KAPITEL 3
004
Der schrille Ton meines Weckers drang in mein Hirn und verscheuchte die Träume, die mich während meines kurzen, unruhigen Schlafes gequält hatten. Ich hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund: die Rache meines Magens für all die Panik und die Übelkeit, die er in der Nacht zuvor hatte aushalten müssen. Apropos …
Ich hatte einen Toten gefunden.
Wie erschlagen lag ich im Bett und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Im Licht der schwachen Novembersonne, die durch meine Vorhänge sickerte, erschien mir das, was ich getan hatte, bei weitem nicht mehr so plausibel wie im Schleier der nächtlichen Dunkelheit.
Es gab keinerlei Garantie dafür, dass die Leiche dort, wo ich sie hingeschafft hatte, eher gefunden wurde als an dem Ort, wo der Old-Sow-Strudel sie vielleicht letztendlich angespült hätte. Was, wenn Russ ausgerechnet heute einen anderen Weg entlanggetragen werden wollte? Was, wenn Mr. Flutie seine morgendliche Routine unterbrochen und stattdessen nach Vegas gefahren war, um seine Ersparnisse bei Black Jack und Striptease auf den Kopf zu hauen? Was, wenn, Gott bewahre, ich seine Konstitution überschätzt hatte und nun zwei Tote auf dem Trampelpfad lagen: Peter, der einem Verbrechen zum Opfer gefallen, und Mr. Flutie, der von einem Herzinfarkt dahingerafft worden war?
Außerdem hatte ich bestimmt alle Spuren an Peters Körper vernichtet. Wenn nach der langen Zeit, die seine Leiche schon im Wasser gelegen hatte, noch irgendwelche Hinweise auf seinen Mörder existiert hatten, dann hatte ich sie zweifellos endgültig zerstört, indem ich ihn noch durch den Sand gezerrt hatte. Ganz zu schweigen davon, dass es nun so aussah, als habe ihn sein Mörder erst am Strand abgelegt, nachdem er ihn nur so zum Spaß ins Meer geworfen hatte …
Das brachte mich auf einen dritten Grund, warum ich Peter niemals hätte anfassen dürfen. Eine Leiche allein war für Rockabill schon abenteuerlich genug. Aber jetzt musste die Polizei vermuten, es mit einem wahnsinnigen Mörder zu tun zu haben, der sich offenbar nicht hatte entscheiden können, wo er sein Opfer ablegen wollte, und sich schließlich einen Spaß daraus gemacht zu haben schien, den Trampelpfad am Strand mit der Leiche zu dekorieren.
Ich zog mein Kissen unter dem Kopf hervor und presste es mir aufs Gesicht. Wie hatte ich nur so bescheuert sein können? Warum hatte ich ihn nicht einfach am Strand gelassen?
Dann musste ich wieder an Peters armes, totes Gesicht denken und an die Freundlichkeit, die er zu Lebzeiten mir gegenüber an den Tag gelegt hatte, und ich wusste, dass ich ihn unmöglich einfach da draußen, den tosenden Elementen ausgesetzt, hätte lassen können.
Ich warf das Kissen zur Seite und zwang mich aufzustehen. Ich musste rüber nach Rockabill gehen und die Suppe auslöffeln, falls es denn eine Suppe auszulöffeln gab.
»Du könntest dich aber auch«, sagte die verschlagene Stimme in meinem Kopf, »unter deiner Decke verstecken und einfach nicht mehr herauskommen, egal, wer an die Tür klopft.«
Aber meine Klinikerfahrung hatte mich gelehrt, dass es einem nichts nutzt, sich im Pyjama vor der Welt zu verkriechen. Also stand ich auf und machte mich für die Arbeit fertig. Dann ging ich nach unten, um das Frühstück herzurichten, und versuchte, meine Dienstagsroutine so normal wie möglich zu absolvieren. Man würde zwar nicht gleich an der Art und Weise, wie ich das obere Badezimmer saubermachte, erkennen, dass ich die letzte Nacht damit verbracht hatte, einen Toten aus dem Old-Sow-Strudel zu ziehen, aber trotzdem war ich ziemlich angespannt.
