KAPITEL 21
022
Am Ende entschloss ich mich doch, frühstücken zu gehen. Ein Teil von mir wollte sich zwar weiter mit Ryu verkriechen, bis er wieder aufgewacht war, aber da spielte mein Magen einfach nicht mit. Jedes Mal, wenn ich den Hörer abnahm, um mir etwas zu essen aufs Zimmer zu bestellen, brüllte mich eine Männerstimme in einer Sprache an, die sich für mich wie Arabisch anhörte. Also legte ich wieder auf und war mittlerweile schon am Verhungern. Tatsächlich knurrte mein Magen so laut, dass ich Angst hatte, damit sogar Ryu aus seiner Vampirstarre zu wecken, und da Jimmu ja fort war, dachte ich, es sei ziemlich sicher, das Zimmer zu verlassen. Außerdem warnte ich meinen Magen, dass, wenn mir wegen ihm der Kopf abgeschlagen würde, er nie wieder etwas zu essen von mir bekommen würde.
Wie ich gestern zusammen mit Elspeth festgestellt hatte, war Frühstück im Verbund eine eher entspannte Angelegenheit. Die Tische waren wieder in ein Büfett verwandelt worden, und alle möglichen Wesen kamen und gingen. Entweder luden sie sich ihre Teller voll und setzten sich an einen der freien Tische, oder sie nahmen sich nur schnell ein Stück Gebäck oder etwas Obst und wandten sich sogleich wieder ihren übernatürlichen Geschäften zu.
Aber als ich heute den Speisesaal betrat, spürte ich sofort, dass irgendetwas im Busch war. Grüppchen von Leuten standen zusammen und sprachen aufgeregt mit gedämpfter Stimme miteinander. Irgendetwas lag ganz offensichtlich in der Luft. Ich sah Elspeth sich in einer Ecke mit ein paar anderen Kreaturen unterhalten, also ging ich zu ihr, um den Grund für die Aufregung herauszufinden.
»… unfassbar, dass so etwas passieren konnte«, sagte ein Elb gerade, als ich hinzutrat.
Elspeth nickte betroffen und wandte sich dann mir zu, um mich zu begrüßen. Sie stellte mich den anderen vor, die allesamt Bedienstete am Hof zu sein schienen.
»Was ist denn los?«, fragte ich neugierig.
Elspeth schüttelte den Kopf, als wolle sie es selbst nicht glauben, und sah mich mit großen Augen an. »Ach, Jane, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Als sie nicht weitersprach, wurde mir klar, dass sie das im wahrsten Sinne des Wortes gemeint hatte.
»Wie wäre es mit dem Anfang?«, schlug ich ihr geduldig vor.
»Ja, natürlich.« Die Nymphe atmete tief durch. »Nun, es sieht so aus, als habe es eine Mordserie gegeben, der Halblinge überall in diesem und anderen Territorien zum Opfer gefallen sind.«
Mein Magen krampfte sich zusammen, aber es gelang mir dennoch, mir nichts anmerken zu lassen.
»Bis jetzt hatte niemand davon gewusst - die Alfar haben heimlich in der Sache ermittelt. Aber dann sind auch ihre Ermittler beide ermordet worden. Einer war selbst ein Halbling und der andere ein Kobold. Und als die Vorgesetzte des Kobolds die Vorfälle vor Ort untersuchen wollte, wurde auch sie ermordet.« Elspeth sah sehr bestürzt aus. Sie tat mir richtig leid. »Ein Glück, dass sie nicht dort war«, dachte ich. »Die verkokelten Kobolde waren wirklich ziemlich eklig.«
Elspeth senkte ihre Stimme und fuhr fort. »Jarl war so besorgt über die Vorgänge, dass er die Nagas losgeschickt hat - alle neun Geschwister. Sie haben das ganze Territorium nach dem Mörder durchkämmt und sich sogar Zugang zu den benachbarten Gebieten verschafft.« Diesen letzten Teil betonte sie besonders, eine solche überterritoriale Kooperation schien also eine erstaunliche Sache zu sein. Ich selbst war auch ziemlich erstaunt. Ryu hatte darauf beharrt, dass Jarl wissen musste, wenn Jimmu der Mörder war, aber nun behauptete Elspeth, dass Jarl von den Morden schockiert und entsetzt war. Entweder spielte Jarl ein doppeltes Spiel, oder Jimmu war ihm doch nicht so ergeben, wie jeder dachte. Ich betete, dass es Letzteres war.
