KAPITEL 3
Der schrille Ton meines Weckers drang in
mein Hirn und verscheuchte die Träume, die mich während meines
kurzen, unruhigen Schlafes gequält hatten. Ich hatte einen
scheußlichen Geschmack im Mund: die Rache meines Magens für all die
Panik und die Übelkeit, die er in der Nacht zuvor hatte aushalten
müssen. Apropos …
Ich hatte einen Toten gefunden.
Wie erschlagen lag ich im Bett und versuchte zu
begreifen, was geschehen war. Im Licht der schwachen Novembersonne,
die durch meine Vorhänge sickerte, erschien mir das, was ich getan
hatte, bei weitem nicht mehr so plausibel wie im Schleier der
nächtlichen Dunkelheit.
Es gab keinerlei Garantie dafür, dass die Leiche
dort, wo ich sie hingeschafft hatte, eher gefunden wurde als an dem
Ort, wo der Old-Sow-Strudel sie vielleicht letztendlich angespült
hätte. Was, wenn Russ ausgerechnet heute einen anderen Weg
entlanggetragen werden wollte? Was, wenn Mr. Flutie seine
morgendliche Routine unterbrochen und stattdessen nach Vegas
gefahren war, um seine Ersparnisse
bei Black Jack und Striptease auf den Kopf zu hauen? Was, wenn,
Gott bewahre, ich seine Konstitution überschätzt hatte und nun zwei
Tote auf dem Trampelpfad lagen: Peter, der einem Verbrechen zum
Opfer gefallen, und Mr. Flutie, der von einem Herzinfarkt
dahingerafft worden war?
Außerdem hatte ich bestimmt alle Spuren an Peters
Körper vernichtet. Wenn nach der langen Zeit, die seine Leiche
schon im Wasser gelegen hatte, noch irgendwelche Hinweise auf
seinen Mörder existiert hatten, dann hatte ich sie zweifellos
endgültig zerstört, indem ich ihn noch durch den Sand gezerrt
hatte. Ganz zu schweigen davon, dass es nun so aussah, als habe ihn
sein Mörder erst am Strand abgelegt, nachdem er ihn nur so zum Spaß
ins Meer geworfen hatte …
Das brachte mich auf einen dritten Grund, warum ich
Peter niemals hätte anfassen dürfen. Eine Leiche allein war für
Rockabill schon abenteuerlich genug. Aber jetzt musste die Polizei
vermuten, es mit einem wahnsinnigen Mörder zu tun zu haben, der
sich offenbar nicht hatte entscheiden können, wo er sein Opfer
ablegen wollte, und sich schließlich einen Spaß daraus gemacht zu
haben schien, den Trampelpfad am Strand mit der Leiche zu
dekorieren.
Ich zog mein Kissen unter dem Kopf hervor und
presste es mir aufs Gesicht. Wie hatte ich nur so bescheuert sein
können? Warum hatte ich ihn nicht einfach am Strand gelassen?
Dann musste ich wieder an Peters armes, totes
Gesicht denken und an die Freundlichkeit, die er zu Lebzeiten mir
gegenüber an den Tag gelegt hatte, und ich wusste, dass ich ihn
unmöglich einfach da draußen, den tosenden Elementen ausgesetzt,
hätte lassen können.
Ich warf das Kissen zur Seite und zwang mich
aufzustehen. Ich musste rüber nach Rockabill gehen und die Suppe
auslöffeln, falls es denn eine Suppe auszulöffeln gab.
»Du könntest dich aber auch«, sagte die
verschlagene Stimme in meinem Kopf, »unter deiner Decke verstecken
und einfach nicht mehr herauskommen, egal, wer an die Tür
klopft.«
Aber meine Klinikerfahrung hatte mich gelehrt, dass
es einem nichts nutzt, sich im Pyjama vor der Welt zu verkriechen.
