KAPITEL 15
016
Du hast kein Recht, Jane mit in den Verbund zu nehmen«, knurrte Anyan. Ich trat einen Schritt zurück, aber Ryu hielt seine Stellung. »Sie ist nicht bereit für diesen Ort - zumindest noch nicht.«
»Sie ist sehr wohl so weit, in die Gesellschaft eingeführt zu werden«, erwiderte Ryu kühl. »Und außerdem ist es ihr gutes Recht. Es wird Zeit, dass sie das Volk ihrer Mutter kennenlernt.«
Anyan schnaubte verächtlich. »Die Bewohner des Verbunds sind genauso wenig das Volk ihrer Mutter, wie die Insassen eines Irrenhauses etwas mit ihrem Vater gemein haben«, sagte er.
»Nur, weil du dem Hof den Rücken gekehrt hast, müssen wir nicht dasselbe tun.« Ryus Stimme klang vollkommen sachlich, aber sein Körper war angespannt. Anyan knurrte mit aufgestellten Nackenhaaren. Die Spannung zwischen den beiden war deutlich spürbar, man hätte sie auf ein Brot schmieren und essen können.
»Junglinge«, mischte Nell sich beschwichtigend von ihrer Veranda aus ein, auf der sie gelassen vor sich hin schaukelte. »Bevor ihr euch jetzt die Köpfe einschlagt, solltet ihr besser mal Jane fragen, was sie will.«
Mir wurde angst und bange, als mich zwei Augenpaare fragend anstarrten. Ryu richtete seine goldbraunen Augen erwartungsvoll auf mich, als würde er meine Antwort bereits kennen. Und Anyans graue Augen sahen einfach nur besorgt aus.
Ich wusste, es war verrückt, einem Typen zu vertrauen, den ich kaum kannte, aber es gab so viele Gründe, warum ich es wollte, dass sie meine Bedenken einfach überwogen. Wie oft bekam ich schon die Möglichkeit, das Volk meiner Mutter kennenzulernen und mehr über meine Herkunft zu erfahren? Außerdem war ich schon so lange nicht mehr aus Rockabill herausgekommen. Der Gedanke, einmal Jane True, die Abenteuerlustige, zu sein, war einfach zu verlockend. Ganz abgesehen davon hoffte ich natürlich, dass ich vielleicht, ganz vielleicht, auch meine Mutter in diesem Bund-Dingens treffen würde …
Aber meine geheimen Beweggründe musste ich den Jungs - oder besser dem Vampir und dem riesigen, sprechenden Hund - ja nicht auf die Nase binden.
»Ähm …«, fing ich an und räusperte mich dann erst einmal geräuschvoll. »Ich habe mir freigenommen und alles gepackt, also sollte ich jetzt auch mitfahren und die ganze Sache hinter mich bringen.«
Ziemlich dusselige Ansage, ich weiß.
Doch meine lahme Ausrede ließ Ryu bis über beide Ohren grinsen, und er warf Anyan einen fiesen, triumphierenden Blick zu. Der Hund schüttelte nur missbilligend den Kopf und trottete hinaus auf die Veranda. Dort legte er sich wie jeder x-beliebige Hund in einen Flecken Sonne und fing an zu dösen. Da er sich seit der Nacht, in der Gretchen gestorben war, nicht mehr die Mühe gemacht hatte, mit mir zu sprechen, verstand ich nicht, warum er so besorgt um mich war. Aber vielleicht interpretierte ich sein Verhalten auch völlig falsch, und eigentlich handelte es sich um pure Verachtung. Wahrscheinlich dachte er, ich sei nur ein jämmerlicher kleiner Halbling, den die Alfar bei lebendigem Leibe auffressen würden.
»Werden mich die Alfar wirklich bei lebendigem Leibe auffressen?«, fragte ich mich besorgt bestimmt zum vierten Mal an diesem Tag.
