KAPITEL 1
Ich warf einen prüfenden Blick in den
Gefrierschrank und überlegte, was ich heute zum Abendessen machen
könnte. Das war gar nicht so einfach, denn ein Außenstehender
konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass »Amerikas beste Hausfrau«
Martha Stewart nicht nur bei uns wohnt, sondern sich hier auf den
Weltuntergang vorbereitet. Tiefgefrorene Lasagne, Eintopf, Pastete
und dergleichen mehr füllte unseren Eisschrank bis zum Rand.
Schließlich entschied ich mich für Fischsuppe und nahm einen
Schellfisch und Muscheln heraus. Nach einem kurzen inneren Kampf,
den der vernünftige Teil von mir haushoch verlor, griff ich auch
noch nach einem großen Lachs, um etwas mehr Suppe zum - man ahnt es
schon - Einfrieren zu machen. Ja, das Horten von vorgekochten
Gerichten war bei mir mehr als nur eine kleine Zwangsneurose, aber
es gab mir eben ein gutes Gefühl. Außerdem bedeutete es, dass ich
meinen Vater, falls ich einmal später nach Hause kam, ohne größere
Schuldgefühle sich selbst überlassen konnte.
Mein Vater war eigentlich nicht gebrechlich -
jedenfalls
nicht wirklich. Aber er hatte ein schwaches Herz und brauchte bei
vielen Dingen einfach Hilfe, besonders da meine Mutter schon lange
Zeit fort war. Also musste ich einspringen, was ich auch gerne tat.
Um ehrlich zu sein, hatte ich auch sonst nicht viel mehr zu tun,
denn in unserer Kleinstadt war ich ein Außenseiter, fast eine
Ausgestoßene.
Es ist schon verrückt, wie viel freie Zeit man
hatte, wenn man der Sonderling vom Dienst war.
Nachdem ich mich noch um die Wäsche gekümmert und
das Badezimmer im Erdgeschoss geputzt hatte, ging ich nach oben, um
zu duschen. Ich wäre lieber den ganzen Tag mit Salz auf der Haut
herumgelaufen, aber nicht einmal hier bei uns in Rockabill galt Eau
de Sole als akzeptables Parfum. Wie viele Frauen in den Zwanzigern
war ich früh aufgestanden, um etwas Sport zu treiben. Aber anders
als bei den meisten bestand mein Workout darin, mindestens eine
Stunde lang im eiskalten Atlantik zu schwimmen, noch dazu in einem
von Amerikas tödlichsten Gewässern. Deshalb achtete ich auch
tunlichst darauf, mein Frühsportprogramm nicht an die große Glocke
zu hängen. Es mochte zwar ein hervorragendes Ausdauertraining sein,
doch würde ich wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen landen, sollte
es je bekannt werden. Schließlich waren wir hier in
Neuengland.
Als ich gerade meine Arbeitsklamotten anzog -
khakifarbene Chinos und ein langärmeliges pinkes Poloshirt, auf
dessen Brusttasche Read it and weep stand -, hörte ich
meinen Vater aus seinem Schlafzimmer kommen und die Treppen
hinuntergehen. Es war seine Aufgabe, morgens Kaffee zu machen, also
nahm ich mir die Zeit, etwas Wimperntusche, Rouge und Lipgloss
aufzutragen, und bürstete mein
noch feuchtes, schwarzes Haar. Ich trug einen Cleopatraschnitt -
der zugegebenermaßen etwas länger und verstrubbelter war als das
Original -, weil ich meine dunklen Augen gerne hinter einem langen,
dicken Pony verbarg. Erst kürzlich hatte mein ärgster Widersacher
Stuart Gray sie »dämonische Augen« genannt. Vielen Dank, so sehr
nach Marilyn Manson sehe ich nun auch wieder nicht aus, aber ich
muss zugeben, dass der Übergang zwischen Pupille und Iris nicht
leicht zu sehen ist.