Also stand ich auf und machte mich für die Arbeit fertig. Dann ging
ich nach unten, um das Frühstück herzurichten, und versuchte, meine
Dienstagsroutine so normal wie möglich zu absolvieren. Man würde
zwar nicht gleich an der Art und Weise, wie ich das obere
Badezimmer saubermachte, erkennen, dass ich die letzte Nacht damit
verbracht hatte, einen Toten aus dem Old-Sow-Strudel zu ziehen,
aber trotzdem war ich ziemlich angespannt.
Ich wurde erst etwas ruhiger, als mein Vater und
ich unser Frühstück hinter uns gebracht hatten, ohne dass Sheriff
Varga in seiner Funktion als Ordnungshüter bei uns aufgekreuzt war.
Doch als ich etwas später in die Stadtmitte kam, wurde mir klar,
dass der Ärger bereits in vollem Gange war.
Ein Großteil der Einheimischen lief umher, nippte
heißen Kaffee aus Thermosflaschen und unterhielt sich im Flüsterton
miteinander. Rockabill war von jeher eher salopp als schick - und
das mit Überzeugung --, aber wir waren von Natur aus herzlich im
Umgang, ein Wesenszug, den wir für die Touristen noch extra etwas
übertrieben. Dadurch entstand ein starkes Gemeinschaftsgefühl,
besonders, wenn der Hauptplatz wie heute voller Menschen war.
Allerdings kamen
wir nicht allzu oft hier zusammen, um über die Ermordung eines
Feriengastes zu spekulieren.
Ich bereitete mich innerlich darauf vor, mich
gleich durch die Menge schlängeln zu müssen, und entspannte mich
erst etwas, als ich merkte, dass mir keiner besondere Beachtung
schenkte. Schließlich entdeckte ich Grizelda, die ein
unübersehbares fuchsiafarbenes Bolerojäckchen aus Satin trug, wie
sie von Grüppchen zu Grüppchen eilte. Bei ihrem Anblick atmete ich
erleichtert auf. Grizzie war wie ein Schwamm, der Klatsch und
Tratsch aufsaugte. Sie würde jeden noch so winzigen Gerüchtetropfen
blitzschnell absorbiert haben, und ich musste nur darauf warten,
bis sie zum Auswringen in den Laden kam.
Also beschloss ich, einfach zur Arbeit zu gehen.
Tracy war schon dabei, das Geschäft für die Kunden aufzusperren,
als ich dort eintraf, und ihr normalerweise so fröhliches Gesicht
wirkte ungewohnt grimmig. Mein Herz setzte für einen Schlag aus.
Hatte sich Sheriff Varga etwa schon nach mir erkundigt?
Aber sie spiegelte nur die aktuelle Stimmung in
unserer Kleinstadt wider, und ihre Begrüßung klang eigentlich ganz
normal, bis sie hinzufügte: »Hast du schon von der Leiche
gehört?«
Ich bemühte mich, einen erstaunten Gesichtsausdruck
aufzusetzen. »Nein, was ist denn passiert? Was für eine
Leiche?«
»Peter Jakes«, antwortete sie und runzelte die
Stirn. »Mr. Flutie hat heute Morgen seine Leiche auf dem
Trampelpfad hinter dem Strand gefunden.«
»Ah«, dachte ich, »sein Familienname war also
Jakes.«
Tracy berichtete weiter. »Die Polizei will noch
nichts Offizielles verkünden, aber es sieht wohl so aus, als sei er
ermordet worden.«
»Nein?!«, rief ich und versuchte etwas von dem
Schock der letzten Nacht in meiner Stimme mitklingen zu lassen.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja. Grizzie bringt gerade die ganze Geschichte in
Erfahrung. So wie ich sie kenne, hat sie Kopien der Polizeiakten,
wenn sie fertig ist.«
So weit war Tracys Vermutung gar nicht hergeholt.