Ryu und ich hatten auf dem Weg nach Quebec in Nells Häuschen vorbeigeschaut, um etwas abzuholen. Anscheinend wurde es in diesem geheimnisvollen sogenannten Verbund erst am Wochenende interessant, und Ryu wollte noch etwas Zeit mit mir allein verbringen, bevor wir dorthin fuhren. Also hatte er mich gefragt, ob ich zunächst für ein paar Tage mit ihm nach Quebec fahren wolle, was praktisch auf unserem Weg lag. Dafür brauchte ich allerdings mindestens eine Woche Urlaub, also war ich heute Morgen gleich im Read it and weep vorbeigegangen und hatte Grizzie und Tracy gefragt, ob sie etwas dagegen hatten. Grizzie hatte gesagt, ich könne ruhig fahren unter der Bedingung, dass ich Fotos machte. Und Tracy hatte schnell hinzugefügt: »Sie meint von Kirchen und so« und Grizzie böse angefunkelt. Daraufhin hatte Grizzie geschnaubt: »Scheiß auf die Kirchen, ich will Fotos von deinem Kerl sehen und zwar nackt!« Aber in Wahrheit freuten sich beide riesig darüber, dass ich mit Ryu wegfuhr, und sagten mir, ich könne mir so viel Zeit lassen, wie ich wolle. Und obwohl es mir leidtat, dass ich so kurzfristig Urlaub nahm, hatte ich kein richtig schlechtes Gewissen, denn in den ganzen fünf Jahren, die ich nun schon im Read it and weep arbeitete, hatte ich bisher gerade mal zwei Tage freigenommen.
Meinen Vater allein zu lassen, fiel mir dagegen ziemlich schwer. Ich hatte mich mit ihm zusammengesetzt und ihm erst einmal all die Gründe aufgezählt, die dagegen sprachen, dass ich mit Ryu wegfuhr: Mein Vater brauchte mich. Wer würde kochen? Oder einkaufen? Oder saubermachen? Außerdem würde er bestimmt nicht daran denken, seine Medikamente zu nehmen und so weiter. Mein Vater hatte mich reden lassen und dann gesagt: »Fahr einfach, Jane. Ich möchte, dass du fährst. Ich möchte, dass du aufhörst, dir Gedanken darüber zu machen, dass du mich vernachlässigen könntest. Du bist schließlich nicht deine Mutter; du kommst ja wieder. Es wird schon schiefgehen. Ich werde nicht verhungern und sogar an meine Pillen denken. Ich bin zwar nicht mehr so kräftig wie früher, aber noch lange kein Invalide. Außerdem sind da ja noch meine Jungs, die kommen vorbei, falls ich Hilfe brauche.«
Ich hatte betroffen geschwiegen, weil er meine Mutter erwähnt hatte. War das wirklich vielleicht insgeheim meine Angst? Dass mich irgendetwas von hier fortziehen würde wie sie? Tief drinnen wusste ich, dass meine Mutter mich und meinen Vater geliebt hatte, und trotzdem war sie eines Tages einfach verschwunden. Hatte ich vielleicht Angst, dass ich dasselbe tun würde?
Mein Vater hatte seine Hand auf meine gelegt und gefragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich hatte nicht gewusst, was ich antworten sollte, und außerdem hatte ich mit den Tränen zu kämpfen. Weshalb ich mich den ganz realen Fragen zuwandte: »Versprichst du mir, dass du deine Medikamente nehmen wirst?« Zur Antwort drückte er nur meine Hand und nickte lächelnd.
Packen dagegen war ein Kinderspiel gewesen. Vorher wusch ich meine »besten« Klamotten, die Ryu mittlerweile schon alle an mir gesehen hatte. Aber für eine Reise nach Quebec würde es schon reichen, dachte ich. Dann nahm ich die alte Reisetasche meines Vaters und verstaute darin ganz vorsichtig die beiden Outfits, die Ryu mir gekauft hatte, in der Hoffnung, dass sie für den Alfar-Verbund passend wären. Ich packte außerdem das rote Kleid meiner Mutter ein, zusammen mit einem Paar schwarzer Fersenriemchen-Sandaletten mit kleinem Absatz, die ich in ihrem Schrank gefunden hatte. Bei dem Gedanken, dass meine Mutter das Kleid bei Iris gekauft hatte, musste ich lächeln. Danach galt es nur noch, Kosmetika und Make-up in meinem Kulturbeutel zu verstauen, und schon konnte es losgehen. Am Morgen war ich extra lange schwimmen gewesen. Da ich nicht wusste, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit haben würde, in den Atlantischen Ozean zu tauchen, konnte ich gar nicht genug bekommen. Aber ich spürte noch immer die Energie bis unter die Haut. Es fühlte sich ein bisschen so an wie sechs doppelte Espressi. Allerdings hatte ich keine Ahnung, was ich mit all dieser Energie anfangen sollte.
