste.
Hinter der langen Bar standen Sarah und Marcus. Beide waren in etwa gleich groß. Eigentlich sahen sie eher aus wie Geschwister, abgesehen von ihrer Hautfarbe. Sie war sehr blass, und er war sehr dunkel. Aber sie hatten ähnlich burschikose Frisuren. Sarahs Haarspitzen waren hochgegelt, wie um das Volumen seines Afros nachzuahmen. Sie waren beide etwa ein Meter siebzig groß und muskulös, aber auf sehr ansprechende Weise. Sie sahen eher aus wie Akrobaten statt Bodybuilder. Außerdem hatten die beiden sich immer die Mühe gemacht, sich etwas mit mir zu unterhalten, wenn wir uns im Ort begegneten, und ich ging wegen ihnen gerne in die Bar. Allerdings kam ich nicht besonders oft her, weil Stuart hier oft nicht weit war.
Sarah und Marcus hoben beide abrupt den Kopf, als ich und Ryu eintraten. »Hmm«, dachte ich. »Den Blick kenne ich.« Also war ich nur ein bisschen überrascht, als ich wieder Ryus Aura aufwirbeln spürte, die uns vermutlich für die anderen Gäste unsichtbar machte, und Marcus wissen wollte, ob Ryus Anwesenheit mit Nell abgesprochen war.
»Okay, jetzt weiß ich, warum sie immer so nett zu mir waren«, dachte ich.
Erst als Ryu Marcus versichert hatte, dass er ganz rechtmäßig hier war, wandte er sich mir zu.
»Willkommen, Jane«, sagte er und umarmte mich so fest, als sei ich eine lang verloren geglaubte Schwester. Als er mich wieder losließ, wurde er sogleich von Sarah abgelöst. Auch sie drückte mich so fest an sich, dass meine Wirbel knackten, und murmelte mir ins Ohr: »Ich bin ja so froh, dass du endlich Bescheid weißt.«
Dann standen sie beide vor mir und strahlten mich noch einen Moment lang an, bevor sie uns links an die Bar bugsierten.
Dort saßen bereits Gus Little, Miss Carol und ein Mann, den ich nicht kannte. Gus arbeitete im Lebensmittelladen, wo er den Kunden die Einkaufstüten packte, obwohl er bereits nicht mehr ganz jung war. Es ging das Gerücht, dass Gus »anders« war, allerdings in geistiger Hinsicht und nicht weil er über besondere Fähigkeiten verfügte. Er war klein und ziemlich pummelig, hatte ein großes rundes Gesicht und lustige Augen, die hinter flaschenbodendicken Brillengläsern schwammen. Außerdem war er kahl wie ein Ei.
Miss Carol war eine meiner liebsten Persönlichkeiten in Rockabill, gleich nach Grizzie. Sie war bestimmt mindestens siebzig und irgendwie immer schon alt gewesen. Obwohl sie ihr ganzes Leben hier in Rockabill gelebt hatte, sprach sie mit starkem Südstaatenakzent und trug immer grässliche pastellfarbene Hosenanzüge mit dazu passenden Schuhen, Hüten und Handschuhen. Ich hätte nie gedacht, dass sie ins Schweinestall kam.
Der mir unbekannte Mann war sehr schlank und sah komisch langgezogen aus, als käme er direkt von der Streckbank. Er schenkte mir ein verwässertes Lächeln aus trüben, unsteten Augen. Er wirkte wie ein Greis, obwohl er nicht älter als fünfundfünfzig sein konnte.
Alle drei begrüßten mich wie eine alte Freundin. Dann hörte ich das Ploppen einer Champagnerflasche, ein eher ungewöhnliches Geräusch für das Schweinestall. Marcus und Sarah schenkten die Gläser ein und verteilten sie an unsere kleine Gruppe. Ich fragte mich, was sie wohl zu feiern hatten. Da erhob Sarah ihr Glas und verkündete: »Auf Jane! Willkommen in der Familie!« Alle stießen miteinander an, während ich erstaunt und wie versteinert dasaß. Ryu stieß mit seinem Glas an meines und flüsterte mir ins Ohr: »Du solltest etwas sagen.« Seine Lippen streiften mein Ohrläppchen, und ich erhob mein Glas und sagte: »Vielen Dank! Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Ich, äh, das weiß ich wirklich zu schätzen.« Unbeholfen prostete ich ihnen mit meiner Sektflöte zu und hob die prickelnde Edelbrause an die Lippen. Es schmeckte köstlich. Ich hatte noch nie zuvor Champagner getrunken.