Grizzie kam eine Stunde später mit geröteten Wangen zurück. Sie
platzte praktisch vor brandheißen Neuigkeiten, aber es drängten
unerwartet viele Kunden in den Laden, also musste sie warten, bis
wir sie alle bedient hatten, bevor sie ihren Klatsch loswerden
konnte.
Und sie wurde ihn los.
Kaum war die Tür hinter der letzten Kundin ins
Schloss gefallen, baute sich Grizelda vor Tracy und mir auf und
legte jeder von uns jeweils eine Hand auf die Schulter, als wären
wir das Symbol einer neuen heiligen Dreifaltigkeit, bestehend aus
Gerüchten, Spekulationen und Andeutungen.
»Peter Jakes«, sagte sie mit der Stimme des
Sprechers einer True-Crime-Fernsehserie, »wurde ermordet.«
Tracy rollte nur genervt mit den Augen und forderte
sie mit einer Handbewegung ungeduldig zum Weitersprechen auf.
Aber Grizzie ließ sich von unserer Ungeduld nicht
beirren und setzte ihren Bericht mit vielen dramatischen Pausen
fort.
»Er wurde in seiner eigenen Einfahrt ermordet«,
sagte
sie gewichtig. »Er war gerade auf dem Markt gewesen und hatte
Lebensmittel eingekauft. Er wollte sie gerade aus dem Auto ausladen
- und bam! -, da schlägt ihm jemand mit einem Stein aus
seinem eigenen Garten auf den Kopf.«
Sie sah verschwörerisch von einer zur anderen und
ließ ihre Worte erst einmal wirken, bevor sie fortfuhr. »Das wissen
sie, weil dieser Junge aus dem Supermarkt Peter beim Einladen
geholfen hat und seine Einkäufe noch immer verstreut in seiner
Einfahrt lagen, als die Polizei dort eintraf. Auch die Tatwaffe,
ein Stein, lag dort einfach herum, voller Blut und gleich neben
einer Packung Frühstücksflocken.«
Wieder legte sie eine Kunstpause ein und fuhr dann
eifrig fort. »Die alte Mrs. Patterson sagt, sie hat gegen halb
sechs einen schwarzen Mercedes zu seinem Haus fahren sehen, der
dann erst um circa vier Uhr morgens wieder wegfuhr.« Dann
schüttelte sie missbilligend den Kopf. »Die alte Klatschtante
schläft wohl nie.«
Tracy und ich sahen uns an und versuchten dabei,
ernst zu bleiben.
»Egal, die Polizei glaubt, dass der Fahrer des
Autos auch der Mörder sein könnte. Falls dem so ist, bedeutet das,
dass es jemand von außerhalb und niemand aus Rockabill selbst war,
denn hier hat schließlich niemand einen Benz.«
Eine Welle der Erleichterung schwappte über mich
hinweg, doch dieses Gefühl war nicht von langer Dauer.
»Aber eine Sache ergibt trotzdem keinen Sinn
…«
»Oh, oh«, dachte ich, »jetzt kommt’s.«
»Anscheinend existierte der Mann, den wir als Peter
Jakes kannten, gar nicht wirklich.«
Es gelang mir, meine Gesichtszüge unter Kontrolle
zu halten, und Tracy brummte: »Was soll das heißen?«
»Es bedeutet«, sagte Grizzie ungeduldig, »dass
Jakes zwar eine Kreditkarte und einen kanadischen Pass hatte, aber
sonst nichts. Keine Heimatadresse, keinerlei Vorstrafen in den USA
oder Kanada. Nichts. Als hätte er gar nicht existiert. Er hatte nur
ein Postfach irgendwo in der Nähe von Quebec.«
»Das klingt ja geheimnisvoll«, murmelte ich, aber
Grizzie war noch nicht fertig. Verdammt.