»Heute Morgen hat Jarl die Anführer aller Gattungen hier im Verbund zusammenkommen lassen und ihnen mitgeteilt, was passiert ist. Er erzählte ihnen von den Morden, hatte aber auch gute Nachrichten - nämlich dass der Mörder gefasst wurde.«
Meine Augen weiteten sich. Hatten etwa seine eigenen Geschwister Jimmus Taten aufgedeckt und sich gegen ihn gewandt?
»Deshalb hat Jimmu den Verbund auch so übereilt verlassen«, fuhr Elspeth fort. Beinahe hätte ich vor Aufregung in die Hände geklatscht. Ryu und ich waren in Sicherheit und dieser Albtraum endlich vorbei. »Dem Himmel sei Dank«, dachte ich.
»Anscheinend haben Jimmus Geschwister die wahre Identität des Mörders aufdecken können - es ist ein Mensch -, und Jimmu wurde geschickt, um Gerechtigkeit walten zu lassen.«
»Oh, verdammter Mist«, dachte ich. »Das war nicht gerade das Ende, das ich mir für Elspeths Bericht gewünscht hatte.«
»Wie konnte ein Mensch gleich zwei Kobolde hintereinander töten?«, fragte der Elb, wobei sein Schnurrbart aufreizend wackelte. Offenbar stand ich noch unter Schock, da ich nur geringe Lust verspürte, mich auf ihn zu stürzen.
Die Ifrit zuckte mit den Schultern, ihr Feuernimbus züngelte gefährlich nah an meinem Haar. Ich machte einen Schritt zurück. »Wir haben alle unsere Schwachpunkte«, sagte sie. »Denkt nur an die Riesen.« Die verschiedenen Wesen nickten mit düsteren Gesichtern.
»Na ja«, sagte der Elb und brach damit die bedrückte Stimmung, »zumindest bedeutet das, dass es etwas zu feiern gibt.« Er drehte sich zu mir und sah mich mit seinen lüsternen Röntgenaugen an. »Hast du deine Partykleider mitgebracht?«, wollte er wissen. Ich murmelte irgendetwas Unverständliches und rückte widerstandslos näher an ihn heran, aber glücklicherweise kam mir Elspeth zu Hilfe.
»Komm, ich bringe dich zum Pool, Jane«, sagte sie und funkelte den Elben wütend an.
»Pool, ja, mhm«, murmelte ich abwesend, als sie mich trotz meiner widerspenstigen Beine von dem lüsternen Elben wegzog und in Richtung Innenhof bugsierte.
Aber Elspeth wäre nicht Elspeth, wenn sie auf dem Weg nach draußen nicht noch daran gedacht hätte, ein paar Früchte, etwas Gebäck und Kaffee zu besorgen.
Nachdem ich mich wieder von der erotischen Anziehung des Elben erholt hatte, half ich ihr auch beim Tragen. Ich steckte die Bananen in meinen Hosenbund wie Pistolen und nahm ihr die Kaffeebecher ab.
Wir aßen in der Grotte. Ich hätte es vorgezogen, in einem Klohäuschen zu sitzen, aber da ich nicht näher erläutern wollte, warum ich plötzlich kein Fan des Pools mehr war, hielt ich lieber den Mund. Elspeth erzählte mir von den Festivitäten, die für den heutigen Abend geplant waren, und obwohl mein Gehirn weitgehend damit ausgelastet war, darüber nachzudenken, was sie genau damit gemeint hatte, als sie sagte, dass Jimmu wegen der Morde »Gerechtigkeit walten« lassen würde, beschäftigte sich doch eine kleine Armada meiner grauen Zellen mit der Frage, was ich bloß anziehen sollte.