Ich wurde erst etwas ruhiger, als mein Vater und ich unser Frühstück hinter uns gebracht hatten, ohne dass Sheriff Varga in seiner Funktion als Ordnungshüter bei uns aufgekreuzt war. Doch als ich etwas später in die Stadtmitte kam, wurde mir klar, dass der Ärger bereits in vollem Gange war.
Ein Großteil der Einheimischen lief umher, nippte heißen Kaffee aus Thermosflaschen und unterhielt sich im Flüsterton miteinander. Rockabill war von jeher eher salopp als schick - und das mit Überzeugung --, aber wir waren von Natur aus herzlich im Umgang, ein Wesenszug, den wir für die Touristen noch extra etwas übertrieben. Dadurch entstand ein starkes Gemeinschaftsgefühl, besonders, wenn der Hauptplatz wie heute voller Menschen war. Allerdings kamen wir nicht allzu oft hier zusammen, um über die Ermordung eines Feriengastes zu spekulieren.
Ich bereitete mich innerlich darauf vor, mich gleich durch die Menge schlängeln zu müssen, und entspannte mich erst etwas, als ich merkte, dass mir keiner besondere Beachtung schenkte. Schließlich entdeckte ich Grizelda, die ein unübersehbares fuchsiafarbenes Bolerojäckchen aus Satin trug, wie sie von Grüppchen zu Grüppchen eilte. Bei ihrem Anblick atmete ich erleichtert auf. Grizzie war wie ein Schwamm, der Klatsch und Tratsch aufsaugte. Sie würde jeden noch so winzigen Gerüchtetropfen blitzschnell absorbiert haben, und ich musste nur darauf warten, bis sie zum Auswringen in den Laden kam.
Also beschloss ich, einfach zur Arbeit zu gehen. Tracy war schon dabei, das Geschäft für die Kunden aufzusperren, als ich dort eintraf, und ihr normalerweise so fröhliches Gesicht wirkte ungewohnt grimmig. Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Hatte sich Sheriff Varga etwa schon nach mir erkundigt?
Aber sie spiegelte nur die aktuelle Stimmung in unserer Kleinstadt wider, und ihre Begrüßung klang eigentlich ganz normal, bis sie hinzufügte: »Hast du schon von der Leiche gehört?«
Ich bemühte mich, einen erstaunten Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Nein, was ist denn passiert? Was für eine Leiche?«
»Peter Jakes«, antwortete sie und runzelte die Stirn. »Mr. Flutie hat heute Morgen seine Leiche auf dem Trampelpfad hinter dem Strand gefunden.«
»Ah«, dachte ich, »sein Familienname war also Jakes.«
Tracy berichtete weiter. »Die Polizei will noch nichts Offizielles verkünden, aber es sieht wohl so aus, als sei er ermordet worden.«
»Nein?!«, rief ich und versuchte etwas von dem Schock der letzten Nacht in meiner Stimme mitklingen zu lassen. »Ist das dein Ernst?«
»Ja. Grizzie bringt gerade die ganze Geschichte in Erfahrung. So wie ich sie kenne, hat sie Kopien der Polizeiakten, wenn sie fertig ist.«
So weit war Tracys Vermutung gar nicht hergeholt. Grizzie kam eine Stunde später mit geröteten Wangen zurück. Sie platzte praktisch vor brandheißen Neuigkeiten, aber es drängten unerwartet viele Kunden in den Laden, also musste sie warten, bis wir sie alle bedient hatten, bevor sie ihren Klatsch loswerden konnte.
Und sie wurde ihn los.
Kaum war die Tür hinter der letzten Kundin ins Schloss gefallen, baute sich Grizelda vor Tracy und mir auf und legte jeder von uns jeweils eine Hand auf die Schulter, als wären wir das Symbol einer neuen heiligen Dreifaltigkeit, bestehend aus Gerüchten, Spekulationen und Andeutungen.
»Peter Jakes«, sagte sie mit der Stimme des Sprechers einer True-Crime-Fernsehserie, »wurde ermordet.«
Tracy rollte nur genervt mit den Augen und forderte sie mit einer Handbewegung ungeduldig zum Weitersprechen auf.
Aber Grizzie ließ sich von unserer Ungeduld nicht beirren und setzte ihren Bericht mit vielen dramatischen Pausen fort.