»Ach, das bringt mich auf das wirklich große
Geheimnis in dieser Sache … Peters Leiche lag definitiv im Meer,
deshalb denkt die Polizei, dass sein Mörder ihn verschwinden lassen
wollte. Aber irgendwie landete er stattdessen auf dem Trampelpfad
beim Strand.«
Ich runzelte die Stirn, riss so erstaunt wie
möglich die Augen auf und setzte einen ungeheuer verwunderten Blick
auf. Dabei vermied ich es, Grizzie direkt in die Augen zu schauen.
Wenn es nicht zu auffällig gewesen wäre, hätte ich noch unschuldig
vor mich hingepfiffen.
»Sie haben keine Ahnung, wie er dort hingekommen
ist und wer es getan hat. Es gibt nirgends Fingerabdrücke. Es wurde
auch nichts gestohlen außer dem Notizbuch, in dem er die
Aufzeichnungen für sein Buch festgehalten hat. Aber das ist ja
überhaupt nicht wertvoll. Ach doch, sein Auto ist verschwunden,
aber das war eine richtige Rostlaube, warum sollte ihn also
deswegen einer umbringen? Außerdem, wenn der Fahrer des Mercedes
der Mörder ist, dann ist er ja offensichtlich nicht mit Peters Auto
davongefahren. Die Polizei glaubt, der Mörder hat das Auto dazu
benutzt,
Peters Leiche loszuwerden, und es dann irgendwo stehen lassen. Sie
suchen bereits danach, aber es kann natürlich überall sein.«
Um die Spannung zu steigern, blickte Grizzie
vielsagend von einer zur anderen. »Es kann also weder ein
Raubüberfall noch ein Unfall gewesen sein. Wer auch immer Peter
Jakes umgebracht hat, kam nur nach Rockabill, um einen Mord zu
begehen.«
Tracy seufzte. »Er schien so ein stiller,
freundlicher Mann zu sein«, sagte sie bedauernd. »Aber ich wette,
wir alle haben so unsere Geheimnisse.«
Die Wahrheit hinter Tracys Worten zeigte sich schon
allein darin, wie wir im kleinen Kreis zusammenstanden und
vermieden, uns gegenseitig in die Augen zu schauen. Wir drei waren
Experten in Sachen Geheimnis.
Die Arbeit verging wie im Flug. Viele Leute
schauten im Read it and weep unter dem Vorwand vorbei, einen
Kaffee trinken zu wollen oder eine Zeitung zu kaufen, aber
tatsächlich kamen sie, um von Grizzies wohlbekanntem Klatschtalent
zu profitieren. Dann kam auch noch eine ganze Busladung
Meereskundler, die im Rahmen einer Konferenz an der Universität von
Maine einen Tagesausflug zum Old-Sow-Strudel machten. Wir ließen
sie ihre Takeaway-Kaffees an unseren Tischchen trinken, während der
Rest der Gruppe Andenken in unserem Laden kaufte. Einer der
Wissenschaftler war ziemlich unheimlich und starrte mich die ganze
Zeit an. Für einen Akademiker wirkte er ein bisschen zu schmierig,
aber sonst passte er genau ins Bild: dickes Brillengestell,
Leinenhosen und ein bis oben zugeknöpftes
Poloshirt. Das strähnige braune Haar hing ihm ins Gesicht, und er
glotzte mich an, als würden mir Hörner aus der Stirn wachsen. Mich
fröstelte, und ich sah prüfend zur Eingangstür. Sie war
geschlossen, aber ein eisiger Luftzug von irgendwoher bereitete mir
Gänsehaut. Als ich mich wieder von der Tür abwandte, stierte mich
Mr. Gruselig noch immer an. Natürlich war mir klar, dass er weder
meine schillernde Persönlichkeit noch meine unaufdringliche Eleganz
bewunderte. Vermutlich erinnerte er sich an mich aus der Zeitung.
Ich konnte nur hoffen, dass ich den Schlagzeilen über mich gerecht
wurde.