»Du bist so ein Mädchen«, tadelte ich mich selbst. »Und du bist Oberst Geistreich, oder was?«, erwiderte das Modepüppchen in mir.
Als wir gegessen hatten, steckte ich meinen Finger ein paarmal vorsichtig in den Pool, während ich noch immer Elspeths Geplauder lauschte. Dann setzte ich mich wieder neben sie, und wir unterhielten uns sehr nett miteinander. Sie wollte wissen, wie ich Ryu kennengelernt hatte, aber ich erzählte ihr besser nichts davon, dass wir beide bereits mit den Morden an den Halblingen zu tun hatten. Also verriet ich nur so viel, dass wir uns im Zuge von einer seiner Ermittlungen kennengelernt hatten, ohne näher auf die genauen Umstände einzugehen. Sie hakte auch nicht weiter nach, denn sie wollte so schnell wie möglich auf die pikanten Themen zu sprechen kommen. Ich kam mir ein bisschen billig vor, als ich zugeben musste, dass wir uns noch kaum gekannt hatten, als es zwischen uns zur Sache ging. Aber sie schien das alles ziemlich romantisch zu finden. Und als ich ihr von unserem ersten Date und der Nacht am Strand mit dem Picknick und allem erzählte, musste auch ich mir eingestehen, dass es wirklich ziemlich aufregend klang.
»Trotzdem bist du eine billige Schlampe«, motzte meine Tugendhaftigkeit.
»Ach, halt doch die Klappe«, ätzte meine Libido zurück.
Ich fragte Elspeth über ihr Leben am Hof aus, und sie erzählte mir alles, und damit meine ich einfach alles. Schließlich war sie ein Baum, und so hatte sie wenig Gespür dafür, was wir Menschen interessant finden könnten. »Oder halbe Menschen, wenn man es genau nimmt«, dachte ich. Doch trotz ihrer Unfähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, waren Elspeths Geschichten wirklich faszinierend. Schließlich wusste ich noch immer so wenig über diese Welt, dass es sogar interessant für mich war, von den internen Streitereien darüber zu hören, ob Nahual, die Katzengestalt annehmen konnten, aufs Katzenklo gehen durften oder die Toilette benutzen sollten, »wie alle anderen auch«. Dadurch fühlte ich mich an das berühmte Gedicht von Jonathan Swift erinnert, in dem er entdeckt, dass die Liebe seines Lebens, die engelsgleiche Celia, genauso aufs Klo geht wie alle anderen auch. Mir fiel auf, dass in Filmen oder Büchern auch nie Szenen vorkamen, in denen Dracula von der jungfräulichen Heldin ablässt, weil sie mal eben Pipi muss. Und jetzt erfuhr ich, dass die übernatürlichen Wesen, genau wie Celia, tatsächlich auch auf die Toilette gingen. Seltsamerweise beruhigte mich das irgendwie.
Ich saß noch stundenlang mit Elspeth herum, hörte mir ihre Geschichten an und genoss die milden Sonnenstrahlen dieses Novembertages. Es kamen auch noch ein paar andere Wesen vorbei und schwammen ein paar Runden im Pool, aber sie schienen die Energie des Wassers gar nicht zu spüren. Ich nehme an, wenn man nicht wie ich ein WasserElementarwesen war, oder was zum Teufel ich auch war, dann war es einfach ein normaler Pool und nicht pures Heroin.
Irgendwann bekamen wir wieder Hunger. Es musste schon Zeit fürs Mittagessen geworden sein, also gingen wir zurück ins Verbundsgebäude. Ich war überrascht, Ryu dort schon wach zu sehen, bis mir auffiel, dass es bereits nach drei Uhr nachmittags war. Er saß mit Wally dem Dschinn zusammen, und ich zuckte vielsagend mit den Augenbrauen, als ich auf Ryu zuging. Mit Müh und Not verbiss er sich ein Lachen, entschuldigte sich eilig und kam mir entgegen.
»Nicht so schnell, du kleines Biest«, sagte er und zog mich fest an sich.
