KAPITEL 21
Am Ende entschloss ich mich doch,
frühstücken zu gehen. Ein Teil von mir wollte sich zwar weiter mit
Ryu verkriechen, bis er wieder aufgewacht war, aber da spielte mein
Magen einfach nicht mit. Jedes Mal, wenn ich den Hörer abnahm, um
mir etwas zu essen aufs Zimmer zu bestellen, brüllte mich eine
Männerstimme in einer Sprache an, die sich für mich wie Arabisch
anhörte. Also legte ich wieder auf und war mittlerweile schon am
Verhungern. Tatsächlich knurrte mein Magen so laut, dass ich Angst
hatte, damit sogar Ryu aus seiner Vampirstarre zu wecken, und da
Jimmu ja fort war, dachte ich, es sei ziemlich sicher, das Zimmer
zu verlassen. Außerdem warnte ich meinen Magen, dass, wenn mir
wegen ihm der Kopf abgeschlagen würde, er nie wieder etwas zu essen
von mir bekommen würde.
Wie ich gestern zusammen mit Elspeth festgestellt
hatte, war Frühstück im Verbund eine eher entspannte Angelegenheit.
Die Tische waren wieder in ein Büfett verwandelt worden, und alle
möglichen Wesen kamen und gingen. Entweder luden sie sich ihre
Teller voll und setzten sich an
einen der freien Tische, oder sie nahmen sich nur schnell ein
Stück Gebäck oder etwas Obst und wandten sich sogleich wieder ihren
übernatürlichen Geschäften zu.
Aber als ich heute den Speisesaal betrat, spürte
ich sofort, dass irgendetwas im Busch war. Grüppchen von Leuten
standen zusammen und sprachen aufgeregt mit gedämpfter Stimme
miteinander. Irgendetwas lag ganz offensichtlich in der Luft. Ich
sah Elspeth sich in einer Ecke mit ein paar anderen Kreaturen
unterhalten, also ging ich zu ihr, um den Grund für die Aufregung
herauszufinden.
»… unfassbar, dass so etwas passieren konnte«,
sagte ein Elb gerade, als ich hinzutrat.
Elspeth nickte betroffen und wandte sich dann mir
zu, um mich zu begrüßen. Sie stellte mich den anderen vor, die
allesamt Bedienstete am Hof zu sein schienen.
»Was ist denn los?«, fragte ich neugierig.
Elspeth schüttelte den Kopf, als wolle sie es
selbst nicht glauben, und sah mich mit großen Augen an. »Ach, Jane,
ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Als sie nicht
weitersprach, wurde mir klar, dass sie das im wahrsten Sinne des
Wortes gemeint hatte.
»Wie wäre es mit dem Anfang?«, schlug ich ihr
geduldig vor.
»Ja, natürlich.« Die Nymphe atmete tief durch.
»Nun, es sieht so aus, als habe es eine Mordserie gegeben, der
Halblinge überall in diesem und anderen Territorien zum Opfer
gefallen sind.«
Mein Magen krampfte sich zusammen, aber es gelang
mir dennoch, mir nichts anmerken zu lassen.
»Bis jetzt hatte niemand davon gewusst - die Alfar
haben heimlich in der Sache ermittelt. Aber dann sind auch ihre
Ermittler beide ermordet worden. Einer war selbst ein
Halbling und der andere ein Kobold. Und als die Vorgesetzte des
Kobolds die Vorfälle vor Ort untersuchen wollte, wurde auch sie
ermordet.« Elspeth sah sehr bestürzt aus. Sie tat mir richtig leid.
»Ein Glück, dass sie nicht dort war«, dachte ich. »Die verkokelten
Kobolde waren wirklich ziemlich eklig.«
Elspeth senkte ihre Stimme und fuhr fort. »Jarl war
so besorgt über die Vorgänge, dass er die Nagas losgeschickt hat -
alle neun Geschwister. Sie haben das ganze Territorium nach dem
Mörder durchkämmt und sich sogar Zugang zu den benachbarten
Gebieten verschafft.« Diesen letzten Teil betonte sie besonders,
eine solche überterritoriale Kooperation schien also eine
erstaunliche Sache zu sein. Ich selbst war auch ziemlich erstaunt.