Ich ging hinunter in die Küche zu meinem Vater und
spürte wieder einmal diesen Stich im Herzen, als ich sah, wie sehr
er sich verändert hatte. Er war Fischer gewesen, aber vor zehn
Jahren hatte er sich zur Ruhe setzen müssen. Aufgrund seiner
Herzschwäche war er arbeitsunfähig geworden. Einst war er ein gut
aussehender, selbstbewusster und muskulöser Mann gewesen, dessen
Präsenz jeden Raum füllte, aber durch seine lange Krankheit und das
Verschwinden meiner Mutter war er zu einem Schatten seiner selbst
geworden. In seinem zerschlissenen Bademantel wirkte er so schmal
und grau, und seine Hände zitterten durch das Antiarrhythmikum
gegen seine Herzrhythmusstörungen so stark, dass ich mich
zusammenreißen musste, ihn nicht dazu zu nötigen, sich hinzusetzen
und auszuruhen. Auch wenn sein Körper schwach war, so fühlte er
sich doch immer noch als der Mann, der er einmal gewesen war, und
ich wusste, dass die Grenze zwischen der Fürsorge um ihn und dem
Treten seiner Würde mit Füßen hauchdünn war. Also setzte ich mein
strahlendstes Lächeln auf und betrat beschwingt die Küche, als
wären wir Vater und Tochter aus einer Sitcom der
Fünfzigerjahre.
»Guten Morgen, Daddy!«, flötete ich.
»Morgen, Schatz. Magst du Kaffee?« Diese Frage
stellte er mir jeden Morgen aufs Neue, obwohl die Antwort seit
meinem fünfzehnten Lebensjahr gleich war.
»Gern, danke schön. Hast du gut geschlafen?«
»Oh, ja. Und du? Wie war dein Morgen?« Mein Vater
erkundigte sich nie direkt nach meiner Schwimmerei. Diese Frage
fiel eindeutig unter das Schweigeabkommen, das in unserem Haus
herrschte. Er fragte mich nicht nach meinem Frühsport, und ich
fragte ihn nicht nach meiner Mutter. Er fragte mich nicht nach
Jason, und ich fragte ihn nicht nach meiner Mutter. Er fragte mich
nicht, ob ich in Rockabill glücklich war, und ich fragte ihn nicht
nach meiner Mutter …
»Ach, ich habe ausgezeichnet geschlafen, Dad.
Danke.« Das stimmte zwar nicht ganz, weil ich immer nur vier
Stunden pro Nacht schlief. Aber das war eine weitere Sache, über
die wir nie sprachen.
Er wollte meine Pläne für heute wissen, während ich
uns Rührei auf Vollkorntoast machte. Ich sagte ihm, dass ich bis
sechs Uhr arbeiten müsse und auf dem Nachhauseweg noch beim
Supermarkt vorbeifahren würde. Also würde ich wie immer am Montag
das Auto nehmen, um zur Arbeit zu fahren. Unsere Woche lief im
Grunde immer gleich ab, aber es war nett von ihm, so zu tun, als
könnte ich theoretisch etwas spannendes Neues vorhaben. Montags
musste ich mir keine Sorgen machen, dass er nichts zu Mittag aß,
denn da holte ihn Trevor McKinley immer zu einer Pokerrunde mit
George Varga, Louis Finch und Joe Covelli ab. Sie alle stammten aus
Rockabill und waren bereits seit ihrer
Kindheit befreundet, außer Joe, der erst vor zwanzig Jahren nach
Maine gezogen war und hier die örtliche Tankstelle übernommen
hatte. So war das in Rockabill. Im Winter, wenn es kaum Touristen
gab, war die Kleinstadt voll mit Einheimischen, die ihre Nase
lieber in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn steckten, als vor
ihrer eigenen Tür zu kehren. Manche mochten die Familiarität, die
zwischen den Einwohnern hier herrschte. Aber wenn man wie ich für
gewöhnlich Mittelpunkt des Dorfklatsches war, fühlte sich diese
Vertrautheit eher wie ein Kesseltreiben an.