»Och«, sagte ich grinsend, »ich hätte auch gerne ein bisschen mit deinem Freund gequatscht.«
»Ja, sicher, meine Süße. Und ich wette, Wally würde auch liebend gerne Quatsch mit dir machen. Und wenn du ihn lässt, gleich jetzt und hier auf dem Boden. Aber du gehörst mir«, sagte er und knabberte so lustvoll an meiner Unterlippe, dass mir die Knie ganz weich wurden. Jedenfalls war meine Libido kurz vorm Durchdrehen.
Mir entwich sogar ein leises Stöhnen, und Ryu kicherte zufrieden. Doch dann wurde er plötzlich ernst und flüsterte mir ins Ohr: »Hast du schon gehört, was passiert ist?«
»Ja«, flüsterte ich zurück, und die Lust, die eben noch meinen Körper durchströmt hatte, war wie verflogen. »Elspeth hat mir heute Morgen beim Frühstück alles erzählt. Zuerst dachte ich, sie sagt mir, sie wüssten nun, dass es Jimmu war, aber Pustekuchen.«
Ryu runzelte besorgt die Stirn.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Da ist irgendetwas im Gange, so viel ist klar. Das Problem ist nur, dass wir keine Ahnung haben, wer welches Spiel spielt, und wie hoch die Einsätze sind.« Ich war mir nicht sicher, ob die Spiel-Metapher dem Ernst der Lage gerecht wurde, aber bestimmt war er nicht scharf darauf, das jetzt zu hören, also nickte ich einfach nur.
»Wir brauchen mehr Informationen«, sagte ich dann. »Aber zuallererst brauche ich Mittagessen.«
Ryu verdrehte die Augen. »Vielleicht sollte ich dich besser an einen Tropf hängen, den du immer mit dir herumschieben kannst. Du hörst wohl nie mit dem Essen auf.«
»Hey, du isst sogar, während wir Sex haben, und ich beschwere mich auch nicht.«
Ryu kniff, überrascht von meiner schlagfertigen Bemerkung, die Augen zusammen und brach dann in schallendes Gelächter aus. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, waren seine Pupillen erweitert, und er grinste mich mit voll ausgefahrenen Fängen an. »Du beschwerst dich nur nicht, weil du normalerweise zu beschäftigt damit bist, meinen Namen zu schreien.« Er lächelte süffisant. »Oder du rufst Gott an. Aber mach dir nichts draus - so ist es schon vielen anderen Frauen ergangen.«
Ich sah ihn herablassend an. »Das mache ich nur, weil ich beim Sex mit dir immer von einem leckeren Sandwich träume. Getoastet, mit Käse - natürlich Cheddar -, mit Schinken und hauchdünn geschnittenen Tomatenscheiben dazwischen.«
Ryu rückte ein wenig von mir ab und sah mich schockiert an: »Das ist aber jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragte er.
Ich dachte kurz daran, zu behaupten, dass das mein voller Ernst war, nur um ihm seine Bemerkung über die »vielen anderen Frauen« heimzuzahlen, aber dann entschied ich mich dagegen.
»Nein«, erwiderte ich also. »Die Wahrheit ist, ich bin total verrückt nach dir.« Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste den verkniffenen Zug um seinen Mund fort.
»Kann das Mittagessen noch etwas warten?«, fragte er, als ich ihm wieder Luft zum Atmen ließ.
»Nein!«, knurrte mein Magen. Aber aus der Region darunter kam ein lautes, begeistertes »Ja!«. Die tiefer liegende Region gewann, und ich nahm Ryu bei der Hand und zog ihn auf unser Zimmer. »Aber du musst uns ein paar Sandwiches bestellen«, sagte ich, als wir die Treppen hinaufeilten. »Getoastet mit Käse, Schinken und Tomaten.« Er nickte grinsend, und so waren alle zufrieden. Es war eine echte Win-Win-Situation.
 
Stunden später, als ich an Ryu gekuschelt im Bett lag, umgeben von den Krümeln meines Sandwichs, stöhnte ich wieder. Aber diesmal nicht lust-, sondern sorgenvoll.
»Was ist los?«, erkundigte sich Ryu schläfrig.