Als die Meereskundler aus dem Laden geströmt waren
und ich die Cafétische wieder in Ordnung gebracht hatte, war es
bereits fast vier Uhr nachmittags. Was Peters Ermordung betraf, gab
es noch keine neuen Erkenntnisse. Das Auto war noch immer nicht
wieder aufgetaucht, und der Suchtrupp hatte es für heute damit
bewenden lassen, da die Dunkelheit bereits hereinbrach.
Wir waren alle ziemlich erschöpft von dem
unerwartet hektischen Tag, also beschlossen wir, eine halbe Stunde
früher als sonst zu schließen. Bevor ich ging, tat ich so, als
wickelte ich mich gegen die Kälte ein, obwohl ich es hasste, sogar
vor Tracy und Grizzie mein wahres Ich verbergen zu müssen. Dann
verabschiedete ich mich von den beiden und machte mich auf den
Heimweg.
Mein Arbeitsweg dauerte zu Fuß etwa eine Stunde,
aber ich fuhr nicht gern mit dem Auto. Außerdem war es ja nicht so,
als hätte ich ein ausgefülltes Sozialleben, und mit dem täglichen
Fußweg vertrieb ich mir ein wenig die Zeit. Ich nahm das Auto nur,
wenn ich einkaufen ging, ansonsten
überließ ich es meinem Vater, falls er irgendetwas unternehmen
wollte.
In der Stadt waren immer noch mehr Leute unterwegs
als üblich. »Es braucht nur einen grausigen Mord, und schon rücken
die Leute zusammen«, dachte ich bitter. Ich wusste nur zu gut, wie
selbst anständige Leute sich an den Tragödien anderer
erfreuten.
Mein Ärger legte sich wieder, als ich das Ende
unserer kleinen Hauptstraße erreicht hatte. Ich atmete ein paarmal
tief durch, löste meinen Schal, machte den Reißverschluss meiner
Jacke auf und steckte meine Handschuhe in die Taschen. Ich wusste,
dass es ziemlich kalt sein musste; mein Atem war so deutlich zu
sehen, dass man ihn fast greifen könnte. Aber mein Körper empfand
diese Temperaturen als angenehm, und wenn ich mutiger gewesen wäre,
hätte ich meinen Mantel ganz ausgezogen.
Nach all dem Stress am Nachmittag und in der Nacht
zuvor genoss ich es, nach Hause zu spazieren und meinen Gedanken
freien Lauf zu lassen. Ich liebte diese Jahreszeit. Das Meer war
etwas wärmer - wenn auch immer noch eiskalt - als die Luft, denn
das Wasser brauchte nach dem Sommer etwas länger als die Erde, um
sich abzukühlen. Aber da es draußen so kalt war, dass kaum jemand
unterwegs war, und fast alle Touristen abgereist waren, hätte ich
eigentlich nicht so paranoid sein müssen.
Wirklich entspannt konnte ich in Rockabill nie
sein, aber jeden Tag nach Hause zu laufen ohne einer Menschenseele,
egal, ob Tourist oder Einheimischer, zu begegnen, war eine wahre
Erholung für mich und half mir sehr dabei, halbwegs zur Ruhe zu
kommen. Allerdings konnte der lange Weg in
der Dunkelheit manchmal auch ziemlich unheimlich sein, besonders
wenn gerade erst jemand ermordet worden war und ich seine Leiche
gefunden hatte.