Alle anderen nippten mit mir an ihren Gläsern, und dann gab Miss Carol einen kleinen Jauchzer von sich und rief: »Heißt das jetzt, ich bekomme in Zukunft Ermäßigung bei euch?« Ich musste so sehr lachen, dass mir der Champagner beinahe zur Nase herausschoss. Miss Carol war eine unserer besten Kundinnen, aber sie las die schmutzigsten Bücher, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Sie bestellte sie immer extra, und wir mussten sie eingewickelt hinter der Ladentheke aufbewahren, bis sie sie abholen kam, so versaut waren sie.
Alle anderen mussten ebenfalls lachen, und Sarah und Marcus gingen zurück an die Arbeit. Doch bevor sie sich wieder um ihre anderen Gäste kümmerten, warfen mir beide noch ein herzliches Lächeln zu. Niemand der Anwesenden hatte, soweit ich es überblickte, unserer kleinen Feier auch nur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt.
Ryu schenkte mir nach, und ich nutzte die Gelegenheit, ihm zuzuflüstern: »Was für Wesen sind das denn alle?«
Er füllte auch sein eigenes Glas und antwortete: »Marcus und Sarah sind Nahual wie Amy. Heutzutage sind sie die am weitesten verbreitete Art von übernatürlichen Wesen. Die Gründe dafür sind ziemlich kompliziert. Das zu erklären würde jetzt zu lange dauern. Und Miss Carol ist übrigens Nells Nichte, also auch eine Zwergin.«
»Warte«, unterbrach ich ihn. »Sie sieht aber nicht aus wie ein Zwerg. Und sie hat ihr ganzes Leben in Rockabill verbracht.«
»Sie ist noch ziemlich jung für eine Zwergin«, erklärte er mir. »Erst wenn sie ihre volle Kraft entfaltet hat, schrumpft sie wie Nell. Dann muss sie sich auch ihr eigenes Territorium suchen, denn zwei ausgewachsene Zwerge können sich nicht das gleiche Gebiet teilen. Aber bis es so weit ist, steht sie unter Nells Schutz. Und ich wette, niemand hier in Rockabill kann sich an eine Zeit erinnern, in der Miss Carol jung war.«
»Ach«, sagte ich, denn ich hatte den Wink verstanden, »sie umgibt sich also auch mit einer Aura, oder?«
»Die ganze Zeit über.«
»Und was ist mit Gus?«, wollte ich wissen. »Alle in Rockabill denken, er wäre ein bisschen, äh … langsam.«
Ryu grinste. »Gus ist nicht langsam. Er ist ein Stein.«
Ich hatte nicht das Gefühl, dass er einen dummen Witz machte, also wartete ich gespannt auf seine Erklärung.
»Gus ist ein Steingeist. Irgendwo in der Nähe von Rockabill befindet sich ein Felsen, an den er gebunden ist. Die meiste Zeit seines Lebens verbringt er in diesem Stein, nur alle paar hundert Jahre verlässt er ihn für ein paar Jahrzehnte, um eine Partnerin zu finden. Steingeister sind unglaublich selten, also tendieren seine Chancen dafür leider gegen null. Aber er versucht es trotzdem.«
»Und in der Zwischenzeit packt er Supermarkttüten?«, fragte ich ungläubig.
»Warum denn nicht? So kommt er wenigstens etwas unter Leute, ohne dass es ihn gleich überfordert. Wir umgeben uns alle gerne mit Menschen. Sie sind wie… Feuerwerke. Sie strahlen und verbreiten jede Menge Trubel, und dann verglühen sie und sterben. Von seiner Wesensart her ist Gus ein echter Stein. Es wird sicher kein Rennfahrer aus ihm. Aber er kann Lebensmittel einpacken und dabei ein bisschen menschliche Lebenskraft tanken, also macht er es.«
Ich dachte ein Weilchen darüber nach, bevor ich diskret auf den schlaksigen unbekannten Mann zeigte. »Und was ist er? Er scheint mich zu kennen, aber ich erinnere mich nicht, ihn schon einmal gesehen zu haben.«
Auf Ryus Gesicht breitete sich ein Grinsen bis zu seinen Ohren aus. »Das ist… Russ.«
Ich blinzelte irritiert. »Mr. Fluties Dackel?«
»Ja.« Er lachte. »Nahual leben nicht so lange wie andere Übernatürliche, weil sie nicht so viel Kontakt zu den Elementen haben. Russ ist schon fast vierhundert Jahre, also steinalt für einen Nahual. Aber wenn sie so alt werden, gehen manche von ihnen als Haustiere in den Ruhestand. Ich kann mir vorstellen, dass das ein recht angenehmes Leben sein kann. Man bekommt Futter und wird am Bauch gekrault.« Während er sprach, betrachtete ich seine ausdrucksvollen Brauen, und ein wohliger Schauer lief mir den Rücken hinunter. »Auf jeden Fall gibt es unangenehmere Arten, seinen Lebensabend zu verbringen.«
»Mhm«, war alles, was ich dazu sagen konnte, denn ich war damit beschäftigt, die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder unter Kontrolle zu bringen, während ich darüber nachsann, was Ryu mir gerade erzählt hatte. Und ich dachte, ich hätte Geheimnisse …
»Ja, ein Haustier zu sein, ist bestimmt ein Riesenspaß, bis der Tierarzt kommt, um dich einzuschläfern«, sagte ich schließlich. Ryu lachte bellend wie ein Seehund.
Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte ich ihn: »Woher weißt du überhaupt so viel über sie alle?«
»Das ist mein Job, schon vergessen?«
»Selbstgefälliger kleiner Mistkerl«, dachte ich. »Aber ein ziemlich sexy selbstgefälliger kleiner Mistkerl«, fügte ich sogleich in Gedanken hinzu.
Da legte Miss Carol eine Hand auf Ryus Arm und erkundigte sich, was es mit seiner Anwesenheit in Rockabill auf sich hatte. Das gab mir die Gelegenheit, mich ein wenig in der Kneipe umzusehen. Es war allerhand Rockabiller Prominenz anwesend. Diejenigen, die nur auf ein Getränk da waren, saßen direkt an der Bar. Joel Irving kauerte wie immer an seinem Stammplatz. Er genehmigte sich ein Bier und ein Gläschen Schnaps.
Einige andere Gäste aßen an den Tischen zu Abend. Das Schweinestall bestand aus einem großen rechteckigen Raum. Zwei Drittel davon nahm die riesige Bar, die Küche -, in der die bereits erwähnten unglaublich leckeren, aber schrecklich ungesunden Burger zubereitet wurden -, und eine kleine Tanzfläche neben der Musicbox ein. Im übrigen Drittel des Raums befanden sich die Tische, die Gästetoiletten und eine winzige Karaokebühne.
Meine übernatürlichen Freunde hatten angefangen, über den Mord zu sprechen. Sie fragten sich, welche Auswirkungen er wohl auf die bestehende Kräfteverteilung in ihrer Welt haben würde. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was das alles zu bedeuten hatte. Aber ich wurde von ihrer Unterhaltung abgelenkt, als ich Stuart inmitten seiner widerlichen Freunde an einem der Tische in der hintersten Ecke entdeckte. Er verschwand fast hinter den Spielautomaten, die im Schweinestall »nur zu Unterhaltungszwecken« aufgestellt waren. Ich hoffte, dass er mich noch nicht entdeckt hatte. Oder besser noch, dass wir noch immer von Ryus Aura umgeben waren, wovon ich ausging, da auch niemand unseren recht dramatischen Auftritt bemerkt zu haben schien.
Sarah gesellte sich zu Ryu und Miss Carol, um ihrer Unterhaltung zu folgen, und ich betrachtete das kleine Grüppchen wie aus weiter Ferne. »Die ganze Zeit«, dachte ich, »waren sie direkt vor meiner Nase…« Der Gedanke, dass ich von all diesen verschiedenen Kreaturen umgeben war und nichts bemerkt hatte, war unbegreiflich für mich. Ich dachte an all die Menschen, die hier in der Bar saßen. So mancher von ihnen hatte sein armseliges Vergnügen daraus gezogen, mich wie einen Freak zu behandeln. »Wenn die wüssten, was hier wirklich los ist«, dachte ich schadenfroh. Ich schaute in die kleine Runde um mich herum und sah, wie der Steingeist dem Dackelmann nickend beipflichtete und die junge Zwergin, die aussah wie eine alte Dame, mit dem attraktiven Vampir flirtete, und musste grinsen.
»Ich bin fast so etwas wie normal«, fuhr es mir bei ihrem Anblick durch den Kopf, und Hoffnung machte sich breit an dem dunklen Fleck in mir, der einsam war und es satthatte, sich als Außenseiter seines eigenen Lebens zu fühlen. »Verdammt! Verglichen mit ihnen bin ich ja schon fast langweilig normal …«
Jemand berührte meine Hand. Es war Marcus, der mir einen Fünf-Dollar-Schein hinhielt. »Wieso suchst du dir nicht ein paar Lieder von der Jukebox aus?«, schlug er vor.
Lächelnd nahm ich das Geld. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Marcus mich mit diesem Trick nur loswerden wollte, ich nahm an, er ahnte einfach, wie verloren ich mir bei ihrem Gespräch vorkommen musste.