Während wir aßen, teilten wir uns die Lokalzeitung
The Light House News. Aber da es sich eher um ein
Anzeigenblättchen für Touristen handelte und die Besucher um diese
Jahreszeit ausblieben, war sie eher dünn. Trotzdem befolgten wir
die Routine und taten so, als ob wir lasen. Bei all unseren
offensichtlichen Schwächen konnte niemand behaupten, dass wir nicht
gut darin waren, den Schein zu wahren. Nach dem Frühstück suchte
ich die zahlreichen Pillen für meinen Vater heraus und legte sie
ihm neben sein Glas Orangensaft, wofür er sich mit seinem
charmanten Lächeln bedankte. Das war das Einzige, das unverändert
an ihm war, nach all den verheerenden Angriffen auf seine
Gesundheit und sein Herz.
»Danke, Jane«, sagte er. Und ich wusste, dass er es
ehrlich meinte, obwohl ich ihm seine Medikamente schon seit zwölf
Jahren jeden Morgen neben den Orangensaft legte.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und
küsste ihn auf die Wange. Mir war bewusst, dass ich nicht selten
der Grund für seine Sorgen und seinen Kummer war. Dann räumte ich
noch geschäftig den Frühstückstisch ab
und machte mich rasch auf den Weg zur Arbeit. Meiner Erfahrung
nach ist geschäftiges Tun ein gutes Mittel dagegen, in Tränen
auszubrechen.
Tracy Gregory, die Besitzerin des Buchladens
Read it and weep, in dem ich arbeitete, war bei meiner
Ankunft bereits fleißig. Die Gregorys waren eigentlich eine
traditionsreiche Fischerfamilie aus Rockabill, und Tracy war so
etwas wie das schwarze Schaf. Sie war zum Arbeiten nach Los Angeles
gegangen und hatte es dort anscheinend bis zu einer erfolgreichen
Maskenbildnerin beim Film gebracht. Ich sage anscheinend, weil sie
mit uns nie über die Filme sprach, für die sie gearbeitet hatte.
Sie war erst vor fünf Jahren wieder nach Rockabill zurückgekehrt
und hatte das Read it and weep eröffnet, das Buchladen, Café
und Touristenfalle in einem war. Da der Tourismus längst die
Fischerei als Haupteinnahmequelle abgelöst hatte, konnte Rockabill
sich ein ganzjährig geöffnetes Geschäft wie das Read it and
weep gerade so leisten, aber andere Läden - wie das eigentlich
hübschere Restaurant mit dem zugegebenermaßen etwas unglücklich
gewählten Namen Mästerei - schlossen im Winter.
»Hallo«, sagte sie etwas schroff, als ich die
Ladentür wieder hinter mir zusperrte. Wir öffneten erst in einer
halben Stunde.
»Hi, Tracy. Grizelda wieder zurück?«
Grizelda war Tracys Freundin, und die beiden hatten
einen ganz schönen Wirbel verursacht, als sie zum ersten Mal
zusammen in Rockabill aufgetaucht waren. Sie waren nicht etwa nur
homosexuell, sondern mussten in den
Augen der Bewohner eines kleinen Fischerdorfes in Maine geradezu
wie zwei schillernde Fabelwesen wirken. Tracy bewegte sich wie ein
Rugbyspieler und kleidete sich auch so. Aber sie hatte ein so
umgängliches Wesen, dass sich die anfängliche Lesben-Panik, die
ihre Rückkehr nach Rockabill zunächst ausgelöst hatte, schnell
wieder legte.