Ich erschauderte, als ich an die klamme Haut des
armen Peters dachte und an seine starren Augen. Und die Wunde an
seinem Hinterkopf …
Unbewusst hatten sich meine Schritte beschleunigt,
aber ich zwang mich langsam zu gehen. »Sei nicht lächerlich«, sagte
ich mir. »Wir sind hier in Rockabill. Wer auch immer Peter war, er
hat die Probleme selbst mit hierhergebracht und sie mit seinem Tod
wieder mitgenommen. Kleine Dörfer in Maine waren nicht gerade der
typische Schauplatz von Serienmorden. Sofern es sich nicht gerade
um Cabot Cove handelte, das kleine fiktive Fischerdorf, in dem
Jessica Fletcher in der Fernsehserie Mord ist ihr Hobby
ermittelt.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als
ich mir die Schauspielerin Angela Lansbury im winzigen Sheriffbüro
von Rockabill vorstellte; George Varga, der den Kopf schüttelte und
betreten sagte: »Meine Güte, Mrs. Fletcher, ich hatte ja keine
Ahnung, dass es der Butler war.«
Mir kam gerade der Gedanke, dass ich hier die
Genres durcheinanderwarf und dass Butler in Rockabill mindestens
genauso unwahrscheinlich waren wie Serienmörder oder erfundene
Krimifiguren, als ich plötzlich ein lautes Schnalzen hörte.
Ich erstarrte. In dem Wäldchen, durch das mein Weg
führte, war es plötzlich totenstill, was alles andere als normal
war. Rockabill lag mitten im Nirgendwo, mein Vater und ich lebten
so weit außerhalb, wie wir nur konnten, und zählten trotzdem noch
als Dorfbewohner. Unsere Wälder
waren das ganze Jahr über voll wildlebender Tiere und Vögel.
Warum war es bloß so still?
Ich lauschte angestrengt … Da nahm ich seitlich von
mir den Hauch einer Bewegung wahr. Es war aber nicht das zufällige
Rascheln von vorbeihuschenden Schritten. Was auch immer das
Geräusch verursachte, es kam zielstrebig auf mich zu.
Ich drehte mich um und starrte angestrengt in den
dunklen Wald. Der Mond war nur eine schmale, blasse Sichel am
Himmel, und ich konnte nichts erkennen.
Plötzlich setzte mein Herz aus. Aus dem Augenwinkel
sah ich etwas Großes auf den Weg huschen. Dann rannte ich
los.
Panik brandete in einer Woge aus Adrenalin durch
mich hindurch, und ich lief, wie ich noch nie zuvor gelaufen war.
Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und versuchte nur,
einen Fuß vor den anderen zu setzen und dabei nicht über die Enden
meines flatternden Schals zu stolpern. Irgendwie gelang es mir, ihn
mir vom Hals zu reißen und ihn auf den Weg gleiten zu lassen. Doch
da nahm ich wieder einen Schatten wahr, der auf die Straße glitt,
nur diesmal vor mir.
»Verdammt!«, dachte ich und hechtete vom Weg. Ein
kleiner Bereich meines Gehirns war sich darüber im Klaren, dass es
eine verdammt schlechte Idee war, den Weg zu verlassen, aber meine
restlichen grauen Zellen wollten einfach nur so viel Abstand wie
irgend möglich von dem bedrohlichen Schatten gewinnen.
Ich wusste, ich bewegte mich in Richtung Strand,
und
ich wusste auch, dass ich in Sicherheit sein würde, falls ich das
Wasser erreichte. Dieser Gedanke machte mir Mut, und meine Schritte
wurden entschlossener. Niemand würde mir ins Wasser folgen können,
aber wenn ich den Angreifer zu mir nach Hause lockte, was würde
mein Vater schon großartig tun können, um uns zu verteidigen? Wir
hatten keine Waffe im Haus, und mein Vater war zu schwach, um es
mit irgendjemandem aufzunehmen. Also blieb mir nur der Strand. Das
war auf jeden Fall besser als das, was mich da verfolgte, zu den
Resten meiner Familie zu lotsen.
Ich stolperte, fluchte, konnte mich gerade noch
fangen. Lautes Rascheln, das aus dem Wald hinter mir drang, sagte
mir, dass ich noch immer verfolgt wurde. Doch mein Verfolger holte
nicht auf, und das beunruhigte mich etwas. Abgesehen vom Schwimmen
war ich nämlich eher träge als schnell. Womöglich könnte ich gerade
noch ein dreijähriges Kind abhängen, aber sonst…
Ich scherte nach links aus. Das war der kürzeste
Weg zum Strand und um zu entkommen. Ich witterte schon den Geruch
des Meeres, der mir den Weg ins sichere Wasser wies.