»Dann wollen wir mal«, sagte ich. »Danke.«
Er lächelte zurück, und ich sprang von meinem Barhocker. Die Jukebox stand an der Wand hinter uns, und ich wusste aus Erfahrung, dass sie eine ziemlich gute Musikauswahl umfasste, zumindest für meinen Geschmack. Es gab alle typischen Partyhits von Bands wie Aerosmith oder AC/DC und auch immer viele aktuelle Hits, die gerade im Radio auf und ab liefen. Außerdem gab es eine Reihe von Songs, die zwar weniger bekannt waren, die ich aber sehr gerne mochte.
Für fünf Dollar konnte man sich hier im Schweinestall zehn Songs aussuchen, und ich kapitulierte fast vor der großen Auswahl. Es waren so viele Lieder, und schließlich würde ich mit meiner Auswahl für die nächste halbe Stunde die Bar beschallen.
»Auf in den Kampf, Torero«, sprach ich mir selbst Mut zu und nahm die Herausforderung damit feierlich an.
Ich versuchte, eine Auswahl zu treffen, die jedes Genre berücksichtigte und zwischen schnellen und langsamen Stücken abwechselte. »Wie eine gute Mixkassette«, dachte ich, auch wenn heutzutage niemand mehr Mixtapes machte. Auf jeden Fall schmuggelte ich ein paar meiner Lieblingssongs von den Indigo Girls, von David Gray und R.E.M. hinein.
Ich brauchte ungefähr zehn Minuten, um meine Auswahl zu treffen, und als ich an meinen Platz zurückkam, unterbrachen die anderen ihr Gespräch. Ryu legte seine Hand an meine Taille, um mir auf den Barhocker zu helfen, was vollkommen überflüssig war und total sexy. Genau in diesem Moment ertönte das erste Lied aus den Lautsprechern der Jukebox: Great White mit »Once Bitten Twice Shy«.
»Ich glaub’s nicht, dass du ausgerechnet diesen Song ausgesucht hast!«, rief er lachend.
»Es ist eines meiner absoluten Lieblingslieder, und außerdem fand ich es ziemlich passend. Und wenn ich noch mehr davon trinke«, sagte ich und hielt mein Champagnerglas hoch, »dann kommst du noch in den Genuss meiner legendären Luftgitarren-Showeinlage.«
Ryu machte ein Gesicht wie die Grinsekatze. »Garçon!«, rief er, wobei er einen Finger in die Luft streckte. Und Marcus war so freundlich, eine weitere Flasche Prickelbrause zu bringen.
Ich wollte protestieren, aber Ryu winkte entschieden ab. »Ist doch ein schöner Abend«, sagte er. »Und du kannst einen schönen Abend gebrauchen. Man sieht dir ja schon von weitem an, dass du so angespannt bist wie eine Gitarrensaite.«
Also nahm ich, ohne zu murren, ein weiteres Glas in Empfang, und wir prosteten uns erneut zu. »Auf das Schweinestall«, sagte er und zwinkerte mir wieder auf diese verflixt anziehende Art zu. »Auf das Schweinestall«, stimmte ich ein, und dann tranken wir beide einen kräftigen Schluck.
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Ich genoss die Musik und den prickelnden Geschmack meines dritten Glases Champagner überhaupt. An was Ryu dachte, wusste ich nicht. Dann verwickelte Miss Carol mich in ein Gespräch über den Buchladen. Wir unterhielten uns darüber, wie großartig Grizzie und Tracy waren und welche Bücher sie demnächst bei uns bestellen wollte. Sie empfahl mir ein paar Titel, die ich aber schon im meiner Schmuddelschublade hortete - Grizzie hatte sie mir geschenkt. Ich versprach ihr, sie zu lesen, hatte meine Finger aber dabei verkreuzt. Ryu plauderte mit Marcus, nachdem Sarah ihn hinter der Bar abgelöst hatte, und ich glaube, sie sprachen über mich, denn sie schauten immer wieder herüber, um sicherzugehen, dass Miss Carol meine Aufmerksamkeit hatte.