»Er wurde in seiner eigenen Einfahrt ermordet«, sagte sie gewichtig. »Er war gerade auf dem Markt gewesen und hatte Lebensmittel eingekauft. Er wollte sie gerade aus dem Auto ausladen - und bam! -, da schlägt ihm jemand mit einem Stein aus seinem eigenen Garten auf den Kopf.«
Sie sah verschwörerisch von einer zur anderen und ließ ihre Worte erst einmal wirken, bevor sie fortfuhr. »Das wissen sie, weil dieser Junge aus dem Supermarkt Peter beim Einladen geholfen hat und seine Einkäufe noch immer verstreut in seiner Einfahrt lagen, als die Polizei dort eintraf. Auch die Tatwaffe, ein Stein, lag dort einfach herum, voller Blut und gleich neben einer Packung Frühstücksflocken.«
Wieder legte sie eine Kunstpause ein und fuhr dann eifrig fort. »Die alte Mrs. Patterson sagt, sie hat gegen halb sechs einen schwarzen Mercedes zu seinem Haus fahren sehen, der dann erst um circa vier Uhr morgens wieder wegfuhr.« Dann schüttelte sie missbilligend den Kopf. »Die alte Klatschtante schläft wohl nie.«
Tracy und ich sahen uns an und versuchten dabei, ernst zu bleiben.
»Egal, die Polizei glaubt, dass der Fahrer des Autos auch der Mörder sein könnte. Falls dem so ist, bedeutet das, dass es jemand von außerhalb und niemand aus Rockabill selbst war, denn hier hat schließlich niemand einen Benz.«
Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich hinweg, doch dieses Gefühl war nicht von langer Dauer.
»Aber eine Sache ergibt trotzdem keinen Sinn …«
»Oh, oh«, dachte ich, »jetzt kommt’s.«
»Anscheinend existierte der Mann, den wir als Peter Jakes kannten, gar nicht wirklich.«
Es gelang mir, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten, und Tracy brummte: »Was soll das heißen?«
»Es bedeutet«, sagte Grizzie ungeduldig, »dass Jakes zwar eine Kreditkarte und einen kanadischen Pass hatte, aber sonst nichts. Keine Heimatadresse, keinerlei Vorstrafen in den USA oder Kanada. Nichts. Als hätte er gar nicht existiert. Er hatte nur ein Postfach irgendwo in der Nähe von Quebec.«
»Das klingt ja geheimnisvoll«, murmelte ich, aber Grizzie war noch nicht fertig. Verdammt.
»Ach, das bringt mich auf das wirklich große Geheimnis in dieser Sache … Peters Leiche lag definitiv im Meer, deshalb denkt die Polizei, dass sein Mörder ihn verschwinden lassen wollte. Aber irgendwie landete er stattdessen auf dem Trampelpfad beim Strand.«
Ich runzelte die Stirn, riss so erstaunt wie möglich die Augen auf und setzte einen ungeheuer verwunderten Blick auf. Dabei vermied ich es, Grizzie direkt in die Augen zu schauen. Wenn es nicht zu auffällig gewesen wäre, hätte ich noch unschuldig vor mich hingepfiffen.
»Sie haben keine Ahnung, wie er dort hingekommen ist und wer es getan hat. Es gibt nirgends Fingerabdrücke. Es wurde auch nichts gestohlen außer dem Notizbuch, in dem er die Aufzeichnungen für sein Buch festgehalten hat. Aber das ist ja überhaupt nicht wertvoll. Ach doch, sein Auto ist verschwunden, aber das war eine richtige Rostlaube, warum sollte ihn also deswegen einer umbringen? Außerdem, wenn der Fahrer des Mercedes der Mörder ist, dann ist er ja offensichtlich nicht mit Peters Auto davongefahren. Die Polizei glaubt, der Mörder hat das Auto dazu benutzt, Peters Leiche loszuwerden, und es dann irgendwo stehen lassen. Sie suchen bereits danach, aber es kann natürlich überall sein.«
Um die Spannung zu steigern, blickte Grizzie vielsagend von einer zur anderen. »Es kann also weder ein Raubüberfall noch ein Unfall gewesen sein. Wer auch immer Peter Jakes umgebracht hat, kam nur nach Rockabill, um einen Mord zu begehen.«
Tracy seufzte. »Er schien so ein stiller, freundlicher Mann zu sein«, sagte sie bedauernd. »Aber ich wette, wir alle haben so unsere Geheimnisse.«
Die Wahrheit hinter Tracys Worten zeigte sich schon allein darin, wie wir im kleinen Kreis zusammenstanden und vermieden, uns gegenseitig in die Augen zu schauen. Wir drei waren Experten in Sachen Geheimnis.