Und wenn sich die Leute von Rockabill schon nach
Tracy den Hals verrenkten, dann verursachte Grizeldas Anblick erst
recht steife Nacken. Grizelda war nicht ihr echter Name. Genauso
wenig wie Dusty Nethers, der Name, den sie noch als Pornostar
benutzt hatte. Als Dusty Nethers war Grizelda genauso blond und
vollbusig wie ein Baywatch-Babe gewesen. Aber in ihrer
aktuellen Inkarnation als Grizelda Montague trug sie eher einen
schrillen, hippen Gothic-Look - wenn auch einen sehr vollbusigen.
Ein paarmal im Jahr verschwand Grizelda für ein paar Wochen oder
einen Monat, und nach ihrer Rückkehr verwirklichten sie und Tracy
dann immer irgendein langgehegtes Projekt, wie etwa den Laden
umzudekorieren, oder sie bauten einen Wintergarten für ihr kleines
Häuschen. Keine Ahnung, was sie während ihrer Abwesenheit
anstellte, aber was es auch war, es schien ihrer Beziehung mit
Tracy nicht zu schaden. Die beiden standen sich genauso nah wie
jedes andere Ehepaar aus Rockabill, wenn nicht gar näher. Doch zu
sehen, wie sehr sich die beiden liebten, machte mir meine
Einsamkeit nur umso deutlicher.
»Ja, Grizzie ist wieder zurück. Sie wird gleich da
sein. Sie hat etwas für dich … und wie ich meinen Schatz kenne, ist
es irgendetwas Anzügliches.«
Ich musste grinsen. »Super. Ich liebe ihre
Geschenke.«
Dank Grizzie hatte ich schon eine ganze Schublade
voll mit heißer Unterwäsche, Sexspielzeug und erotischen Büchern.
Grizzie verteilte solche Geschenke bei wirklich jeder
Gelegenheit, ganz egal, ob es sich um einen Schulabschluss, den
fünfzehnten Hochzeitstag oder eine Taufe handelte. Dieses Faible
von ihr machte sie zwar zu einem beliebten Gast bei
Junggesellinnenabschieden von Rockabill bis Eastport, aber zum
Risiko auf Kindergeburtstagen. Die wenigsten Eltern waren
begeistert von einer Packung Stringtangas mit Wochentagaufdruck für
ihre elfjährige Tochter. Einmal hatte sie mir einen Gutschein für
ein »Hollywood Waxing« geschenkt, und ich musste das erst einmal
googeln. Was ich erfuhr, jagte mir so viel Respekt ein, dass ich
nicht wagte, den Coupon einzulösen, also verschwand er in meiner
»Schmuddelschublade« und sorgte seither immer wieder für
Gesprächsstoff. Nicht, dass irgendjemand je diese Schublade zu
sehen bekam, aber ich sprach oft und gerne mit mir selbst, und
Grizzies Geschenke waren immer ein dankbares und amüsantes Thema
für meine Unterhaltungen.
Außerdem war es ziemlich praktisch, über seinen
eigenen kleinen Sexshop zu verfügen, wenn man über längere Zeit
unfreiwillig abstinent leben musste … so wie in den letzten acht
Jahren meines Lebens.
»Und«, sagte Tracy mit einem verschmitzten Lächeln,
»ihre Geschenke lieben dich. Oft sogar im wörtlichen Sinn,
was?«
»Ja, wenigstens die«, antwortete ich, erschrocken
über den bitteren Tonfall, der sich dabei in meine Stimme
geschlichen hatte.
Aber die gute Tracy strich mir nur einfach sanft
übers Haar, umarmte mich kurz und sagte nichts weiter dazu.
»Hände weg von meiner Frau!«, rief eine gespielt
empörte Stimme an der Tür - Grizelda!
»Entschuldige«, sagte ich grinsend und machte mich
von Tracy los.
»Ich meinte, dass Tracy die Finger von dir
lassen soll«, witzelte Grizzie und erstickte mich beinahe in einer
festen Umarmung, wobei mein schon recht üppiger Busen mit ihren
enormen falschen Brüsten zusammenprallte. In solchen Situationen
hasste ich es, so klein zu sein. Auch wenn ich die ganzen üppigen
einen Meter achtzig von Grizzie mochte und sie nicht mit ihren
herzlichen Umarmungen geizte, wurde ich ungern so
herumgeschleudert.