Als dann ein weiteres meiner Lieblingslieder, »Romeo and Juliet« von den Killers, ertönte, erhob sich Russ und streckte mir einladend die Hand entgegen. »Tanzt du mit einem alten Hund wie mir?«, fragte er freundlich.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, also sagte ich einfach Ja. Er humpelte mit mir auf die Tanzfläche, und wir nahmen eine ziemlich förmliche Walzerhaltung ein. Der Song war zwar nicht für einen langsamen Tanz geeignet, aber ich brachte es nicht übers Herz, ihm das zu sagen. Während wir uns ungeschickt über die Tanzfläche schoben, wobei er so sehr hinkte, dass ich mir mehr wie seine Krücke vorkam als wie seine Tanzpartnerin, sprachen wir über den Morgen, als er Peters Leiche gefunden hatte. Er erzählte mir, dass er noch versucht hatte, Mr. Flutie abzulenken, aber in der Trageschlinge hatte er nicht viel ausrichten können, als sein Herrchen den Toten entdeckte. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich die Sache mit meiner Einmischung so sehr verkompliziert hatte, denn ich hatte den Eindruck, es wäre allen lieber gewesen, wenn die Behörden nicht involviert gewesen wären. Doch er zuckte gleichgültig mit den Schultern und meinte, ich solle mir deshalb keine Sorgen machen, da solche Dinge sowieso immer so diskret wie möglich behandelt würden.
Ich sagte ihm, dass mir, während wir tanzten, ein Gedanke gekommen war.
»Immer raus damit, mein Kind«, sagte Russ und lächelte mich gütig an.
»Rockabill ist ja kein besonders großes Städtchen, trotzdem scheinen nicht wenige von, äh … Ihresgleichen hier zu leben. Gibt es einfach so viele von Ihnen, oder ist Rockabill irgendwie besonders?« Ich dachte an Buffys Sunnydale und fragte mich, ob Rockabill eine Art Höllenschlund war. »Das würde dann auch Lindas und Stuarts Anwesenheit erklären«, dachte ich bitter.
»Nein, nein, Rockabill ist einfach nur Rockabill«, sagte der Dackelmann. »Und im Vergleich zu früher gibt es sowieso nur noch sehr wenige von uns. Aber diejenigen, die gerne unter Menschen leben, ziehen entweder Großstädte oder eben Orte wie Rockabill vor, in denen es nur wenige Einheimische, aber viele Touristen gibt. Die Anonymität der Großstadt hat den Vorteil, dass man dort einfach nur einer unter vielen ist, und in einem Touristenort kommt man in Kontakt mit den verschiedensten Leuten, ohne dass man zu eng mit den Einheimischen werden müsste. Viele von uns haben auch gern ihr eigenes Gebiet, also müssen wir uns verteilen. Aber Nell ist ziemlich großzügig und teilt ihr Territorium mit uns und garantiert sogar für unseren Schutz, also haben sich einige von uns in Rockabill niedergelassen.«
»So viel zu meiner Vermutung, Linda und Start könnten Dämonenbrut sein«, dachte ich enttäuscht.
Als das Lied vorüber war, verbeugte Russ sich galant vor mir und bedankte sich für den Tanz. »Ich danke Ihnen, Mister … Mister Russ«, erwiderte ich unsicher.
Sarah unterbrach unser unbeholfenes Gespräch, als gerade Pinks »U & Ur Hand« losdröhnte. »Kannst du auch Swing tanzen?«, fragte sie mich und nahm meine Hände.
»Nein, leider nicht.« Ich schüttelte den Kopf.
»Pech!«, sagte sie. »Versuch einfach, es mir nachzumachen und, wie Mick Jagger sagen würde: Hold on to your hat!«
Mit diesen Worten wirbelte sie mich auch schon herum.
 
Sarah war unglaublich kräftig. Was wirklich gut war, denn ich tat mein Bestes, um über meine Füße zu stolpern. Aber mit ihrer geduldigen Anleitung und weil sie mich hochheben und absetzen konnte, wo immer sie wollte, gelang mir schon bald wenigstens so etwas Ähnliches wie Swing zu tanzen.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte. Ich mochte das Lied, auf das wir tanzten, und ich konnte mir in dem Moment nichts Schöneres vorstellen, als mich zu dieser Musik zu bewegen, die so laut war, dass die Boxen dröhnten. Noch besser wurde das Ganze dadurch, dass Sarah so eine starke Partnerin war. Jedenfalls fühlte ich mich, als würde ich so gut tanzen, dass es mir nicht peinlich sein musste, also war es einfach nur purer Spaß. Nach kurzer Zeit war ich völlig außer Atem, und mir tat alles weh, aber ich wollte nicht, dass das Lied jemals aufhörte. Als es dann doch ausklang, umarmte ich sie begeistert und keuchte: »Danke!«, als habe sie mir gerade das Leben gerettet.
Sie kniff mir fröhlich in die Wange. »Ich danke dir«, sagte sie. »Wir haben schon so lange darauf gewartet, dich hier in unserer Bar einmal ausgelassen feiern zu sehen.« Dann drückte auch sie mich kurz an sich. »Jetzt muss ich aber wieder an die Arbeit«, meinte sie dann. »Und es sieht so aus, als wollte mich da jemand ablösen.«
Ich drehte mich um und sah, dass Ryu mit meinem Champagnerglas hinter mir stand. Ich nahm einen dankbaren Schluck, denn Swing tanzen machte durstig. Dann nahm er mir das Glas wieder ab, stellte es auf die Theke und streckte mir einladend die Hand entgegen.