 
Die Arbeit verging wie im Flug. Viele Leute schauten im Read it and weep unter dem Vorwand vorbei, einen Kaffee trinken zu wollen oder eine Zeitung zu kaufen, aber tatsächlich kamen sie, um von Grizzies wohlbekanntem Klatschtalent zu profitieren. Dann kam auch noch eine ganze Busladung Meereskundler, die im Rahmen einer Konferenz an der Universität von Maine einen Tagesausflug zum Old-Sow-Strudel machten. Wir ließen sie ihre Takeaway-Kaffees an unseren Tischchen trinken, während der Rest der Gruppe Andenken in unserem Laden kaufte. Einer der Wissenschaftler war ziemlich unheimlich und starrte mich die ganze Zeit an. Für einen Akademiker wirkte er ein bisschen zu schmierig, aber sonst passte er genau ins Bild: dickes Brillengestell, Leinenhosen und ein bis oben zugeknöpftes Poloshirt. Das strähnige braune Haar hing ihm ins Gesicht, und er glotzte mich an, als würden mir Hörner aus der Stirn wachsen. Mich fröstelte, und ich sah prüfend zur Eingangstür. Sie war geschlossen, aber ein eisiger Luftzug von irgendwoher bereitete mir Gänsehaut. Als ich mich wieder von der Tür abwandte, stierte mich Mr. Gruselig noch immer an. Natürlich war mir klar, dass er weder meine schillernde Persönlichkeit noch meine unaufdringliche Eleganz bewunderte. Vermutlich erinnerte er sich an mich aus der Zeitung. Ich konnte nur hoffen, dass ich den Schlagzeilen über mich gerecht wurde.
Als die Meereskundler aus dem Laden geströmt waren und ich die Cafétische wieder in Ordnung gebracht hatte, war es bereits fast vier Uhr nachmittags. Was Peters Ermordung betraf, gab es noch keine neuen Erkenntnisse. Das Auto war noch immer nicht wieder aufgetaucht, und der Suchtrupp hatte es für heute damit bewenden lassen, da die Dunkelheit bereits hereinbrach.
Wir waren alle ziemlich erschöpft von dem unerwartet hektischen Tag, also beschlossen wir, eine halbe Stunde früher als sonst zu schließen. Bevor ich ging, tat ich so, als wickelte ich mich gegen die Kälte ein, obwohl ich es hasste, sogar vor Tracy und Grizzie mein wahres Ich verbergen zu müssen. Dann verabschiedete ich mich von den beiden und machte mich auf den Heimweg.
Mein Arbeitsweg dauerte zu Fuß etwa eine Stunde, aber ich fuhr nicht gern mit dem Auto. Außerdem war es ja nicht so, als hätte ich ein ausgefülltes Sozialleben, und mit dem täglichen Fußweg vertrieb ich mir ein wenig die Zeit. Ich nahm das Auto nur, wenn ich einkaufen ging, ansonsten überließ ich es meinem Vater, falls er irgendetwas unternehmen wollte.
In der Stadt waren immer noch mehr Leute unterwegs als üblich. »Es braucht nur einen grausigen Mord, und schon rücken die Leute zusammen«, dachte ich bitter. Ich wusste nur zu gut, wie selbst anständige Leute sich an den Tragödien anderer erfreuten.
Mein Ärger legte sich wieder, als ich das Ende unserer kleinen Hauptstraße erreicht hatte. Ich atmete ein paarmal tief durch, löste meinen Schal, machte den Reißverschluss meiner Jacke auf und steckte meine Handschuhe in die Taschen. Ich wusste, dass es ziemlich kalt sein musste; mein Atem war so deutlich zu sehen, dass man ihn fast greifen könnte. Aber mein Körper empfand diese Temperaturen als angenehm, und wenn ich mutiger gewesen wäre, hätte ich meinen Mantel ganz ausgezogen.