Aber da nahm ich wieder einen dunklen Schatten zu
meiner Linken wahr und musste nach rechts ausweichen. Eine Sekunde
lang erhaschte ich einen Blick auf weiße Augäpfel und aufblitzende
Zähne. Was auch immer mich da jagte, es musste sich um irgendein
Tier handeln.
Auch wenn es mich unter den gegebenen Umständen
nicht direkt erleichterte, kam dennoch irgendwo in meinem Gehirn
die Information an, dass das, was mich da verfolgte, unmöglich der
Mörder von Peter gewesen sein
konnte. Zähnefletschende Bestien schlugen ihren Opfern keinen
Stein über den Schädel und stopften sie dann in den Kofferraum
eines Autos, um die Leiche im Meer verschwinden zu lassen.
Aber der Gedanke wurde bald von der aufwallenden
Erschöpfung verdrängt, die mich zu lähmen begann. Der erste
Adrenalinstoß war verflogen, und meine Lunge und die Beine
schmerzten bereits von der Verausgabung. Im Wasser hatte ich zwar
eine unglaubliche Ausdauer, aber an Land war ich kaum flinker als
ein durchschnittliches Meerschweinchen. Mein Verfolger hätte mich
eigentlich schon längst ganz lässig einholen können. Anscheinend
wollte er mich gar nicht erwischen … aber was dann?
Ich versuchte erneut, einen Haken nach links zu
schlagen. Die salzige Luft, die von dort herüberwehte, verhieß mir
Sicherheit. Aber wieder drängte mich der dunkle Schatten meines
Verfolgers nach rechts ab, und meine schlimmste Befürchtung
bewahrheitete sich.
Das Ding trieb mich vor sich her.
Was es auch immer war, es jagte mich dorthin, wo es
mich haben wollte, wie ein verdammtes Schaf.
Mittlerweile tat mir alles weh, es war ein Wunder,
dass ich überhaupt so lange durchhielt. Nur dieser huschende dunkle
Schatten ließ meine Beine weiterlaufen. Aber meine Kräfte verließen
mich, ich wurde immer langsamer und begann darüber nachzudenken, ob
ich nicht lieber stehen bleiben und meinem Verfolger die Stirn
bieten sollte.
Aber dann wurde mir klar, wo ich mich mittlerweile
befand: gleich hinter meiner geheimen Bucht. Sie war nur durch den
Wald auf der Seite oder übers Meer zu erreichen.
Abgesehen von einem schmalen Streifen Strand und einer engen
Bresche dorthin war sie völlig von Felswänden umgeben. Wenn ich es
irgendwie zu dieser Bucht hinunter schaffen könnte …
Ich mobilisierte meine letzten Kraftreserven, um
den Durchgang zu erreichen. Wenn ich Glück hatte, kannte mein
Verfolger die Bresche in den Felsen nicht und dachte, er würde mich
in eine Falle treiben. Wenn ich erst einmal durch die Lücke gelangt
war, war es nur noch ein kurzer Sprint bis zum Meer, und ich wäre
in Sicherheit.
Allerdings stolperte ich mittlerweile eher hastig
vorwärts und keuchte dabei wie ein altersschwacher Löwe. Jeder
Schritt war eine Folter. Der Schmerz schoss mir in die Waden, und
meine Lunge fühlte sich an, als würde sie jeden Moment bersten.
Aber ich wusste, ich durfte jetzt nicht nachlassen, also stürzte
ich weiter vorwärts. Ich drehte leicht nach rechts ab, der
Felsspalte entgegen, was mein Verfolger glücklicherweise auch
zuließ. War es möglich, dass ich auf diesem Wege doch noch entkam?