»Elspeth wird gleich hier sein, und ich weiß immer noch nicht, was ich anziehen soll. Wahrscheinlich muss ich mir etwas ausleihen. Oder schon wieder das rote Wickelkleid nehmen. Meinst du, das ist elegant genug?«
Ryus Grinsen wurde immer breiter. Ich starrte ihn fragend an, aber er schwieg beharrlich.
»Okay«, sagte ich schließlich, als ich die Spannung nicht mehr aushielt. »Was ist los?«
»Schau mal in den Schrank, oberstes Fach. Nimm einen Stuhl.«
Ich hatte schon so ein Gefühl, was jetzt kam, aber es war viel zu sehr wie in Pretty Woman, als dass ich es wirklich hätte glauben können. Ich kletterte aus dem Bett und schob den kleinen Sessel zum Schrank hinüber. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was passiert war, als ich das letzte Mal in das oberste Fach eines Schranks geschaut hatte. Aber statt einer Metallbox voll mit Ohren, die bei der leisesten falschen Berührung in die Luft fliegt, lag dort nun eine große, weiße Schachtel mit einer Silberschleife. Ein Aufkleber darauf verriet mir, dass sie aus Iris’ Boutique stammte. Mir gefiel diese Box viel besser.
»Oh, Ryu«, flüsterte ich. »Du hast doch nicht...?«
»Natürlich habe ich«, sagte er vom Bett aus. »Sobald wir entschieden hatten, hierherzukommen, habe ich es von Iris einpacken lassen. In Rockabill magst du ja vielleicht keine Gelegenheit haben, dich schick zu machen, aber hier ganz bestimmt.«
Ehrfürchtig nahm ich die Schachtel aus dem Schrank. Sie war ziemlich groß und unhandlich, und ich fragte mich, wo er sie wohl bis jetzt versteckt hatte. »Ah«, fiel mir ein, »natürlich!«
»Und ich dachte schon, du hättest die Leichen der Kobolde hinten drin!«, rief ich, stieg vom Sessel herunter und setzte mich wieder zu Ryu aufs Bett. Dabei drückte ich die Schachtel die ganze Zeit fest an meine Brust. Ich fühlte mich wie ein Kind an Weihnachten.
»Hä?«, fragte Ryu verwirrt. »Im Auto«, erklärte ich. »Als du nicht wolltest, dass ich meine Sachen in den Kofferraum packte, dachte ich, dass da hinten die Leichen drin sind.«
»Wieso sollte ich bitte schön Koboldleichen im Kofferraum meines Porsches spazieren fahren?«, fragte er, als sei dies das Verrückteste, was er je gehört hatte.
Ich sah ihm fest in die Augen. »Ryu, ich muss mich erst noch an den Gedanken gewöhnen, dass es überhaupt so etwas wie Koboldleichen gibt. Ob es vernünftig ist, sie in einem Kofferraum zu verstauen, ist dabei erst einmal zweitrangig.«
Ryu lachte und küsste mich. »Das ist natürlich ein Argument«, räumte er ein. Dann schüttelte er auffordernd die Schachtel. »Mach sie auf«, sagte er zärtlich.
Ich löste die silberne Schleife und hob den Deckel ab. Eingeschlagen in hauchdünnes Seidenpapier lag darin das silbrige Kleid und die hohen Schuhe mit den schwarzen Schleifchen an den Zehen.
»Oh, Ryu«, hauchte ich. »Ich fühle mich wie Julia Roberts. Nur ohne die Nuttengeschichte. Vielen, vielen Dank.«
»Gern geschehen, Miss True«, sagte er und lehnte sich zurück an das Kopfteil des Bettes. »Und diesmal geht es nicht auf die Firma. Diesmal ist es wirklich ein Geschenk von mir.«
Ich stand auf, hielt mir das Kleid an und betrachtete mich im Spiegel. Es war genauso perfekt, wie ich es in Erinnerung hatte. Allerdings hatte ich keine Vorstellung, wie ich darin am besten meine Brüste verstauen sollte. Hoffentlich kannte Elspeth irgendeinen Zaubertrick, der Kleider und Oberweite am richtigen Platz hielt. Ich drehte mich zu Ryu um und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Für den Moment hatte ich alle Sorgen vergessen.