»Stehe ich auf deiner Tanzkarte?«, fragte er verschmitzt.
»Hmm, lass mich mal sehen«, neckte ich ihn. Ich glaube, ich war schon etwas betrunken, denn Flirten fiel mir plötzlich so leicht wie nie.
»Und?« Er hob eine seiner dunklen Brauen und sah mich aus seinen goldbraunen Augen fragend an. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus.
»Ich denke, ich kann dich noch irgendwie dazwischenschieben. Für einen kleinen Tanz.«
Er machte einen Schritt auf mich zu, und plötzlich lag ich in seinen Armen. »Einfach so«, dachte ich und war überrascht von der Leichtigkeit, mit der es geschah. Der Champagner schien meine Hemmungen bereits im Schwitzkasten zu haben.
Das Stück, das gerade lief, war eines der heißesten Lieder, die man sich vorstellen konnte: David Grays »Debauchery« aus seinem Album A Century Ends. Es handelt von einem ziemlich betrunkenen Paar, das sich auf einer Fähre trifft und dann zu ihm geht, um weiterzutrinken und vor seinem Gaskaminofen Sex zu haben. Das mag zwar schrecklich klingen, aber irgendwie ist es auch witzig und erotisch zugleich. Außerdem knurrt David an einer Stelle wie ein Tier, und ich bekomme jedes Mal weiche Knie, wenn ich das höre.
Ryu und ich tanzten wie Teenager auf einem Schulball. Ich hatte meine Arme um seine Schultern geschlungen und er seine um meine Taille. Ich konnte jeden Zentimeter seines Körpers so intensiv an meinem spüren, als wäre er elektrisch geladen.
Eines allerdings konnte ich nicht fühlen, seine übersinnlichen Kräfte. Er umgab uns nicht mehr mit seiner Aura. Stattdessen tanzte er vor aller Augen mit mir. Dass es ihm nichts ausmachte, sich mit der Dorfhexe zu zeigen, war wie Balsam für mich. Deshalb warnte ich ihn auch nicht davor, dass dies wahrscheinlich keine so gute Idee war, wenn man bedachte, dass Stuart sich auch hier herumtrieb.
Ryu hob amüsiert die Brauen, als David Gray davon sang, wie er seine neue Freundin ihrer Kleider entledigt. Und als David sie mit Unmengen von Wein, dem klassischen Verführungsmittel, ermunterte, lachte er.
»Hübsche Musikauswahl«, sagte er und zog mich noch ein bisschen fester an sich.
»Ja, mir gefällt das Lied. Sehr.« Aber hallo, und wie es mir gefiel …
Ich legte meine Wange an seine Brust, damit ich ihm nicht in die Augen sehen musste. In sein schönes, schönes Gesicht.
Aber als ich sein Herz genauso laut klopfen hörte wie meines, hob ich doch wieder den Kopf. Der Klang seines Herzschlags hatte nämlich nicht gerade dazu beigetragen, den wilden Tanz meiner Hormone zu beruhigen.
Ich versuchte verzweifelt, mir ein Gesprächsthema aus dem Ärmel zu schütteln. Da gab es tatsächlich eine Sache, die mich beschäftigte …
»Ryu?«
»Ja?«, murmelte er. Seine Lippen berührten mein Ohrläppchen.
»Du hast gesagt, dass du … dass Vampire, Baobhan Sith meine ich, sich von Gefühlen wie Angst oder Lust nähren. Heißt das auch, dass ihr jagt, ich meine wirklich Jagd macht auf Menschen, auch wenn ihr sie dann nicht tötet?«
»Ha, was sagt ihr dazu, Hormone!«, dachte ich triumphierend. Sich Ryu vorzustellen, wie er verängstigte Frauen durch nächtliche Straßen verfolgte, war besser als eine kalte Dusche.
»Manche von uns tun das«, gab er zu. »Aber das Blut schmeckt immer nach den Gefühlen, die der Mensch gerade hat. Also ist es eine Frage der Vorlieben. Wie, ob jemand lieber Rotwein oder Weißwein trinkt. Ich für meinen Teil mag den Geschmack von Angst nicht.«
Ich dachte darüber nach, was dies im Klartext bedeutete, und meine Knie wurden ganz weich. Und David Gray hatte noch nicht mal geknurrt. Dann ist es also der Geschmack der Lust, den er mag, jubelte meine Libido.
