KAPITEL 1
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Ich warf einen prüfenden Blick in den Gefrierschrank und überlegte, was ich heute zum Abendessen machen könnte. Das war gar nicht so einfach, denn ein Außenstehender konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass »Amerikas beste Hausfrau« Martha Stewart nicht nur bei uns wohnt, sondern sich hier auf den Weltuntergang vorbereitet. Tiefgefrorene Lasagne, Eintopf, Pastete und dergleichen mehr füllte unseren Eisschrank bis zum Rand. Schließlich entschied ich mich für Fischsuppe und nahm einen Schellfisch und Muscheln heraus. Nach einem kurzen inneren Kampf, den der vernünftige Teil von mir haushoch verlor, griff ich auch noch nach einem großen Lachs, um etwas mehr Suppe zum - man ahnt es schon - Einfrieren zu machen. Ja, das Horten von vorgekochten Gerichten war bei mir mehr als nur eine kleine Zwangsneurose, aber es gab mir eben ein gutes Gefühl. Außerdem bedeutete es, dass ich meinen Vater, falls ich einmal später nach Hause kam, ohne größere Schuldgefühle sich selbst überlassen konnte.
Mein Vater war eigentlich nicht gebrechlich - jedenfalls nicht wirklich. Aber er hatte ein schwaches Herz und brauchte bei vielen Dingen einfach Hilfe, besonders da meine Mutter schon lange Zeit fort war. Also musste ich einspringen, was ich auch gerne tat. Um ehrlich zu sein, hatte ich auch sonst nicht viel mehr zu tun, denn in unserer Kleinstadt war ich ein Außenseiter, fast eine Ausgestoßene.
Es ist schon verrückt, wie viel freie Zeit man hatte, wenn man der Sonderling vom Dienst war.
Nachdem ich mich noch um die Wäsche gekümmert und das Badezimmer im Erdgeschoss geputzt hatte, ging ich nach oben, um zu duschen. Ich wäre lieber den ganzen Tag mit Salz auf der Haut herumgelaufen, aber nicht einmal hier bei uns in Rockabill galt Eau de Sole als akzeptables Parfum. Wie viele Frauen in den Zwanzigern war ich früh aufgestanden, um etwas Sport zu treiben. Aber anders als bei den meisten bestand mein Workout darin, mindestens eine Stunde lang im eiskalten Atlantik zu schwimmen, noch dazu in einem von Amerikas tödlichsten Gewässern. Deshalb achtete ich auch tunlichst darauf, mein Frühsportprogramm nicht an die große Glocke zu hängen. Es mochte zwar ein hervorragendes Ausdauertraining sein, doch würde ich wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen landen, sollte es je bekannt werden. Schließlich waren wir hier in Neuengland.
Als ich gerade meine Arbeitsklamotten anzog - khakifarbene Chinos und ein langärmeliges pinkes Poloshirt, auf dessen Brusttasche Read it and weep stand -, hörte ich meinen Vater aus seinem Schlafzimmer kommen und die Treppen hinuntergehen. Es war seine Aufgabe, morgens Kaffee zu machen, also nahm ich mir die Zeit, etwas Wimperntusche, Rouge und Lipgloss aufzutragen, und bürstete mein noch feuchtes, schwarzes Haar. Ich trug einen Cleopatraschnitt - der zugegebenermaßen etwas länger und verstrubbelter war als das Original -, weil ich meine dunklen Augen gerne hinter einem langen, dicken Pony verbarg. Erst kürzlich hatte mein ärgster Widersacher Stuart Gray sie »dämonische Augen« genannt. Vielen Dank, so sehr nach Marilyn Manson sehe ich nun auch wieder nicht aus, aber ich muss zugeben, dass der Übergang zwischen Pupille und Iris nicht leicht zu sehen ist.