Ryu hatte darauf beharrt, dass Jarl wissen musste, wenn Jimmu der
Mörder war, aber nun behauptete Elspeth, dass Jarl von den Morden
schockiert und entsetzt war. Entweder spielte Jarl ein doppeltes
Spiel, oder Jimmu war ihm doch nicht so ergeben, wie jeder dachte.
Ich betete, dass es Letzteres war.
»Heute Morgen hat Jarl die Anführer aller Gattungen
hier im Verbund zusammenkommen lassen und ihnen mitgeteilt, was
passiert ist. Er erzählte ihnen von den Morden, hatte aber auch
gute Nachrichten - nämlich dass der Mörder gefasst wurde.«
Meine Augen weiteten sich. Hatten etwa seine
eigenen Geschwister Jimmus Taten aufgedeckt und sich gegen ihn
gewandt?
»Deshalb hat Jimmu den Verbund auch so übereilt
verlassen«,
fuhr Elspeth fort. Beinahe hätte ich vor Aufregung in die Hände
geklatscht. Ryu und ich waren in Sicherheit und dieser Albtraum
endlich vorbei. »Dem Himmel sei Dank«, dachte ich.
»Anscheinend haben Jimmus Geschwister die wahre
Identität des Mörders aufdecken können - es ist ein Mensch -, und
Jimmu wurde geschickt, um Gerechtigkeit walten zu lassen.«
»Oh, verdammter Mist«, dachte ich. »Das war nicht
gerade das Ende, das ich mir für Elspeths Bericht gewünscht
hatte.«
»Wie konnte ein Mensch gleich zwei Kobolde
hintereinander töten?«, fragte der Elb, wobei sein Schnurrbart
aufreizend wackelte. Offenbar stand ich noch unter Schock, da ich
nur geringe Lust verspürte, mich auf ihn zu stürzen.
Die Ifrit zuckte mit den Schultern, ihr Feuernimbus
züngelte gefährlich nah an meinem Haar. Ich machte einen Schritt
zurück. »Wir haben alle unsere Schwachpunkte«, sagte sie. »Denkt
nur an die Riesen.« Die verschiedenen Wesen nickten mit düsteren
Gesichtern.
»Na ja«, sagte der Elb und brach damit die
bedrückte Stimmung, »zumindest bedeutet das, dass es etwas zu
feiern gibt.« Er drehte sich zu mir und sah mich mit seinen
lüsternen Röntgenaugen an. »Hast du deine Partykleider
mitgebracht?«, wollte er wissen. Ich murmelte irgendetwas
Unverständliches und rückte widerstandslos näher an ihn heran, aber
glücklicherweise kam mir Elspeth zu Hilfe.
»Komm, ich bringe dich zum Pool, Jane«, sagte sie
und funkelte den Elben wütend an.
»Pool, ja, mhm«, murmelte ich abwesend, als sie
mich
trotz meiner widerspenstigen Beine von dem lüsternen Elben wegzog
und in Richtung Innenhof bugsierte.
Aber Elspeth wäre nicht Elspeth, wenn sie auf dem
Weg nach draußen nicht noch daran gedacht hätte, ein paar Früchte,
etwas Gebäck und Kaffee zu besorgen.
Nachdem ich mich wieder von der erotischen
Anziehung des Elben erholt hatte, half ich ihr auch beim Tragen.
Ich steckte die Bananen in meinen Hosenbund wie Pistolen und nahm
ihr die Kaffeebecher ab.
Wir aßen in der Grotte. Ich hätte es vorgezogen, in
einem Klohäuschen zu sitzen, aber da ich nicht näher erläutern
wollte, warum ich plötzlich kein Fan des Pools mehr war, hielt ich
lieber den Mund. Elspeth erzählte mir von den Festivitäten, die für
den heutigen Abend geplant waren, und obwohl mein Gehirn weitgehend
damit ausgelastet war, darüber nachzudenken, was sie genau damit
gemeint hatte, als sie sagte, dass Jimmu wegen der Morde
»Gerechtigkeit walten« lassen würde, beschäftigte sich doch eine
kleine Armada meiner grauen Zellen mit der Frage, was ich bloß
anziehen sollte.
»Du bist so ein Mädchen«, tadelte ich mich selbst.
»Und du bist Oberst Geistreich, oder was?«, erwiderte das
Modepüppchen in mir.