»Noch etwas, das ich Ryu fragen muss«, dachte ich. Es gab so viele Gründe, warum ich mich auf dieses Wochenende mit ihm freute.
Als ich anfing, mich Tagträumen über diese Gründe hinzugeben, kam mir etwas in den Sinn, das mich erröten ließ. Kurz bevor Ryu mich abgeholt hatte, war ich mit meiner Reisetasche noch einmal nach oben gerannt und hatte meine Schmuddelschublade aufgezogen. Nur diesmal hatte ich zur Abwechslung etwas herausgeholt, statt etwas darin zu verstauen.
Ich rutschte nervös hin und her und sah verstohlen zur Seite. Ich hoffte, dass Anyan, der als Einziger mit mir auf der Veranda war, meine roten Wangen nicht bemerkt hatte. Ryu war mit Nell ins Haus gegangen, und ich hatte mich auf die Stufen neben Anyan gesetzt. Doch der riesige Hund schien immer noch entschlossen, mich zu ignorieren, was mich nur noch nervöser machte.
»Sei vorsichtig, Jane«, sagte er plötzlich, ohne mich anzusehen. Wenn er mich nicht mit Namen angesprochen hätte, hätte ich gedacht, er murmelte nur so in sich hinein.
»Wie bitte?«, fragte ich. Ich würde es ihm mit seinem unhöflichen Verhalten nicht auch noch leichtmachen.
»Bitte, sei einfach nur vorsichtig. Die Alfar und ihr Hof sind gefährlich. Du bist als Mensch aufgewachsen - ihre Art ist nicht deine Art.«
»Ryu wird schon auf mich aufpassen«, sagte ich und ärgerte mich über den ungewollt trotzigen Klang meiner Worte.
»Ryu wird tun, was das Beste für Ryu ist«, warnte mich Anyan und hob nun doch endlich den Kopf von den Pfoten. »Er würde dir nicht wehtun. Noch würde er es freiwillig zulassen, dass andere dir schaden. Aber er wird nicht auf dich aufpassen.« Anyans Stimme hatte sich die ganze Zeit sehr ruhig und gefasst angehört, aber jetzt klang sie traurig.
Ich legte ihm die Hand auf den Kopf und fing an, ihn hinter den Ohren zu kraulen. Ich versuchte, es mir nicht zu Herzen zu nehmen, als ich spürte, wie er sich verspannte. Er war eben ein komplizierter Hund.
»Danke«, sagte ich zu ihm. »Ich werde aufpassen, versprochen.« Dann zog ich meine Hand zurück, denn ich spürte, dass er nicht von mir gestreichelt werden wollte.
In diesem Moment erschienen Ryu und Nell in der Tür hinter uns. Ryu trug etwas Schweres in einer Plastiktüte bei sich, die er auf dem Rücksitz des Wagens verstaute, wo sich auch schon mein Gepäck befand. Ryu hatte mich nichts in den Kofferraum packen lassen, und ich hoffte, dass wir nicht irgendwelche toten Kobolde mit nach Kanada nahmen.
Dann stiegen wir ins Auto und rauschten in den Nachmittag davon. Trill und Nell winkten uns zum Abschied nach, aber als ich mich umsah, stellte ich fest, dass der Barghest verschwunden war.
 
Das Hotel in Quebec war unglaublich. Mein Vater und ich waren nur selten in den Urlaub gefahren und wenn, dann gingen wir immer campen. Und das Le Château Bonne Entente - was, glaube ich, so viel heißt wie »Oui, selbstverständlich haben wir auch Nierenpastete« - unterschied sich gravierend von unserem alten Zweimannzelt. Es war eigentlich weniger ein Hotel, sondern eher ein herrschaftliches Anwesen. Es verfügte sogar über einen eigenen Pool, Golfplatz, einen Wellnessbereich und all das noble Beiwerk, auf das die Reichen und Gebotoxten sonst noch so Wert legen.