Ich ging hinunter in die Küche zu meinem Vater und spürte wieder einmal diesen Stich im Herzen, als ich sah, wie sehr er sich verändert hatte. Er war Fischer gewesen, aber vor zehn Jahren hatte er sich zur Ruhe setzen müssen. Aufgrund seiner Herzschwäche war er arbeitsunfähig geworden. Einst war er ein gut aussehender, selbstbewusster und muskulöser Mann gewesen, dessen Präsenz jeden Raum füllte, aber durch seine lange Krankheit und das Verschwinden meiner Mutter war er zu einem Schatten seiner selbst geworden. In seinem zerschlissenen Bademantel wirkte er so schmal und grau, und seine Hände zitterten durch das Antiarrhythmikum gegen seine Herzrhythmusstörungen so stark, dass ich mich zusammenreißen musste, ihn nicht dazu zu nötigen, sich hinzusetzen und auszuruhen. Auch wenn sein Körper schwach war, so fühlte er sich doch immer noch als der Mann, der er einmal gewesen war, und ich wusste, dass die Grenze zwischen der Fürsorge um ihn und dem Treten seiner Würde mit Füßen hauchdünn war. Also setzte ich mein strahlendstes Lächeln auf und betrat beschwingt die Küche, als wären wir Vater und Tochter aus einer Sitcom der Fünfzigerjahre.
»Guten Morgen, Daddy!«, flötete ich.
»Morgen, Schatz. Magst du Kaffee?« Diese Frage stellte er mir jeden Morgen aufs Neue, obwohl die Antwort seit meinem fünfzehnten Lebensjahr gleich war.
»Gern, danke schön. Hast du gut geschlafen?«
»Oh, ja. Und du? Wie war dein Morgen?« Mein Vater erkundigte sich nie direkt nach meiner Schwimmerei. Diese Frage fiel eindeutig unter das Schweigeabkommen, das in unserem Haus herrschte. Er fragte mich nicht nach meinem Frühsport, und ich fragte ihn nicht nach meiner Mutter. Er fragte mich nicht nach Jason, und ich fragte ihn nicht nach meiner Mutter. Er fragte mich nicht, ob ich in Rockabill glücklich war, und ich fragte ihn nicht nach meiner Mutter …
»Ach, ich habe ausgezeichnet geschlafen, Dad. Danke.« Das stimmte zwar nicht ganz, weil ich immer nur vier Stunden pro Nacht schlief. Aber das war eine weitere Sache, über die wir nie sprachen.
Er wollte meine Pläne für heute wissen, während ich uns Rührei auf Vollkorntoast machte. Ich sagte ihm, dass ich bis sechs Uhr arbeiten müsse und auf dem Nachhauseweg noch beim Supermarkt vorbeifahren würde. Also würde ich wie immer am Montag das Auto nehmen, um zur Arbeit zu fahren. Unsere Woche lief im Grunde immer gleich ab, aber es war nett von ihm, so zu tun, als könnte ich theoretisch etwas spannendes Neues vorhaben. Montags musste ich mir keine Sorgen machen, dass er nichts zu Mittag aß, denn da holte ihn Trevor McKinley immer zu einer Pokerrunde mit George Varga, Louis Finch und Joe Covelli ab. Sie alle stammten aus Rockabill und waren bereits seit ihrer Kindheit befreundet, außer Joe, der erst vor zwanzig Jahren nach Maine gezogen war und hier die örtliche Tankstelle übernommen hatte. So war das in Rockabill. Im Winter, wenn es kaum Touristen gab, war die Kleinstadt voll mit Einheimischen, die ihre Nase lieber in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn steckten, als vor ihrer eigenen Tür zu kehren. Manche mochten die Familiarität, die zwischen den Einwohnern hier herrschte. Aber wenn man wie ich für gewöhnlich Mittelpunkt des Dorfklatsches war, fühlte sich diese Vertrautheit eher wie ein Kesseltreiben an.