Als wir gegessen hatten, steckte ich meinen Finger
ein paarmal vorsichtig in den Pool, während ich noch immer Elspeths
Geplauder lauschte. Dann setzte ich mich wieder neben sie, und wir
unterhielten uns sehr nett miteinander. Sie wollte wissen, wie ich
Ryu kennengelernt hatte, aber ich erzählte ihr besser nichts davon,
dass wir beide bereits mit den Morden an den Halblingen zu tun
hatten. Also verriet
ich nur so viel, dass wir uns im Zuge von einer seiner
Ermittlungen kennengelernt hatten, ohne näher auf die genauen
Umstände einzugehen. Sie hakte auch nicht weiter nach, denn sie
wollte so schnell wie möglich auf die pikanten Themen zu sprechen
kommen. Ich kam mir ein bisschen billig vor, als ich zugeben
musste, dass wir uns noch kaum gekannt hatten, als es zwischen uns
zur Sache ging. Aber sie schien das alles ziemlich romantisch zu
finden. Und als ich ihr von unserem ersten Date und der Nacht am
Strand mit dem Picknick und allem erzählte, musste auch ich mir
eingestehen, dass es wirklich ziemlich aufregend klang.
»Trotzdem bist du eine billige Schlampe«, motzte
meine Tugendhaftigkeit.
»Ach, halt doch die Klappe«, ätzte meine Libido
zurück.
Ich fragte Elspeth über ihr Leben am Hof aus, und
sie erzählte mir alles, und damit meine ich einfach alles.
Schließlich war sie ein Baum, und so hatte sie wenig Gespür dafür,
was wir Menschen interessant finden könnten. »Oder halbe Menschen,
wenn man es genau nimmt«, dachte ich. Doch trotz ihrer Unfähigkeit,
sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, waren Elspeths
Geschichten wirklich faszinierend. Schließlich wusste ich noch
immer so wenig über diese Welt, dass es sogar interessant für mich
war, von den internen Streitereien darüber zu hören, ob Nahual, die
Katzengestalt annehmen konnten, aufs Katzenklo gehen durften oder
die Toilette benutzen sollten, »wie alle anderen auch«. Dadurch
fühlte ich mich an das berühmte Gedicht von Jonathan Swift
erinnert, in dem er entdeckt, dass die Liebe seines Lebens, die
engelsgleiche Celia, genauso aufs Klo geht wie alle anderen auch.
Mir fiel auf,
dass in Filmen oder Büchern auch nie Szenen vorkamen, in denen
Dracula von der jungfräulichen Heldin ablässt, weil sie mal eben
Pipi muss. Und jetzt erfuhr ich, dass die übernatürlichen Wesen,
genau wie Celia, tatsächlich auch auf die Toilette gingen.
Seltsamerweise beruhigte mich das irgendwie.
Ich saß noch stundenlang mit Elspeth herum, hörte
mir ihre Geschichten an und genoss die milden Sonnenstrahlen dieses
Novembertages. Es kamen auch noch ein paar andere Wesen vorbei und
schwammen ein paar Runden im Pool, aber sie schienen die Energie
des Wassers gar nicht zu spüren. Ich nehme an, wenn man nicht wie
ich ein WasserElementarwesen war, oder was zum Teufel ich auch war,
dann war es einfach ein normaler Pool und nicht pures Heroin.
Irgendwann bekamen wir wieder Hunger. Es musste
schon Zeit fürs Mittagessen geworden sein, also gingen wir zurück
ins Verbundsgebäude. Ich war überrascht, Ryu dort schon wach zu
sehen, bis mir auffiel, dass es bereits nach drei Uhr nachmittags
war. Er saß mit Wally dem Dschinn zusammen, und ich zuckte
vielsagend mit den Augenbrauen, als ich auf Ryu zuging. Mit Müh und
Not verbiss er sich ein Lachen, entschuldigte sich eilig und kam
mir entgegen.
»Nicht so schnell, du kleines Biest«, sagte er und
zog mich fest an sich.