Als Ryu eincheckte, stand ich etwas abseits und versuchte, nicht zu sehr aus der Rolle zu fallen. Er war natürlich Stammkunde, und das Hotelpersonal erkannte ihn sofort. Mir fiel auch auf, dass einige weibliche Angestellte ihn besonders gut zu kennen schienen, und ich musste einen Anflug von Eifersucht unterdrücken. Zum ersten Mal, seit ich Ryu kannte, hatte ich Verständnis dafür, welche Folgen seine Lebensweise hatte. Er musste Energie gewinnen, indem er das emotionsgeladene Blut von Menschen trank - obwohl anscheinend auch ein Halbling wie ich den Zweck erfüllte -, was wohl so viel bedeutete wie, dass Sex für ihn nicht nur reiner Sex sein konnte. Er diente auch seiner Ernährung. Also musste er ihn, egal, unter welchen Umständen, regelmäßig haben, um zu überleben.
Aber auch die Tatsache, dass diese Damen nur so etwas wie ein Big Mac für Ryu gewesen waren, machte die schmachtenden Blicke, die sie ihm zuwarfen, für mich nicht leichter zu ertragen. Genauso wenig wie ihre abschätzigen Blicke, wenn sie mich ansahen. Quebec war acht Autostunden von Rockabill entfernt - auch wenn Ryu, die Rakete, die Strecke in nur sechs Stunden zurückgelegt hatte -, und ich hatte mich für die lange Reise extra bequem angezogen und nicht mit dem Hintergedanken, die Quebecerinnen zu beeindrucken. Ich trug einen grünen Pulli und meine Chucks in der gleichen Farbe, die ich sogar aus diesem Anlass geputzt hatte, und meine bequemsten Jeans. Ich wusste, ich sah aus wie eine Erstsemestlerin auf dem Sprung in die Bibliothek, die nichts Besseres zu tun hatte, als sich auf irgendein langweiliges Streberfach vorzubereiten. Mit sechsundzwanzig war ich bestimmt älter als einige der Frauen, die mich musterten, als überlegten sie, ob sie mir die Haare ausreißen sollten, aber trotzdem wirkten sie alle um Lichtjahre reifer und kultivierter als ich. Unter ihren geschminkten Blicken verspürte ich plötzlich ein übermächtiges Verlangen, mich sofort zu verkriechen. Ich weiß auch nicht, warum.
Falls sich Ryu überhaupt im Klaren war über die vibrierende Spannung, die seine Ankunft verursacht hatte, dann ließ er sich nichts davon anmerken. Er plauderte auf Französisch schmeichelnd erst mit der Rezeptionistin und dann der Concierge. Danach kam er zu mir, nahm meine Hand und küsste sie auf die Innenfläche, bevor er mich zum Aufzug führte. Unser Gepäck würde man uns aufs Zimmer bringen lassen. Wenn er ein Schwert gezückt und mir den Kopf abgeschlagen hätte, dann hätte das weibliche Personal, das sich mittlerweile an der Rezeption versammelt hatte, nicht entsetzter dreinschauen können. Es würde mich nicht wundern, wenn sie sich alle gleich am nächsten Tag geschlossen auch Chucks zulegen würden.
Im Aufzug zog Ryu mich an sich und küsste mich leidenschaftlich. Ich fühlte mich leicht schmuddelig und erschöpft nach der langen Fahrt, aber mein Körper reagierte dennoch auf seine Küsse. Als der Aufzug unser Stockwerk erreichte, waren wir beide bereits leicht zerzaust.
»Das ist es«, sagte Ryu und öffnete die Zimmertür mit einer Schlüsselkarte. Ich hatte die Rezeptionistin sagen hören, dass wir die »Cocooning-Suite« bekämen. Doch trotz der Erwartungen, die der Name weckte, war ich nicht auf das vorbereitet, was mich hinter dieser Tür erwartete.
Zuallererst wurde mein Blick von dem riesigen Himmelbett in Bann gezogen, auf dem sich Unmengen von Kissen türmten und das so groß war, dass halb Rockabill darin Platz gefunden hätte. Gegenüber vom Bett stand ein Lounge-Sofa mit Ottomane.
Dann fiel mein Blick auf die Badewanne, die sich aber nicht im Badezimmer befand, sondern direkt neben dem Himmelbett.
Völlig fasziniert starrte ich die Wanne an und sah mich dann suchend nach dem richtigen Bad um. War die Wanne im Zimmer etwa die einzige Waschgelegenheit in dieser Suite?