Nach all dem Stress am Nachmittag und in der Nacht zuvor genoss ich es, nach Hause zu spazieren und meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Ich liebte diese Jahreszeit. Das Meer war etwas wärmer - wenn auch immer noch eiskalt - als die Luft, denn das Wasser brauchte nach dem Sommer etwas länger als die Erde, um sich abzukühlen. Aber da es draußen so kalt war, dass kaum jemand unterwegs war, und fast alle Touristen abgereist waren, hätte ich eigentlich nicht so paranoid sein müssen.
Wirklich entspannt konnte ich in Rockabill nie sein, aber jeden Tag nach Hause zu laufen ohne einer Menschenseele, egal, ob Tourist oder Einheimischer, zu begegnen, war eine wahre Erholung für mich und half mir sehr dabei, halbwegs zur Ruhe zu kommen. Allerdings konnte der lange Weg in der Dunkelheit manchmal auch ziemlich unheimlich sein, besonders wenn gerade erst jemand ermordet worden war und ich seine Leiche gefunden hatte.
Ich erschauderte, als ich an die klamme Haut des armen Peters dachte und an seine starren Augen. Und die Wunde an seinem Hinterkopf …
Unbewusst hatten sich meine Schritte beschleunigt, aber ich zwang mich langsam zu gehen. »Sei nicht lächerlich«, sagte ich mir. »Wir sind hier in Rockabill. Wer auch immer Peter war, er hat die Probleme selbst mit hierhergebracht und sie mit seinem Tod wieder mitgenommen. Kleine Dörfer in Maine waren nicht gerade der typische Schauplatz von Serienmorden. Sofern es sich nicht gerade um Cabot Cove handelte, das kleine fiktive Fischerdorf, in dem Jessica Fletcher in der Fernsehserie Mord ist ihr Hobby ermittelt.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich mir die Schauspielerin Angela Lansbury im winzigen Sheriffbüro von Rockabill vorstellte; George Varga, der den Kopf schüttelte und betreten sagte: »Meine Güte, Mrs. Fletcher, ich hatte ja keine Ahnung, dass es der Butler war.«
Mir kam gerade der Gedanke, dass ich hier die Genres durcheinanderwarf und dass Butler in Rockabill mindestens genauso unwahrscheinlich waren wie Serienmörder oder erfundene Krimifiguren, als ich plötzlich ein lautes Schnalzen hörte.
Ich erstarrte. In dem Wäldchen, durch das mein Weg führte, war es plötzlich totenstill, was alles andere als normal war. Rockabill lag mitten im Nirgendwo, mein Vater und ich lebten so weit außerhalb, wie wir nur konnten, und zählten trotzdem noch als Dorfbewohner. Unsere Wälder waren das ganze Jahr über voll wildlebender Tiere und Vögel.
Warum war es bloß so still?
Ich lauschte angestrengt … Da nahm ich seitlich von mir den Hauch einer Bewegung wahr. Es war aber nicht das zufällige Rascheln von vorbeihuschenden Schritten. Was auch immer das Geräusch verursachte, es kam zielstrebig auf mich zu.
Ich drehte mich um und starrte angestrengt in den dunklen Wald. Der Mond war nur eine schmale, blasse Sichel am Himmel, und ich konnte nichts erkennen.
Plötzlich setzte mein Herz aus. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas Großes auf den Weg huschen. Dann rannte ich los.
Panik brandete in einer Woge aus Adrenalin durch mich hindurch, und ich lief, wie ich noch nie zuvor gelaufen war. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und versuchte nur, einen Fuß vor den anderen zu setzen und dabei nicht über die Enden meines flatternden Schals zu stolpern. Irgendwie gelang es mir, ihn mir vom Hals zu reißen und ihn auf den Weg gleiten zu lassen. Doch da nahm ich wieder einen Schatten wahr, der auf die Straße glitt, nur diesmal vor mir.
»Verdammt!«, dachte ich und hechtete vom Weg. Ein kleiner Bereich meines Gehirns war sich darüber im Klaren, dass es eine verdammt schlechte Idee war, den Weg zu verlassen, aber meine restlichen grauen Zellen wollten einfach nur so viel Abstand wie irgend möglich von dem bedrohlichen Schatten gewinnen.