»Och«, sagte ich grinsend, »ich hätte auch gerne
ein bisschen mit deinem Freund gequatscht.«
»Ja, sicher, meine Süße. Und ich wette, Wally würde
auch liebend gerne Quatsch mit dir machen. Und wenn du ihn
lässt, gleich jetzt und hier auf dem Boden. Aber du gehörst mir«,
sagte er und knabberte so lustvoll an meiner Unterlippe, dass mir
die Knie ganz weich wurden. Jedenfalls war meine Libido kurz vorm
Durchdrehen.
Mir entwich sogar ein leises Stöhnen, und Ryu
kicherte zufrieden. Doch dann wurde er plötzlich ernst und
flüsterte mir ins Ohr: »Hast du schon gehört, was passiert
ist?«
»Ja«, flüsterte ich zurück, und die Lust, die eben
noch meinen Körper durchströmt hatte, war wie verflogen. »Elspeth
hat mir heute Morgen beim Frühstück alles erzählt. Zuerst dachte
ich, sie sagt mir, sie wüssten nun, dass es Jimmu war, aber
Pustekuchen.«
Ryu runzelte besorgt die Stirn.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, erwiderte er
kopfschüttelnd. »Da ist irgendetwas im Gange, so viel ist klar. Das
Problem ist nur, dass wir keine Ahnung haben, wer welches Spiel
spielt, und wie hoch die Einsätze sind.« Ich war mir nicht sicher,
ob die Spiel-Metapher dem Ernst der Lage gerecht wurde, aber
bestimmt war er nicht scharf darauf, das jetzt zu hören, also
nickte ich einfach nur.
»Wir brauchen mehr Informationen«, sagte ich dann.
»Aber zuallererst brauche ich Mittagessen.«
Ryu verdrehte die Augen. »Vielleicht sollte ich
dich besser an einen Tropf hängen, den du immer mit dir
herumschieben kannst. Du hörst wohl nie mit dem Essen
auf.«
»Hey, du isst sogar, während wir Sex haben, und ich
beschwere mich auch nicht.«
Ryu kniff, überrascht von meiner schlagfertigen
Bemerkung, die Augen zusammen und brach dann in schallendes
Gelächter aus. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, waren
seine Pupillen erweitert, und er grinste mich mit voll
ausgefahrenen Fängen an. »Du beschwerst dich nur nicht, weil du
normalerweise zu beschäftigt damit bist, meinen Namen zu schreien.«
Er lächelte süffisant. »Oder du rufst Gott an. Aber mach dir nichts
draus - so ist es schon vielen anderen Frauen ergangen.«
Ich sah ihn herablassend an. »Das mache ich nur,
weil ich beim Sex mit dir immer von einem leckeren Sandwich träume.
Getoastet, mit Käse - natürlich Cheddar -, mit Schinken und
hauchdünn geschnittenen Tomatenscheiben dazwischen.«
Ryu rückte ein wenig von mir ab und sah mich
schockiert an: »Das ist aber jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragte
er.
Ich dachte kurz daran, zu behaupten, dass das mein
voller Ernst war, nur um ihm seine Bemerkung über die »vielen
anderen Frauen« heimzuzahlen, aber dann entschied ich mich
dagegen.
»Nein«, erwiderte ich also. »Die Wahrheit ist, ich
bin total verrückt nach dir.« Dann stellte ich mich auf die
Zehenspitzen und küsste den verkniffenen Zug um seinen Mund
fort.
»Kann das Mittagessen noch etwas warten?«, fragte
er, als ich ihm wieder Luft zum Atmen ließ.
»Nein!«, knurrte mein Magen. Aber aus der Region
darunter kam ein lautes, begeistertes »Ja!«. Die tiefer liegende
Region gewann, und ich nahm Ryu bei der Hand und zog ihn auf unser
Zimmer. »Aber du musst uns ein paar Sandwiches bestellen«, sagte
ich, als wir die Treppen hinaufeilten.
»Getoastet mit Käse, Schinken und Tomaten.« Er nickte grinsend,
und so waren alle zufrieden. Es war eine echte
Win-Win-Situation.
Stunden später, als ich an Ryu gekuschelt im Bett
lag, umgeben von den Krümeln meines Sandwichs, stöhnte ich wieder.
Aber diesmal nicht lust-, sondern sorgenvoll.
»Was ist los?«, erkundigte sich Ryu
schläfrig.