Natürlich nicht. Es gab auch noch ein großes, hochmodernes und voll ausgestattetes Bad. »Meine Güte«, dachte ich aufgeregt, »die Wanne im Zimmer ist nur für den Sex.«
Ryu ging zum Bett hinüber und legte sein Portemonnaie und die Schlüssel auf dem Nachttisch ab. Ich stand noch immer staunend in der Tür, als ich ein dezentes Räuspern hinter mir hörte. Es war der Hotelpage mit unserem Gepäck, und ich machte rasch einen Schritt zur Seite. Während Ryu dem Pagen bedeutete, unser Gepäck neben dem Bett abzustellen und ihm Trinkgeld gab, betrat ich die Suite, als müsse ich fürchten, dass jeden Augenblick jemand hinter den Möbeln hervorspränge und mich zu Tode erschreckte. Ich ging zum Fenster und zog die schweren Vorhänge auf. Der Blick in den beleuchteten Park des Châteaus war zauberhaft.
Ich hörte, wie der Page die Tür hinter sich zuzog, und das Geräusch, das darauf folgte, überraschte mich kaum. Es war das Geräusch von Wasser, das in eine Badewanne eingelassen wird. Dann hörte ich, wie Ryu etwas öffnete, und plötzlich erfüllte ein köstlicher Duft den Raum - Schaumbad.
»Es ist nicht das erste Mal, dass er das macht«, warnte mich meine Tugend, aber meine Libido verdrehte bei dieser Spaßverderber-Ansage nur genervt die Augen.
Starke Arme schlangen sich von hinten um meine Taille, und dann spürte ich Ryus Zähne an meinem Nacken. Der sanfte Biss ging in einen Kuss über, der bis zu meinem Ohr hinaufwanderte, während sich seine Hände auf meine Brüste legten. Als ich mich zu ihm umdrehte, weil ich seine Lippen auf meinen spüren wollte, zog er mir mit einem Griff den Pullover aus.
Er schob mich zur Badewanne, und unsere restliche Kleidung landete neben meinem Pulli auf dem Boden. Das Wasser war wunderbar warm, als ich hineinstieg, und es roch nach Birne. Die Wanne war groß genug, dass wir beide bequem darin Platz hatten. Wir hatten so viel Spaß, wie ich zuletzt als kleines Mädchen beim Baden hatte - allerdings unterschied sich unser Spaß deutlich von dem in meinen Kindheitserinnerungen. Es gibt tatsächlich Badespielzeug, das noch spannender ist als Quietscheentchen.
 
Die nächsten drei Tage waren herrlich. Alle behandelten mich mit Respekt: Es gab kein Getuschel hinter vorgehaltener Hand oder vielsagende Blicke zwischen zwei Tratschtanten oder Finger, die verstohlen auf mich zeigten. Und falls doch, dann steckten Frauen dahinter, die neidisch auf meine Beziehung mit Ryu waren, aber niemand, der sich über meine Vergangenheit das Maul zerriss.
Während Ryu schlief, verbrachte ich die Morgen im beheizten Außenpool, und obwohl es kalt draußen war, schien sich niemand darüber zu wundern. Ich war einfach ein Gast, der so gern schwimmen ging, dass er auch die winterlichen Temperaturen nicht scheute. Allerdings war das Schwimmen im Pool lange nicht so spannend für mich wie im Atlantik, und es wäre mir weitaus lieber gewesen, das Becken wäre nicht beheizt gewesen. Trotzdem genoss ich es sehr. Nicht zuletzt deshalb, weil ich mich unter dem Deckmantel der Anonymität daran erfreuen konnte.
Am frühen Nachmittag, wenn Ryu aus seinem Koma erwachte, flanierten wir durch die Stadt und taten, was man als Tourist eben so tat. Ich machte Unmengen von Fotos und schrieb Postkarten an meinen Vater, Grizzie und Tracy und kaufte noch ein paar mehr, die ich auf dem Rückweg noch abschicken wollte, damit es so aussah, als hätten wir die ganze Woche in Quebec verbracht. Danach aßen wir irgendwo zu Abend, gingen noch auf den einen oder anderen Drink und kehrten schließlich ins Hotel zurück, weil es Zeit für ein gemeinsames Bad wurde. Meine Güte, ich liebte unsere täglichen Planschereien in der Badewanne!