Ich wusste, ich bewegte mich in Richtung Strand, und ich wusste auch, dass ich in Sicherheit sein würde, falls ich das Wasser erreichte. Dieser Gedanke machte mir Mut, und meine Schritte wurden entschlossener. Niemand würde mir ins Wasser folgen können, aber wenn ich den Angreifer zu mir nach Hause lockte, was würde mein Vater schon großartig tun können, um uns zu verteidigen? Wir hatten keine Waffe im Haus, und mein Vater war zu schwach, um es mit irgendjemandem aufzunehmen. Also blieb mir nur der Strand. Das war auf jeden Fall besser als das, was mich da verfolgte, zu den Resten meiner Familie zu lotsen.
Ich stolperte, fluchte, konnte mich gerade noch fangen. Lautes Rascheln, das aus dem Wald hinter mir drang, sagte mir, dass ich noch immer verfolgt wurde. Doch mein Verfolger holte nicht auf, und das beunruhigte mich etwas. Abgesehen vom Schwimmen war ich nämlich eher träge als schnell. Womöglich könnte ich gerade noch ein dreijähriges Kind abhängen, aber sonst…
Ich scherte nach links aus. Das war der kürzeste Weg zum Strand und um zu entkommen. Ich witterte schon den Geruch des Meeres, der mir den Weg ins sichere Wasser wies.
Aber da nahm ich wieder einen dunklen Schatten zu meiner Linken wahr und musste nach rechts ausweichen. Eine Sekunde lang erhaschte ich einen Blick auf weiße Augäpfel und aufblitzende Zähne. Was auch immer mich da jagte, es musste sich um irgendein Tier handeln.
Auch wenn es mich unter den gegebenen Umständen nicht direkt erleichterte, kam dennoch irgendwo in meinem Gehirn die Information an, dass das, was mich da verfolgte, unmöglich der Mörder von Peter gewesen sein konnte. Zähnefletschende Bestien schlugen ihren Opfern keinen Stein über den Schädel und stopften sie dann in den Kofferraum eines Autos, um die Leiche im Meer verschwinden zu lassen.
Aber der Gedanke wurde bald von der aufwallenden Erschöpfung verdrängt, die mich zu lähmen begann. Der erste Adrenalinstoß war verflogen, und meine Lunge und die Beine schmerzten bereits von der Verausgabung. Im Wasser hatte ich zwar eine unglaubliche Ausdauer, aber an Land war ich kaum flinker als ein durchschnittliches Meerschweinchen. Mein Verfolger hätte mich eigentlich schon längst ganz lässig einholen können. Anscheinend wollte er mich gar nicht erwischen … aber was dann?
Ich versuchte erneut, einen Haken nach links zu schlagen. Die salzige Luft, die von dort herüberwehte, verhieß mir Sicherheit. Aber wieder drängte mich der dunkle Schatten meines Verfolgers nach rechts ab, und meine schlimmste Befürchtung bewahrheitete sich.
Das Ding trieb mich vor sich her.
Was es auch immer war, es jagte mich dorthin, wo es mich haben wollte, wie ein verdammtes Schaf.
Mittlerweile tat mir alles weh, es war ein Wunder, dass ich überhaupt so lange durchhielt. Nur dieser huschende dunkle Schatten ließ meine Beine weiterlaufen. Aber meine Kräfte verließen mich, ich wurde immer langsamer und begann darüber nachzudenken, ob ich nicht lieber stehen bleiben und meinem Verfolger die Stirn bieten sollte.
Aber dann wurde mir klar, wo ich mich mittlerweile befand: gleich hinter meiner geheimen Bucht. Sie war nur durch den Wald auf der Seite oder übers Meer zu erreichen. Abgesehen von einem schmalen Streifen Strand und einer engen Bresche dorthin war sie völlig von Felswänden umgeben. Wenn ich es irgendwie zu dieser Bucht hinunter schaffen könnte …
Ich mobilisierte meine letzten Kraftreserven, um den Durchgang zu erreichen. Wenn ich Glück hatte, kannte mein Verfolger die Bresche in den Felsen nicht und dachte, er würde mich in eine Falle treiben. Wenn ich erst einmal durch die Lücke gelangt war, war es nur noch ein kurzer Sprint bis zum Meer, und ich wäre in Sicherheit.