»Elspeth wird gleich hier sein, und ich weiß immer
noch nicht, was ich anziehen soll. Wahrscheinlich muss ich mir
etwas ausleihen. Oder schon wieder das rote Wickelkleid nehmen.
Meinst du, das ist elegant genug?«
Ryus Grinsen wurde immer breiter. Ich starrte ihn
fragend an, aber er schwieg beharrlich.
»Okay«, sagte ich schließlich, als ich die Spannung
nicht mehr aushielt. »Was ist los?«
»Schau mal in den Schrank, oberstes Fach. Nimm
einen Stuhl.«
Ich hatte schon so ein Gefühl, was jetzt kam, aber
es war viel zu sehr wie in Pretty Woman, als dass ich es
wirklich hätte glauben können. Ich kletterte aus dem Bett und schob
den kleinen Sessel zum Schrank hinüber. Ich versuchte, nicht daran
zu denken, was passiert war, als ich das letzte Mal in das oberste
Fach eines Schranks geschaut hatte. Aber statt einer Metallbox voll
mit Ohren, die bei der leisesten falschen Berührung in die Luft
fliegt, lag dort nun eine große, weiße Schachtel mit einer
Silberschleife. Ein Aufkleber darauf verriet mir, dass sie aus
Iris’ Boutique stammte. Mir gefiel diese Box viel besser.
»Oh, Ryu«, flüsterte ich. »Du hast doch
nicht...?«
»Natürlich habe ich«, sagte er vom Bett aus.
»Sobald wir entschieden hatten, hierherzukommen, habe ich es von
Iris einpacken lassen. In Rockabill magst du ja vielleicht keine
Gelegenheit haben, dich schick zu machen, aber hier ganz
bestimmt.«
Ehrfürchtig nahm ich die Schachtel aus dem Schrank.
Sie war ziemlich groß und unhandlich, und ich fragte mich, wo er
sie wohl bis jetzt versteckt hatte. »Ah«, fiel mir ein,
»natürlich!«
»Und ich dachte schon, du hättest die Leichen der
Kobolde hinten drin!«, rief ich, stieg vom Sessel herunter und
setzte mich wieder zu Ryu aufs Bett. Dabei drückte ich die
Schachtel die ganze Zeit fest an meine Brust. Ich fühlte mich wie
ein Kind an Weihnachten.
»Hä?«, fragte Ryu verwirrt. »Im Auto«, erklärte
ich. »Als du nicht wolltest, dass ich meine Sachen in den
Kofferraum packte, dachte ich, dass da hinten die Leichen drin
sind.«
»Wieso sollte ich bitte schön Koboldleichen im
Kofferraum meines Porsches spazieren fahren?«, fragte er, als sei
dies das Verrückteste, was er je gehört hatte.
Ich sah ihm fest in die Augen. »Ryu, ich muss mich
erst noch an den Gedanken gewöhnen, dass es überhaupt so
etwas wie Koboldleichen gibt. Ob es vernünftig ist, sie in einem
Kofferraum zu verstauen, ist dabei erst einmal zweitrangig.«
Ryu lachte und küsste mich. »Das ist natürlich ein
Argument«, räumte er ein. Dann schüttelte er auffordernd die
Schachtel. »Mach sie auf«, sagte er zärtlich.
Ich löste die silberne Schleife und hob den Deckel
ab.
Eingeschlagen in hauchdünnes Seidenpapier lag darin das silbrige
Kleid und die hohen Schuhe mit den schwarzen Schleifchen an den
Zehen.
»Oh, Ryu«, hauchte ich. »Ich fühle mich wie Julia
Roberts. Nur ohne die Nuttengeschichte. Vielen, vielen Dank.«
»Gern geschehen, Miss True«, sagte er und lehnte
sich zurück an das Kopfteil des Bettes. »Und diesmal geht es nicht
auf die Firma. Diesmal ist es wirklich ein Geschenk von mir.«
Ich stand auf, hielt mir das Kleid an und
betrachtete mich im Spiegel. Es war genauso perfekt, wie ich es in
Erinnerung hatte. Allerdings hatte ich keine Vorstellung, wie ich
darin am besten meine Brüste verstauen sollte. Hoffentlich kannte
Elspeth irgendeinen Zaubertrick, der Kleider und Oberweite am
richtigen Platz hielt. Ich drehte mich zu Ryu um und grinste wie
ein Honigkuchenpferd. Für den Moment hatte ich alle Sorgen
vergessen.