Während wir aßen, teilten wir uns die Lokalzeitung The Light House News. Aber da es sich eher um ein Anzeigenblättchen für Touristen handelte und die Besucher um diese Jahreszeit ausblieben, war sie eher dünn. Trotzdem befolgten wir die Routine und taten so, als ob wir lasen. Bei all unseren offensichtlichen Schwächen konnte niemand behaupten, dass wir nicht gut darin waren, den Schein zu wahren. Nach dem Frühstück suchte ich die zahlreichen Pillen für meinen Vater heraus und legte sie ihm neben sein Glas Orangensaft, wofür er sich mit seinem charmanten Lächeln bedankte. Das war das Einzige, das unverändert an ihm war, nach all den verheerenden Angriffen auf seine Gesundheit und sein Herz.
»Danke, Jane«, sagte er. Und ich wusste, dass er es ehrlich meinte, obwohl ich ihm seine Medikamente schon seit zwölf Jahren jeden Morgen neben den Orangensaft legte.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und küsste ihn auf die Wange. Mir war bewusst, dass ich nicht selten der Grund für seine Sorgen und seinen Kummer war. Dann räumte ich noch geschäftig den Frühstückstisch ab und machte mich rasch auf den Weg zur Arbeit. Meiner Erfahrung nach ist geschäftiges Tun ein gutes Mittel dagegen, in Tränen auszubrechen.
 
Tracy Gregory, die Besitzerin des Buchladens Read it and weep, in dem ich arbeitete, war bei meiner Ankunft bereits fleißig. Die Gregorys waren eigentlich eine traditionsreiche Fischerfamilie aus Rockabill, und Tracy war so etwas wie das schwarze Schaf. Sie war zum Arbeiten nach Los Angeles gegangen und hatte es dort anscheinend bis zu einer erfolgreichen Maskenbildnerin beim Film gebracht. Ich sage anscheinend, weil sie mit uns nie über die Filme sprach, für die sie gearbeitet hatte. Sie war erst vor fünf Jahren wieder nach Rockabill zurückgekehrt und hatte das Read it and weep eröffnet, das Buchladen, Café und Touristenfalle in einem war. Da der Tourismus längst die Fischerei als Haupteinnahmequelle abgelöst hatte, konnte Rockabill sich ein ganzjährig geöffnetes Geschäft wie das Read it and weep gerade so leisten, aber andere Läden - wie das eigentlich hübschere Restaurant mit dem zugegebenermaßen etwas unglücklich gewählten Namen Mästerei - schlossen im Winter.
»Hallo«, sagte sie etwas schroff, als ich die Ladentür wieder hinter mir zusperrte. Wir öffneten erst in einer halben Stunde.
»Hi, Tracy. Grizelda wieder zurück?«
Grizelda war Tracys Freundin, und die beiden hatten einen ganz schönen Wirbel verursacht, als sie zum ersten Mal zusammen in Rockabill aufgetaucht waren. Sie waren nicht etwa nur homosexuell, sondern mussten in den Augen der Bewohner eines kleinen Fischerdorfes in Maine geradezu wie zwei schillernde Fabelwesen wirken. Tracy bewegte sich wie ein Rugbyspieler und kleidete sich auch so. Aber sie hatte ein so umgängliches Wesen, dass sich die anfängliche Lesben-Panik, die ihre Rückkehr nach Rockabill zunächst ausgelöst hatte, schnell wieder legte.