Ryus Hand rutschte etwas tiefer und streichelte mir sanft über den unteren Rücken. Er massierte mich leicht und drückte meine Hüften gleichzeitig noch näher an sich.
Das Lied passte zu dem, was er tat, denn David Gray bat seine Partnerin auch gerade, näher zu kommen. Und dann knurrte David, und das verfehlte bei mir nie seine Wirkung.
Mit der anderen Hand schob mir Ryu eine Haarsträhne aus dem Gesicht und strich mir über die Wange. Dann glitt sie in meinen Nacken, und er neigte meinen Kopf leicht nach hinten, so dass sich mein Gesicht dem seinen zuwandte …
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich widerstehen sollte. Ich fragte mich, ob ich das Richtige tat. Aber er war witzig und schön und so anders, und er wusste um meine dunklen Geheimnisse und störte sich nicht daran … Ich betrachtete Ryus Gesicht, suchte nach der Antwort auf eine Frage, die ich nicht einmal zu stellen wagte.
Da nahm ich mit dem letzten bisschen meines Verstandes, das noch nicht außer Kraft gesetzt war, die Spitzen seiner scharfen Fangzähne wahr, die unter seiner Oberlippe hervorblitzten. »Ach du Schande!«, dachte der Teil von mir, der sich noch fragen konnte, wo sie hier wohl den Erste-Hilfe-Kasten aufbewahrten. Gleichzeitig fragte sich der Teil, der sich extrem zu Ryu hingezogen fühlte, hoffnungsfroh: »Heißt das, er mag mich?«
Doch meine widerstreitenden Gefühle verstummten abrupt, als ich Ryus Lippen auf meinen spürte. Es war nur eine flüchtige Berührung, so sanft wie von einer Feder. »Er mag mich!«, jubelte ich innerlich. Und wenn ich ehrlich war, mochte ich ihn auch … also wappnete ich mich für das, was nun kommen würde.
Aber noch bevor Ryus Lippen die meinen noch einmal berühren konnten, wurden wir von einer wütenden, verächtlichen Stimme unterbrochen.
»Nette Vorstellung, Schlampe!«
Natürlich war es Stuart.
Ryus Arme fühlten sich plötzlich wie aus Stahl an, aber ich schaffte es irgendwie, mich aus ihnen zu lösen und umzudrehen. Stuart stand hinter mir und hatte seine Kumpels im Schlepptau wie in einem schlechten Wildwestfilm. Er funkelte mich an, als wolle er gleich auf mich losgehen, was er vermutlich auch am liebsten getan hätte.
»Hör zu, Arschloch«, sagte er zu Ryu, »ich weiß ja nicht, was dir dieses Miststück erzählt hat, aber ich hoffe, du hast eine gute Lebensversicherung. Sie bringt nämlich gerne ihre Freunde um.«
Ich erhaschte einen Blick auf Ryus Gesicht, als er einen Schritt auf den pöbelnden Kerl zu machte, und konnte nicht glauben, dass Stuart wirklich so dummdreist war, sich mit ihm anzulegen. Ryu wirkte nicht etwa nur ein bisschen bedrohlich, er sah zum Fürchten aus.
»Er ist eben ein richtiger Vampir«, dachte ich bewundernd.
Eine von Stuarts wenigen guten Eigenschaften ist seine Konsequenz. Und in diesem Fall verhielt er sich konsequent dumm. Anstatt den Rückzug anzutreten wie seine Kumpels, missachtete er alle Warnsignale.
Stuart starrte mich an, und seine Stimme troff nur so vor Verachtung, als er sagte: »Eigentlich hätte es dich treffen sollen in dieser Nacht, du blöde Schlampe.«
Er hatte kaum den letzten Ton über die Lippen gebracht, da lag er auch schon auf dem Boden. Ryu hatte ihn mit einem einzigen Schlag kalt erwischt. Alle bis auf zwei von Stuarts »Freunden« hatten sich bereits verdrückt.
»Schafft ihn bloß hier weg«, knurrte Ryu die beiden an. Etwas sagte mir, dass er diesmal nicht die Hilfe seiner Aura brauchte, damit sie ihm gehorchten. »Und wenn ihr uns nachher draußen auflauern solltet, dann breche ich euch alle Knochen. Ist das klar?«
Stuarts Freunde nickten, packten ihn auf beiden Seiten unter den Armen und schleppten ihn davon so schnell sie konnten. Für einen Moment herrschte in der Bar Totenstille. Doch als Stuart und seine zwei Helfer durch die Tür verschwunden waren, kehrten alle wieder zu ihren Unterhaltungen zurück, als sei nichts geschehen. Man war es gewohnt, dass Stuart sich wie ein Vollidiot benahm.