»Großartiger Sex, schöne Kleider und ein
getoastetes Käsesandwich, wann immer ich will - an dieses Leben
könnte ich mich wirklich gewöhnen«, scherzte ich und wandte mich
wieder meinem Spiegelbild zu, wobei ich versuchte, mir das Kleid an
und gleichzeitig die Haare hoch zu halten.
Plötzlich stand Ryu hinter mir und schlang seine
Arme unter dem Kleid um meine Taille. Er drückte sein Gesicht
zärtlich an meinen Hals und atmete tief ein. »Das ist der Plan«,
murmelte er, und unsere Blicke trafen sich im Spiegel.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er
meine es ernst. Dann schaltete sich mein Gehirn wieder ein. »Reiß
dich zusammen«, ermahnte ich mich in Gedanken und
dachte an all die Frauen im Hotel. »Er lebt davon... im wahrsten
Sinne des Wortes.«
Ein Lachen drang über meine Lippen, und ich drehte
mich zu ihm um. Jetzt klemmte das Kleid zwischen uns.
»Deshalb kippen die Alfar also Crack in den Pool,
damit man süchtig wird und nie wieder weg will!«
Ryu fiel in mein Lachen ein und nahm mir das Kleid
ab. Er hängte es ganz vorsichtig auf und schob mich dann ins
Badezimmer.
»Mach dich schon mal für Elspeth bereit, Liebes.
Ich hole dich dann hier ab, wenn es Zeit ist fürs Abendessen.« Ich
nickte. »Und Jane«, sagte er und klang plötzlich ganz ernst dabei.
»Sei wachsam heute Abend, ja? Ich habe keine Ahnung, was passieren
wird. Aber falls es ungemütlich werden sollte, dann machst du dich
aus dem Staub - versuch um jeden Preis, es zurück auf unser Zimmer
zu schaffen. Und dann sperr die Türen ab und öffne niemandem außer
mir, okay?«
Plötzlich machte ich mir doch wieder Sorgen wegen
heute Abend. Aber das war gut so. Ich sollte mich besser nicht in
trügerischer Sicherheit wiegen.
Ryu lächelte mich an, doch er wirkte angespannt
dabei. »Ich passe auf dich auf«, sagte er. »Das verspreche ich dir.
Aber trau sonst niemandem. Lauf einfach weg, und ich werde dich
finden.«
»Okay«, sagte ich und lächelte ihn genauso besorgt
an. Er küsste mich auf die Wange und nahm dann den Kleidersack mit
seinem Anzug aus dem Schrank und die Plastiktüte, die er in Nells
und Anyans Haus abgeholt hatte.
»Ich treffe mich noch mit Wally«, sagte er, »und
ziehe
mich dann woanders um, damit ich Elspeth nicht in die Quere
komme.« Zum Abschied gab er mir einen Kuss und drückte mir
aufmunternd die Hand.
Als Ryu fort war, atmete ich einmal tief durch. Ich
fühlte mich dem, was heute Abend auch immer passieren mochte,
überhaupt nicht gewachsen. Ich fühlte mich wie eine Maus, die von
Nachbars Katze zu einer Party eingeladen wurde. Ich sollte besser
eine kugelsichere Weste anlegen und mich mit ein paar
halbautomatischen Knarren ausrüsten, anstatt mir darüber Gedanken
zu machen, ob ich mein Haar hochstecken oder es lieber offen tragen
sollte.
Da fiel mir ein … Sollte ich mein Haar hochstecken?
Oder besser offen lassen? Ich seufzte, meine Eitelkeit hatte mal
wieder gesiegt, und das in einem Moment, in dem ich eigentlich
stark und fokussiert hätte sein müssen. In der mir eigenen
Entschlossenheit entschied ich, dass Elspeth entscheiden musste,
was mit meinem Haar passieren sollte, und verzog mich unter die
Dusche. Wenn ich heute Abend schon sterben musste, dann wollte ich
dabei wenigstens top aussehen. »Das bedeutet, dass ich besser mal
Unterwäsche trage«, dachte ich. Ich warf einen Blick auf das dünne
Kleidchen, das im Schrank hing.
Oder auch nicht.