»Großartiger Sex, schöne Kleider und ein getoastetes Käsesandwich, wann immer ich will - an dieses Leben könnte ich mich wirklich gewöhnen«, scherzte ich und wandte mich wieder meinem Spiegelbild zu, wobei ich versuchte, mir das Kleid an und gleichzeitig die Haare hoch zu halten.
Plötzlich stand Ryu hinter mir und schlang seine Arme unter dem Kleid um meine Taille. Er drückte sein Gesicht zärtlich an meinen Hals und atmete tief ein. »Das ist der Plan«, murmelte er, und unsere Blicke trafen sich im Spiegel.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er meine es ernst. Dann schaltete sich mein Gehirn wieder ein. »Reiß dich zusammen«, ermahnte ich mich in Gedanken und dachte an all die Frauen im Hotel. »Er lebt davon... im wahrsten Sinne des Wortes.«
Ein Lachen drang über meine Lippen, und ich drehte mich zu ihm um. Jetzt klemmte das Kleid zwischen uns.
»Deshalb kippen die Alfar also Crack in den Pool, damit man süchtig wird und nie wieder weg will!«
Ryu fiel in mein Lachen ein und nahm mir das Kleid ab. Er hängte es ganz vorsichtig auf und schob mich dann ins Badezimmer.
»Mach dich schon mal für Elspeth bereit, Liebes. Ich hole dich dann hier ab, wenn es Zeit ist fürs Abendessen.« Ich nickte. »Und Jane«, sagte er und klang plötzlich ganz ernst dabei. »Sei wachsam heute Abend, ja? Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Aber falls es ungemütlich werden sollte, dann machst du dich aus dem Staub - versuch um jeden Preis, es zurück auf unser Zimmer zu schaffen. Und dann sperr die Türen ab und öffne niemandem außer mir, okay?«
Plötzlich machte ich mir doch wieder Sorgen wegen heute Abend. Aber das war gut so. Ich sollte mich besser nicht in trügerischer Sicherheit wiegen.
Ryu lächelte mich an, doch er wirkte angespannt dabei. »Ich passe auf dich auf«, sagte er. »Das verspreche ich dir. Aber trau sonst niemandem. Lauf einfach weg, und ich werde dich finden.«
»Okay«, sagte ich und lächelte ihn genauso besorgt an. Er küsste mich auf die Wange und nahm dann den Kleidersack mit seinem Anzug aus dem Schrank und die Plastiktüte, die er in Nells und Anyans Haus abgeholt hatte.
»Ich treffe mich noch mit Wally«, sagte er, »und ziehe mich dann woanders um, damit ich Elspeth nicht in die Quere komme.« Zum Abschied gab er mir einen Kuss und drückte mir aufmunternd die Hand.
Als Ryu fort war, atmete ich einmal tief durch. Ich fühlte mich dem, was heute Abend auch immer passieren mochte, überhaupt nicht gewachsen. Ich fühlte mich wie eine Maus, die von Nachbars Katze zu einer Party eingeladen wurde. Ich sollte besser eine kugelsichere Weste anlegen und mich mit ein paar halbautomatischen Knarren ausrüsten, anstatt mir darüber Gedanken zu machen, ob ich mein Haar hochstecken oder es lieber offen tragen sollte.
Da fiel mir ein … Sollte ich mein Haar hochstecken? Oder besser offen lassen? Ich seufzte, meine Eitelkeit hatte mal wieder gesiegt, und das in einem Moment, in dem ich eigentlich stark und fokussiert hätte sein müssen. In der mir eigenen Entschlossenheit entschied ich, dass Elspeth entscheiden musste, was mit meinem Haar passieren sollte, und verzog mich unter die Dusche. Wenn ich heute Abend schon sterben musste, dann wollte ich dabei wenigstens top aussehen. »Das bedeutet, dass ich besser mal Unterwäsche trage«, dachte ich. Ich warf einen Blick auf das dünne Kleidchen, das im Schrank hing.
Oder auch nicht.