Allerdings stolperte ich mittlerweile eher hastig vorwärts und keuchte dabei wie ein altersschwacher Löwe. Jeder Schritt war eine Folter. Der Schmerz schoss mir in die Waden, und meine Lunge fühlte sich an, als würde sie jeden Moment bersten. Aber ich wusste, ich durfte jetzt nicht nachlassen, also stürzte ich weiter vorwärts. Ich drehte leicht nach rechts ab, der Felsspalte entgegen, was mein Verfolger glücklicherweise auch zuließ. War es möglich, dass ich auf diesem Wege doch noch entkam? Das Ding hatte offenbar keine Ahnung …
Als ich die Bresche erreichte, hechtete ich hinein und schrie schon triumphierend auf, doch mit einem »Umpf« erstarb meine Stimme gleich wieder. Mein verdammter Mantel hatte sich irgendwo verfangen, als ich versucht hatte, mich zu schnell durch die enge Felsöffnung zu zwängen. Von meinem eigenen Schwung wurde ich schmerzhaft gegen die Wand aus rauem Stein geschleudert, und ich spürte, wie die Haut über meinem Augenlid platzte. Vor Schmerz verschlug es mir den Atem, und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Ich hörte wieder das verhängnisvolle Rascheln in meinem Rücken. Panisch starrte ich auf die Baumgrenze hinter mir. Blut tropfte mir ins Auge und brannte höllisch. Etwas tauchte aus dem Dickicht auf, und ich wollte auf keinen Fall hier feststecken, wenn es herauskam und sich mir vorstellen wollte.
Ein seltsam erstickter Laut löste sich aus meiner Kehle wie bei einem verwundeten Feldhasen, und ich zerrte an der Kordel meines Mantels. Aber ich kam nicht los. Erst dann fiel mir auf, dass ich mich wie ein Idiot benahm und schlüpfte aus den Ärmeln. Die Jacke blieb am Felsen baumelnd zurück. Ich fuhr herum und hastete weiter in die Bucht hinein. Doch dort erwartete mich der zweite abgrundtiefe Schock in ebenso vielen Tagen.
In einem Schaukelstuhl, der auf einer bunten Patchworkdecke im sonst völlig unberührten Sand stand, saß eine winzige Frau. Sie konnte im Stehen nicht viel größer als einen halben Meter sein und trug schlichte grünblaue Kleidung. Ihre silbergrauen Haare waren zu einem grotesk großen Knoten aufgetürmt, und sie lächelte mich freundlich an.
»Hallo, mein Kind«, sagte sie. Hinter mir vernahm ich leises Schnaufen und verhaltenes Jaulen.
Ich wollte die nette Dame lieber nicht aus den Augen lassen, denn ich war überzeugt, sie würde ein Messer zücken, sobald ich ihr den Rücken zukehrte. Außerdem war ich auch nicht besonders scharf darauf, meinem Verfolger ins Gesicht zu sehen. Dennoch konnte ich mich meinem Schicksal auch nicht kampflos ergeben. Ich musste mich dem Angreifer stellen.
Ganz, ganz langsam drehte ich mich um, die Hände kampfbereit zu Fäusten geballt. Nicht, dass ich mich jemals im Leben schon mit jemandem geprügelt hätte - bisher waren die Waffen meiner Gegner immer Worte gewesen, auch wenn sie damit nicht wenig Schaden anrichteten.
Vor mir stand der größte Hund, den ich je gesehen hatte. Er sah nicht aus wie ein Wolf, eher wie ein zotteliger schwarzer Säbelzahn-Höllenhund. Mein erstaunter Blick wanderte von seinen riesigen Pfoten über seine kräftigen Schultern zu seinem überdimensionalen Maul, das mit den größten Fangzähnen bestückt war, die ich jemals außerhalb eines prähistorischen Museums gesehen hatte.
Er riss sein sabberndes Maul noch weiter auf, als ein leises Jaulen tief aus seinem Bauch drang. Er spitzte die Ohren und fixierte mich, als wolle er mich hypnotisieren. Ich spürte, wie tief aus meiner Magengrube Todesangst aufstieg, die mich zu überwältigen drohte.
Aber wie alle Trues war auch ich aus härterem Holz geschnitzt, also reagierte ich mit genauso viel Mut und Entschlossenheit wie am Tag zuvor, als ich auf Peters Leiche gestoßen war.
Ich fiel direkt in Ohnmacht.