Und wenn sich die Leute von Rockabill schon nach Tracy den Hals verrenkten, dann verursachte Grizeldas Anblick erst recht steife Nacken. Grizelda war nicht ihr echter Name. Genauso wenig wie Dusty Nethers, der Name, den sie noch als Pornostar benutzt hatte. Als Dusty Nethers war Grizelda genauso blond und vollbusig wie ein Baywatch-Babe gewesen. Aber in ihrer aktuellen Inkarnation als Grizelda Montague trug sie eher einen schrillen, hippen Gothic-Look - wenn auch einen sehr vollbusigen. Ein paarmal im Jahr verschwand Grizelda für ein paar Wochen oder einen Monat, und nach ihrer Rückkehr verwirklichten sie und Tracy dann immer irgendein langgehegtes Projekt, wie etwa den Laden umzudekorieren, oder sie bauten einen Wintergarten für ihr kleines Häuschen. Keine Ahnung, was sie während ihrer Abwesenheit anstellte, aber was es auch war, es schien ihrer Beziehung mit Tracy nicht zu schaden. Die beiden standen sich genauso nah wie jedes andere Ehepaar aus Rockabill, wenn nicht gar näher. Doch zu sehen, wie sehr sich die beiden liebten, machte mir meine Einsamkeit nur umso deutlicher.
»Ja, Grizzie ist wieder zurück. Sie wird gleich da sein. Sie hat etwas für dich … und wie ich meinen Schatz kenne, ist es irgendetwas Anzügliches.«
Ich musste grinsen. »Super. Ich liebe ihre Geschenke.«
Dank Grizzie hatte ich schon eine ganze Schublade voll mit heißer Unterwäsche, Sexspielzeug und erotischen Büchern. Grizzie verteilte solche Geschenke bei wirklich jeder Gelegenheit, ganz egal, ob es sich um einen Schulabschluss, den fünfzehnten Hochzeitstag oder eine Taufe handelte. Dieses Faible von ihr machte sie zwar zu einem beliebten Gast bei Junggesellinnenabschieden von Rockabill bis Eastport, aber zum Risiko auf Kindergeburtstagen. Die wenigsten Eltern waren begeistert von einer Packung Stringtangas mit Wochentagaufdruck für ihre elfjährige Tochter. Einmal hatte sie mir einen Gutschein für ein »Hollywood Waxing« geschenkt, und ich musste das erst einmal googeln. Was ich erfuhr, jagte mir so viel Respekt ein, dass ich nicht wagte, den Coupon einzulösen, also verschwand er in meiner »Schmuddelschublade« und sorgte seither immer wieder für Gesprächsstoff. Nicht, dass irgendjemand je diese Schublade zu sehen bekam, aber ich sprach oft und gerne mit mir selbst, und Grizzies Geschenke waren immer ein dankbares und amüsantes Thema für meine Unterhaltungen.
Außerdem war es ziemlich praktisch, über seinen eigenen kleinen Sexshop zu verfügen, wenn man über längere Zeit unfreiwillig abstinent leben musste … so wie in den letzten acht Jahren meines Lebens.
»Und«, sagte Tracy mit einem verschmitzten Lächeln, »ihre Geschenke lieben dich. Oft sogar im wörtlichen Sinn, was?«
»Ja, wenigstens die«, antwortete ich, erschrocken über den bitteren Tonfall, der sich dabei in meine Stimme geschlichen hatte.
Aber die gute Tracy strich mir nur einfach sanft übers Haar, umarmte mich kurz und sagte nichts weiter dazu.
»Hände weg von meiner Frau!«, rief eine gespielt empörte Stimme an der Tür - Grizelda!
»Entschuldige«, sagte ich grinsend und machte mich von Tracy los.
»Ich meinte, dass Tracy die Finger von dir lassen soll«, witzelte Grizzie und erstickte mich beinahe in einer festen Umarmung, wobei mein schon recht üppiger Busen mit ihren enormen falschen Brüsten zusammenprallte. In solchen Situationen hasste ich es, so klein zu sein. Auch wenn ich die ganzen üppigen einen Meter achtzig von Grizzie mochte und sie nicht mit ihren herzlichen Umarmungen geizte, wurde ich ungern so herumgeschleudert.
Sie setzte mich wieder ab, fasste mich an den Händen und trat einen Schritt zurück, um mich wohlwollend zu betrachten. »Mmh. Mädchen, ich könnte dich auffressen.«
Ich musste lachen, und Tracy verdrehte die Augen. »Hör auf, das Personal sexuell zu belästigen, Grizzlybär«, war ihr einziger trockener Kommentar dazu.