Der letzte Tag im Château war der allerbeste, obwohl wir wussten, dass wir am nächsten Morgen an den Hof der Alfar fahren mussten. Wir sparten uns das Touristenprogramm. Gleich nachdem er am frühen Nachmittag aufgestanden war, nahm mich Ryu mit in den weitläufigen Spa-Bereich des Hotels, wo ich mir das Komplettprogramm gönnte: Gesichtsbehandlung, Maniküre, Pediküre und eine unglaubliche Massage mit heißen Steinen. Ich wollte gar nicht wissen, was das kostete, aber die Tatsache, dass auch er sich für eine Maniküre, eine Rasur und einen Haarschnitt entschied, gab mir ein bisschen besseres Gefühl. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so verwöhnen ließ, aber ich fühlte mich wirklich wie neugeboren, als ich aus dem Spa kam. Wie ein sehr glückliches Neugeborenes, wenn man es genau nimmt.
Wir aßen auch im Hotel zu Abend, und ich trug das rote Wickelkleid meiner Mutter. Es war von Diane von Fürstenberg, ein Name, den sogar ich kannte, und außerdem der Inbegriff unaufdringlicher Eleganz. Auch mit dem Make-up hatte ich mir viel Mühe gegeben und mich an meine eigene Version von Smoky Eyes gewagt. Es war mir sogar ganz passabel gelungen, obwohl es eher »leicht verschmiert« als »smoky« aussah. Aber ich fand es trotzdem ganz hübsch. Ryu, der einen großartigen dunkelgrauen Anzug mit schwarzem Hemd und ohne Krawatte trug, hatte noch nie besser ausgesehen. Und das wollte was heißen.
Wir ließen uns mit dem Essen viel Zeit. Als Vorspeise bestellten wir Austern, einer meiner Lieblingsleckerbissen. Wir beträufelten sie mit frischem Zitronensaft und in Essig eingelegten gehackten Zwiebeln. Für mich schmeckten sie wie die Essenz des Meeres selbst: salzig, frisch, lecker. Dann hatten wir köstliche Sashimi-Häppchen, die ganz klassisch mit Wasabi, Sojasoße und eingelegten Ingwerraspeln serviert wurden. Man musste kein halber Seehund sein, um diesen Fisch genießen zu können, er war fangfrisch und absolut vorzüglich. Als Hauptgericht teilten wir uns ein riesiges blutiges Filetsteak, das ausgesprochen saftig war und mit dem ich wohl meinen Eisenhaushalt ausgleichen sollte. Bei Steak hielt ich es wie der Wu-Tang-Clan: Baby, I like it raw.
Zum Nachtisch bestellten wir eine Auswahl an sündigen süßen Köstlichkeiten, die auf der Karte unter der Rubrik »Sinnliche Desserts« geführt wurden. Obwohl dieser Hinweis in unserem Fall so überflüssig war wie ein Kropf. Unter dem Tisch spielte ich bereits, seit der Ober uns das Steak gebracht hatte, mit dem nackten Fuß zwischen Ryus Beinen herum, und mittlerweile konnte er kaum noch sprechen, so stark waren seine Fänge schon hervorgetreten. Trotzdem genossen wir die wohlig quälende Vorfreude. Zu wissen, dass unser Zimmer nicht weit war, wir uns für den Moment aber noch zurückhalten mussten, war mindestens ein genauso starkes Aphrodisiakum wie die Austern, die wir zur Vorspeise gegessen hatten.
Nachdem wir unseren Nachtisch verspeist und den Portwein getrunken hatten und sich jeder von uns noch hastig ein Tässchen Espresso eingeflößt hatte, faltete ich demonstrativ meine Serviette zusammen und schlüpfte wieder in meinen Schuh. Ryu sah mich an, während ich aufstand, mich dann zu ihm hinunterbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er nickte.
Ich ließ ihn im Restaurant zurück und ging schon einmal vor in unser Zimmer. Dort packte ich in aller Ruhe die kleine Kostbarkeit aus, die noch in meiner Reisetasche verborgen war. Ich schüttelte sie aus und hängte sie behutsam auf einen Bügel, den ich mit ins Badezimmer nahm, so dass der Dampf des heißen Wassers aus der Dusche die Knitterfalten wieder verschwinden lassen würde, die in der Reisetasche entstanden waren.