Das Ding hatte offenbar keine Ahnung …
Als ich die Bresche erreichte, hechtete ich hinein
und schrie schon triumphierend auf, doch mit einem »Umpf« erstarb
meine Stimme gleich wieder. Mein verdammter Mantel hatte sich
irgendwo verfangen, als ich versucht hatte, mich zu schnell durch
die enge Felsöffnung zu zwängen. Von meinem eigenen Schwung wurde
ich schmerzhaft gegen die Wand aus rauem Stein geschleudert, und
ich spürte, wie die Haut über meinem Augenlid platzte. Vor Schmerz
verschlug es mir den Atem, und ich konnte mich kaum auf den Beinen
halten. Ich hörte wieder das verhängnisvolle
Rascheln in meinem Rücken. Panisch starrte ich auf die Baumgrenze
hinter mir. Blut tropfte mir ins Auge und brannte höllisch. Etwas
tauchte aus dem Dickicht auf, und ich wollte auf keinen Fall hier
feststecken, wenn es herauskam und sich mir vorstellen
wollte.
Ein seltsam erstickter Laut löste sich aus meiner
Kehle wie bei einem verwundeten Feldhasen, und ich zerrte an der
Kordel meines Mantels. Aber ich kam nicht los. Erst dann fiel mir
auf, dass ich mich wie ein Idiot benahm und schlüpfte aus den
Ärmeln. Die Jacke blieb am Felsen baumelnd zurück. Ich fuhr herum
und hastete weiter in die Bucht hinein. Doch dort erwartete mich
der zweite abgrundtiefe Schock in ebenso vielen Tagen.
In einem Schaukelstuhl, der auf einer bunten
Patchworkdecke im sonst völlig unberührten Sand stand, saß eine
winzige Frau. Sie konnte im Stehen nicht viel größer als einen
halben Meter sein und trug schlichte grünblaue Kleidung. Ihre
silbergrauen Haare waren zu einem grotesk großen Knoten aufgetürmt,
und sie lächelte mich freundlich an.
»Hallo, mein Kind«, sagte sie. Hinter mir vernahm
ich leises Schnaufen und verhaltenes Jaulen.
Ich wollte die nette Dame lieber nicht aus den
Augen lassen, denn ich war überzeugt, sie würde ein Messer zücken,
sobald ich ihr den Rücken zukehrte. Außerdem war ich auch nicht
besonders scharf darauf, meinem Verfolger ins Gesicht zu sehen.
Dennoch konnte ich mich meinem Schicksal auch nicht kampflos
ergeben. Ich musste mich dem Angreifer stellen.
Ganz, ganz langsam drehte ich mich um, die Hände
kampfbereit zu Fäusten geballt. Nicht, dass ich mich jemals
im Leben schon mit jemandem geprügelt hätte - bisher waren die
Waffen meiner Gegner immer Worte gewesen, auch wenn sie damit nicht
wenig Schaden anrichteten.
Vor mir stand der größte Hund, den ich je gesehen
hatte. Er sah nicht aus wie ein Wolf, eher wie ein zotteliger
schwarzer Säbelzahn-Höllenhund. Mein erstaunter Blick wanderte von
seinen riesigen Pfoten über seine kräftigen Schultern zu seinem
überdimensionalen Maul, das mit den größten Fangzähnen bestückt
war, die ich jemals außerhalb eines prähistorischen Museums gesehen
hatte.
Er riss sein sabberndes Maul noch weiter auf, als
ein leises Jaulen tief aus seinem Bauch drang. Er spitzte die Ohren
und fixierte mich, als wolle er mich hypnotisieren. Ich spürte, wie
tief aus meiner Magengrube Todesangst aufstieg, die mich zu
überwältigen drohte.
Aber wie alle Trues war auch ich aus härterem Holz
geschnitzt, also reagierte ich mit genauso viel Mut und
Entschlossenheit wie am Tag zuvor, als ich auf Peters Leiche
gestoßen war.
Ich fiel direkt in Ohnmacht.