»Keine Sorge, gleich belästige ich dich wieder sexuell, meine schöne Passionsblume, aber erst muss ich gebührend unsere Jane begrüßen.« Grizelda zwinkerte mir mit ihren dunkellila Augen zu - sie trug farbige Kontaktlinsen -, und ich konnte mir ein schulmädchenhaftes Kichern nicht verkneifen.
»Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht«, sagte sie neckisch.
Ich klatschte in die Hände, hüpfte auf und ab wie ein Gummiball und führte einen kleinen Freudentanz auf. Ich liebte Grizzies Mitbringsel, obwohl sie mich oft an die Grenzen meiner dürftigen Anatomiekenntnisse brachten, die noch aus dem Biologieunterricht bei Mrs. Renault stammten.
»Alles Gute nachträglich zum Geburtstag!«, rief sie und überreichte mir ein hübsch verpacktes Geschenk, das sie aus ihrer riesigen Handtasche gezaubert hatte. Ich bewunderte die glänzende schwarze Schachtel und das rote Samtband, das zu einer üppigen Schleife gebunden war. Alles, was Grizzie tat, hatte Stil. Entzückt stürzte ich mich darauf. Nachdem ich das Stück Tesafilm, mit dem die Schachtel verschlossen war, mit dem Fingernagel aufgeschlitzt hatte, hielt ich das wohl schönste rote Satinnachthemd in Händen, das ich je gesehen hatte. Es war in einem dunklen Bordeauxrot, ein Farbton, der perfekt zu meinem Hauttyp passt, und natürlich hatte es auch die perfekte Länge und war noch dazu bis zur Hüfte geschlitzt. Grizzie hatte diese erstaunliche Begabung, immer haargenau passende Kleidung zu verschenken. Trotz der kleinen Kleidergröße war das Negligé am Oberkörper eher großzügig geschnitten, und das korsagenartige Oberteil würde sich um meinen Busen schmiegen wie die Männerhände auf diesem berühmten Janet-Jackson-Bild. Die Träger waren recht breit, um einen starken Halt zu gewährleisten, und am sehr tiefen Rückenausschnitt gekreuzt. Das Teil war einfach umwerfend - edel und scharf zugleich -, und ich konnte nicht aufhören, den feinen, wasserartigen Satinstoff zu streicheln.
»Grizzie, es ist wunderschön«, seufzte ich. »Aber viel zu viel! Das muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Du bist ja auch ein Vermögen wert, kleine Jane. Abgesehen davon habe ich mir gedacht, du könntest vielleicht etwas Nettes gebrauchen … schließlich sollten Marcs ›Sonderlieferungen‹ doch langsam in einer Verabredung gegipfelt sein, oder etwa nicht?«
Grizzie verstummte, als sie sah, wie mein Lächeln erstarb und Tracy hinter ihr einen wütenden Kampfschrei wie Xena die Kriegerprinzessin ausstieß.
Bevor Tracy sich darin ergehen konnte, welche grausamen Todesarten sie unserem neuen Briefträger am liebsten angedeihen lassen würde, sagte ich ganz ruhig: »Es wird ganz bestimmt keine Verabredungen mit Mark geben.«
»Was ist passiert?«, wollte Grizzie wissen, und Tracy hinter ihr fauchte eine weitere Kriegserklärung.
»Na ja …«, sagte ich, aber wo sollte ich anfangen? Mark war neu in Rockabill, verwitwet und Angestellter der amerikanischen Postbehörde. Er war vor kurzem mit seinen zwei Töchtern hergezogen. Er hatte immer wieder vergessen, Briefe oder Päckchen abzugeben, weshalb er oft zwei- oder dreimal an einem Tag in unserem Laden vorbeikommen musste. Ich fand ihn ganz süß, aber ein bisschen schusselig, bis Tracy mich darauf hinwies, dass er nur etwas vergaß, wenn ich im Laden war.