»Geht es dir gut?«, erkundigte sich Ryu. Dabei nahm er meine Hand und schaute mir prüfend in die Augen.
»Ja«, log ich. Bisher war es so ein schöner Abend gewesen, und Stuart hatte ihn ruiniert.
»Möchtest du noch etwas trinken?«, fragte er.
»Nein. Kannst du mich bitte nach Hause bringen? Tut mir leid.« Plötzlich war mir zum Weinen zumute. Eine Runde Schwimmen wäre jetzt genau das Richtige. Und dann vielleicht noch eine Runde Heulen. »Was hast du erwartet, Jane?«, sagte ich mir, wütend auf mich selbst. Rockabill würde mich nie vergessen lassen, was passiert war.
»Natürlich. Ich bringe dich nach Hause«, sagte Ryu, obwohl er nicht gerade glücklich darüber wirkte.
Ich wartete an der Tür, während er die Rechnung beglich und meine Sachen holte. Meinen neu gewonnenen Freunden winkte ich zum Abschied bloß schwach zu. Ich wollte nicht zu ihnen gehen und mir anhören, wie sie sich für Stuarts Verhalten entschuldigten. Es war zu peinlich und schrecklich traurig obendrein, denn ich befürchtete, dass dieser Hauch Freiheit, die Möglichkeit, meiner Vergangenheit zu entfliehen, die ich heute Abend verspürt hatte, doch nur eine Illusion war.
Ryu wollte zuerst überprüfen, ob Stu und seine Gang nicht draußen am Parkplatz auf der Lauer lagen, um sich für die erlittene Schmach zu rächen. Als ich an der Tür wartete, bemerkte ich, dass der unheimliche, schmierige Typ mit der dicken Brille, der heute Morgen mit der Touristengruppe im Buchladen gewesen war, an einem kleinen Tisch saß, gleich hinter dem großen, an dem Stuart und seine Freunde gesessen hatten. Anscheinend hatte Brillenschleiche der Old-Sow-Strudel so gut gefallen, dass er über Nacht in Rockabill bleiben wollte. Seine Brillengläser reflektierten das Licht, aber ich wusste, dass er mich beobachtete. Vor Bitterkeit krampfte sich mein Magen zusammen. »Ich hoffe, wir haben dir eine gute Vorstellung geliefert, Penner«, dachte ich.
Ich stieß die Tür nach draußen auf, denn ich nahm an, dass Stu und seine Freunde sich aus dem Staub gemacht hatten. Schließlich waren seine Kumpels wenigstens ein bisschen heller als er.
Den kurzen Weg von der Bar zu mir nach Hause saßen Ryu und ich schweigend im Auto. Als wir bei mir angekommen waren, stieg Ryu aus und begleitete mich zur Tür.
»Danke«, sagte ich. »Ich hatte einen sehr schönen Abend. Es tut mir leid, dass Stuart uns alles verdorben hat …« Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen und senkte den Kopf, damit er es nicht sehen konnte.
Aber Ryu legte seine Hand unter mein Kinn und hob meinen Kopf, so dass sich unsere Blicke wieder trafen. »Ich kann nachempfinden, wie gefangen du dich hier fühlen musst. Und ich kann dir sagen, mir gefällt das gar nicht.«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, meine Tränen wegzublinzeln. »Ich bin nicht gefangen«, log ich gepresst. »Schließlich sind da noch mein Vater und Grizzie und Tracy, und jetzt weiß ich ja auch von Amy und Nell und …« Ich verstummte. Ich merkte, dass ich zu bemüht protestierte.
Ryu nahm meine Hand und führte sie an seinen Mund. Ich spürte seine Lippen an meiner Handfläche.
»Du hast mehr verdient«, sagte er. »Viel mehr. Mehr vom Leben und mehr Glück.«
»Vielleicht auch nicht«, flüsterte ich, und dann brach ich doch in Tränen aus.
Er wischte sie mir mit den Daumen fort, nahm sanft mein Gesicht in seine Hände, und wieder fühlte ich seine Lippen auf meinen. Als er merkte, dass ich nicht reagierte, löste er sich sofort von mir.
Er strich meinen Mantel glatt und lächelte mich traurig an.
»Gute Nacht, Jane. Wir sehen uns morgen nach der Arbeit. Ich hole dich im Buchladen ab.«
Ich nickte nur, denn ich war zu erschöpft, um etwas zu sagen.
Erst als er davongefahren war, ging ich ins Haus. Mein Vater schlief schon, alles war still. Ich ging durch die Vordertür hinein und durch die Hintertür gleich wieder hinaus.
Ich musste schwimmen.