Nachdem ich geduscht und mein Make-up aufgefrischt hatte, streifte ich das nun geglättete rote Seidennegligé über. Als ich mich im Spiegel betrachtete, lächelte ich zufrieden. Mit diesem edlen Stück hatte Grizzie mir nicht nur ein nettes Geschenk gemacht, sondern mitten ins Schwarze getroffen. Das Kleid passte wie angegossen.
Ich kämmte mir noch die Haare und trat dann aus dem Bad. Das Licht im Zimmer war gelöscht, und meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Doch dann erkannte ich Ryu, der bereits reglos wie eine Statue auf dem Sofa saß. Er hielt sich die Hand vor die Augen, aber ich wusste, dass seine Aufmerksamkeit ganz auf mich gerichtet war.
Ohne zu sprechen, streckte er die Hand nach mir aus. Ich ging langsam auf ihn zu. Ich konnte mein Blut pulsieren hören. In diesem dunklen, edlen Hotelzimmer, in dem Ryu mir so reglos gegenübersaß, war ich plötzlich doch nervös. Ich fühlte mich wie in der ersten Nacht, die wir miteinander verbracht hatten. Alles, was mir mittlerweile schon so vertraut erschienen war, fühlte sich nun wieder ganz neu und fremd an.
Da nahm Ryu meine Hand und presste sie an seine Lippen. Ein wohliger Schauder der Erwartung lief mir über den Rücken. Dann legte er seine Hände auf meine Hüften und atmete meinen Geruch ein. Dabei hob er langsam den Blick. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie etwas gesehen, das so sexy war. »Er weiß wirklich, was er da tut«, zischte mir meine bissige innere Stimme zu.
Er strich mir mit beiden Händen über die Hüften und genoss das kühle Gefühl der Seide auf der Haut genauso wie ich. Dann zog er mich zu sich hinunter, so dass ich quer über seinen Oberschenkeln zum Sitzen kam, mein Po bequem auf seinen Schoß gebettet, und er mich in seinen starken Armen wiegen konnte.
Mit einer Hand strich er langsam an meinem Oberkörper entlang hinunter - von den Schlüsselbeinen, über meine Brüste bis zum Bauch. Sein Blick folgte seinen wandernden Fingern. Als er schließlich etwas sagte, war seine Stimme vor Verlangen ganz heiser.
»So sollte dein Leben sein...«, flüsterte er und sah mir dabei tief in die Augen. »Du solltest in Seide gehüllt werden...« Mit dem Finger der anderen Hand strich er mir über die frisch geschminkten Lippen, die sich unter seiner sanften Berührung erwartungsvoll öffneten. »… verwöhnt werden...«, hauchte er, während ich an seinem Finger knabberte. »... geliebt werden...«, fuhr er fort und zog mich dann an sich, um mir einen Kuss zu geben.
Die Gefühle, die bei diesen Worten in mir wach wurden, hätten nicht widerstreitender sein können, wenn sie auf den zwei verschiedenen Seiten der Berliner Mauer geboren worden wären. Die Welle der Schuld, die über mich hinwegschwappte, war am brutalsten. Ich war in meinem Leben schon einmal geliebt, wirklich geliebt, worden. Was Jason und ich miteinander hatten, war weitaus tiefgehender gewesen als meine Affäre mit Ryu, ganz gleich, wie intensiv der Sex zwischen uns auch sein mochte. Daran zweifelte ich keinen Augenblick.
Aber diesem Schuldgefühl auf den Fersen folgte eine verführerische Stimme, die mir etwas von Umständen zuflüsterte. Ich war so sehr geprägt von meinen Lebensumständen: vom Verschwinden meiner Mutter, der Krankheit meines Vaters, dem Tod von Jason.
»Weißt du denn überhaupt, was du willst?«, fragte die Stimme schmeichlerisch und brachte mich damit völlig durcheinander. Mir war klar, dass mir wirklich extreme Dinge zugestoßen waren. Es ärgerte mich, wie sehr sich das alles auf mein alltägliches Leben auswirkte. Ich hasste es, dass meine Umgebung so schlecht von meiner Mutter dachte, dass alle glaubten, ich sei verrückt und dass wir trotz allem in Rockabill blieben. Aber ich hatte nie an mir selbst gezweifelt. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass ich wusste, wer ich war und was ich wollte, selbst wenn das bedeutete, dass ich mir diesen ganzen Mist von Leuten wie Linda oder Stuart gefallen lassen musste. Sogar zu erfahren, dass ich ein halber Seehund war, hatte mich nicht allzu sehr aus der Bahn geworfen.