Also flirteten und flirteten und flirteten wir einen ganzen Monat lang. Bis er mich schließlich vor ein paar Tagen fragte, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Ich freute mich darüber. Er war süß, er war neu in der Stadt, und auch er hatte jemanden verloren, der ihm nahestand. Und ganz offensichtlich wusste er kaum etwas über meine Vergangenheit.
Wie das eben so ist, wenn man zu hohe Erwartungen hat …
»Wir waren verabredet, und er hat abgesagt. Ich nehme an, er hat mich gefragt, bevor … er alles über mich erfuhr. Irgendjemand muss es ihm erzählt haben. Schließlich hat er Kinder, weißt du.«
»Na und?«, brummte Grizzie, und ihre rauchige Stimme klang sehr wütend.
»Er meinte, er hätte Bedenken, ob ich ein guter Umgang sei … für seine Töchter.«
»Lächerlicher Mist«, knurrte Grizzie, und Tracy schnaubte missbilligend. Sie war normalerweise die gelassene Hälfte in der Beziehung, aber Tracy hatte vor Wut geschäumt, als ich sie weinend angerufen und ihr erzählt hatte, dass Mark mich abserviert hatte. Ich glaube, sie hat ihm nur nicht den Kopf abgerissen, weil wir dann keine Warenlieferungen mehr bekommen würden.
Ich blickte zu Boden und zuckte mit den Schultern. Da Tracy bereits die wütende Rolle übernommen hatte, versuchte Grizzie mich zu trösten. »Das tut mir wirklich leid für dich, Süße«, sagte sie und legte ihre langen Arme um mich. »Das ist… so schade.«
Es war wirklich ein Jammer. Meine Freunde wollten, dass ich nach vorne schaute. Mein Vater wollte, dass ich nach vorne schaute. Und verdammt, abgesehen von diesem kleinen eisigen Splitter in mir, der mich in meinen Schuldgefühlen erstarren ließ, wollte auch ich die Vergangenheit hinter mir lassen. Aber das restliche Rockabill schien etwas dagegen zu haben.
Grizzie strich mir die Ponyfransen aus dem Gesicht, und als sie sah, dass mir die Tränen in den Augen standen, schritt sie auf ihre ganz spezielle Grizelda-Art ein. Sie bog mich wie eine Tangotänzerin nach hinten und brummte: »Baby, ich schmier dir Honig um den Mund …«, und dann vergrub sie ihr Gesicht in meinen Bauch und machte ein prustendes Geräusch.
Es wirkte. Ich lachte wieder und dankte den Sternen wieder einmal, dass sie Grizzie und Tracy nach Rockabill geführt hatten, denn ich wusste nicht, was ich ohne sie getan hätte. Ich umarmte sie noch einmal für das schöne Geschenk und ging dann ins Hinterzimmer, um es zu meinen Sachen zu legen. Ich öffnete die Schachtel erneut, strich zum Abschied über den roten Satin und seufzte zufrieden.
Das Negligé würde sich fantastisch in meiner Schmuddelschublade machen.
Wir hatten nicht viel zu tun, bevor der Laden öffnete, was uns die Gelegenheit zum Plaudern gab. Eine knappe halbe Stunde später hatte sich das Thema »Was ist passiert, seit du weg warst« weitgehend erschöpft, und wir wandten uns den Plänen für die kommende Woche zu. Da erklang plötzlich das kleine Glöckchen über der Ladentür. Meine Stimmung trübte sich, als ich sah, dass es Linda Allen war, die selbsternannte Vorsitzende meines örtlichen Kesseltreiber-Kommandos. Sie war nicht ganz so schlimm wie Stuart Gray, der mich sogar noch mehr verabscheute als Linda, aber sie gab ihr Bestes, um mit ihm mithalten zu können.
»Ganz zu schweigen vom Rest von Rockabill«, dachte ich, als Linda in der Ecke mit den Liebesromanen verschwand. Natürlich hielt sie es nicht für nötig, mit mir zu sprechen. Sie warf mir nur einen ihrer berüchtigten vernichtenden Blicke zu, die sie abfeuern konnte wie eine Panzerfaust aus dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Blicke hatten immer die gleiche Botschaft. Sie sprachen davon, dass ich diejenige war, deren verrückte Mutter während eines schlimmen Unwetters plötzlich wie aus dem Nichts und splitterfasernackt mitten in der Stadt aufgetaucht war. Sie sprachen davon, dass sie einen der begehrtesten jungen Männer gestohlen und sein Leben ruiniert hatte. Davon, dass sie ein Kind bekommen hatte, ohne verheiratet zu sein. Davon, dass ich dieses Kind war und die Sache auf die Spitze trieb, indem ich genauso seltsam war wie meine Mutter. Aber all das war nur die Spitze des Eisbergs der Verschmähungen, die Linda mir nonverbal unter die Nase rieb, wann immer sie Gelegenheit dazu bekam.
Leider war Linda beinahe eine genauso besessene Leserin wie ich, also begegnete ich ihr mindestens zweimal im Monat, wenn sie in den Buchladen kam, um sich einen neuen Stapel Liebesromane zu besorgen. Sie bevorzugte eine ganz bestimmte Art von Handlung: Ihr gefielen Geschichten, in denen ein kühner Pirat irgendeine jungfräuliche Maid entführt und ihr so lange Gewalt antut, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann massakriert er unzählige Seeleute, während sie sein Entermesser poliert. Wahlweise entführt auch ein wilder Clanführer aus den schottischen Highlands irgendeine Englische Rose, tut ihr so lange Gewalt an, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann löscht er das gesamte englische Heer aus, während sie seine Haggis-Wurst stopft. Oder ein schöner indianischer Krieger entführt eine jungfräuliche weiße Siedlerin, tut ihr so lange Gewalt an, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann tötet er jede Menge Siedler, während sie sein Tomahawk wetzt. Ich möchte ja ungern Freud bemühen, wenn es um Linda geht, aber ihre Lesevorlieben sagen doch viel darüber aus, warum sie so ein verdammtes Miststück ist.
Tracy hatte einen Telefonanruf entgegengenommen, während Linda noch ihre Bücher aussuchte, und Grizelda hatte sich auf einem Hocker ganz weit hinter der Ladentheke platziert, als wollte sie sagen: »Danke, aber ich bin gerade nicht im Dienst.« Doch Linda ignorierte absichtlich die Tatsache, dass nur ich gerade frei war, und baute sich stattdessen demonstrativ vor Tracy auf. Tracy gab ihr ein Zeichen mit den Augen, sich an mich zu wenden, aber Linda tat weiterhin hartnäckig so, als würde sie mich gar nicht sehen. Schließlich seufzte Tracy und brach ihr Telefongespräch ab. Ich sah ihr an, dass sie Linda am liebsten die Meinung gesagt hätte, aber Read it and weep konnte es sich nicht erlauben, eine so gute - wenn auch boshafte - Kundin zu vergraulen. Also tippte Tracy Lindas Einkäufe in die Kasse und packte die Bücher in eine Tüte, die sie Linda dann so höflich, wie das eben möglich war, ohne wirklich freundlich zu sein, überreichte. Zum Abschied warf Linda mir noch einen ihrer giftigen Blicke zu, mit denen ich zwar immer rechnen musste, die mich dann aber doch immer wieder unvermutet trafen.
Es war ein Blick, der sagte: »Da ist die Irre, die ihren eigenen Freund getötet hat.«
Natürlich stimmte das so nicht. Ich hatte ihn nicht eigenhändig umgebracht. Ich war nur der Grund dafür, dass er jetzt tot war.