Aber nun in Ryus Armen fing ich an, mich zu fragen, ob die Dinge, die ich über mich, mein Leben und meine Beweggründe immer für selbstverständlich gehalten hatte, gar nicht so sein mussten.
»Vielleicht wusstest du bisher einfach nur nicht, was alles da draußen auf dich wartet«, säuselte die süßliche Stimme weiter.
»Sei still!«, dachte ich und versuchte sie angestrengt aus meinem Kopf zu verdrängen.
Doch dann half mir Ryu, der nichts von meinen inneren Konflikten zu ahnen schien, die Stimme zum Schweigen zu bringen. Er war vollauf mit meinem Negligé beschäftigt. Seine Hand glitt an meinem Bein hinunter, wo er sich über den großzügigen Schlitz in dem Seidenstoff Zugang zu meinen Schenkeln verschaffte. Dann fuhr er mit der Hand entlang meines anderen Beines wieder nach unten. »Selbst wenn du keine Ahnung hast, was du willst, er weiß es ganz genau«, sagte ich mir.
»Und ich will genau das, was er will«, forderte meine Libido ungeduldig.
Ich brachte den Chor meiner inneren Stimmen zum Schweigen, indem ich Ryu küsste. Trotz seiner Erregung waren seine Küsse trügerisch zärtlich.
Ich küsste ihn heftiger, um ihn wissen zu lassen, dass ich genauso bereit war wie er. Ryu war außergewöhnlich stark, er konnte mich mit einer Hand hochheben. Doch seine andere blieb indessen alles andere als untätig, was mein anhaltendes Stöhnen bewies.
Ryu setzte mich mit den Knien auf der Ottomane ab. Er stand hinter mir und streifte mir ganz langsam das Negligé über den Kopf. Dann glitten seine Hände an meinen Armen hinunter, und während er sanft an meinem Ohrläppchen saugte, platzierte er meine Handflächen an der Kante der gepolsterten Liege. Die Luft um mich herum prickelte vor Erotik, während ich voller Spannung darauf wartete, was nun geschah. Ich konnte hören, wie er sich hinter mir auszog. Er ließ sich Zeit damit.
Dann hörte ich ein Rascheln und sah ein Kondom vor meinem Gesicht auftauchen. Ich lächelte und nickte. Wie aufs Stichwort stöhnte Ryu gequält, doch ich hörte, wie er die Verpackung des Kondoms aufriss.
Als er so weit war, fuhr er mit den Händen an meinem Körper hinunter, vom Hals bis zu den Knien, und hielt nur inne, um meine runden Pobacken erst sanft zu kneten und dann zu küssen. Plötzlich spürte ich seinen Körper dicht hinter mir. Er hatte sich hinter mich auf die Ottomane gekniet und schlang nun die Arme um mich, seine Hände umfassten meine Brüste.
Ich stöhnte, presste mich an ihn und spürte seine Lippen fest an meinem Nacken. Er atmete heftig, und ich fühlte ihn hart zwischen meinen Schenkeln. Er ließ meine Brüste los und legte seine Hände stattdessen an meine Hüften, um mein Becken weiter nach hinten und noch näher an sich heranziehen zu können. Dann glitten seine Finger in mich hinein. Ich fauchte vor Lust, als er mich unnachgiebig liebkoste. Kurz bevor ich kam, hielt er inne, entzog mir seine Hand und bog meinen Oberkörper so zu sich herum, so dass mein Hals sich ihm darbot. Dann waren seine Finger auch schon wieder da, wo sie hingehörten, und als der Orgasmus durch meinen Körper zuckte, spürte ich das scharfe Stechen seiner Fänge in meiner Haut. Das Gefühl war so überwältigend, dass alles um mich herum für einen Augenblick schwarz wurde. Als ich langsam wieder zu mir kam, war Ryu bereits von hinten in mich eingedrungen und entfachte das Feuer meiner Leidenschaft erneut.
Stunden später, als wir endlich genug hatten, waren wir beide viel zu erschöpft, um noch einmal die Freuden eines gemeinsamen Bades zu genießen. Leider.