Sie setzte mich wieder ab, fasste mich an den
Händen und trat einen Schritt zurück, um mich wohlwollend zu
betrachten. »Mmh. Mädchen, ich könnte dich auffressen.«
Ich musste lachen, und Tracy verdrehte die Augen.
»Hör auf, das Personal sexuell zu belästigen, Grizzlybär«, war ihr
einziger trockener Kommentar dazu.
»Keine Sorge, gleich belästige ich dich wieder
sexuell, meine schöne Passionsblume, aber erst muss ich gebührend
unsere Jane begrüßen.« Grizelda zwinkerte mir mit ihren dunkellila
Augen zu - sie trug farbige Kontaktlinsen -, und ich konnte mir ein
schulmädchenhaftes Kichern nicht verkneifen.
»Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht«, sagte
sie neckisch.
Ich klatschte in die Hände, hüpfte auf und ab wie
ein Gummiball und führte einen kleinen Freudentanz auf. Ich
liebte Grizzies Mitbringsel, obwohl sie mich oft an die Grenzen
meiner dürftigen Anatomiekenntnisse brachten, die noch aus dem
Biologieunterricht bei Mrs. Renault stammten.
»Alles Gute nachträglich zum Geburtstag!«, rief sie
und überreichte mir ein hübsch verpacktes Geschenk, das sie aus
ihrer riesigen Handtasche gezaubert hatte. Ich bewunderte die
glänzende schwarze Schachtel und das rote Samtband, das zu einer
üppigen Schleife gebunden war. Alles, was Grizzie tat, hatte Stil.
Entzückt stürzte ich mich darauf. Nachdem ich das Stück Tesafilm,
mit dem die Schachtel verschlossen war, mit dem Fingernagel
aufgeschlitzt hatte, hielt ich das wohl schönste rote
Satinnachthemd in Händen, das ich je gesehen hatte. Es war in einem
dunklen Bordeauxrot, ein Farbton, der perfekt zu meinem Hauttyp
passt, und natürlich hatte es auch die perfekte Länge und war noch
dazu bis zur Hüfte geschlitzt. Grizzie hatte diese erstaunliche
Begabung, immer haargenau passende Kleidung zu verschenken. Trotz
der kleinen Kleidergröße war das Negligé am Oberkörper eher
großzügig geschnitten, und das korsagenartige Oberteil würde sich
um meinen Busen schmiegen wie die Männerhände auf diesem berühmten
Janet-Jackson-Bild. Die Träger waren recht breit, um einen starken
Halt zu gewährleisten, und am sehr tiefen Rückenausschnitt
gekreuzt. Das Teil war einfach umwerfend - edel und scharf zugleich
-, und ich konnte nicht aufhören, den feinen, wasserartigen
Satinstoff zu streicheln.
»Grizzie, es ist wunderschön«, seufzte ich. »Aber
viel zu viel! Das muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Du bist ja auch ein Vermögen wert, kleine Jane.
Abgesehen davon habe ich mir gedacht, du könntest vielleicht
etwas Nettes gebrauchen … schließlich sollten Marcs
›Sonderlieferungen‹ doch langsam in einer Verabredung gegipfelt
sein, oder etwa nicht?«
Grizzie verstummte, als sie sah, wie mein Lächeln
erstarb und Tracy hinter ihr einen wütenden Kampfschrei wie Xena
die Kriegerprinzessin ausstieß.
Bevor Tracy sich darin ergehen konnte, welche
grausamen Todesarten sie unserem neuen Briefträger am liebsten
angedeihen lassen würde, sagte ich ganz ruhig: »Es wird ganz
bestimmt keine Verabredungen mit Mark geben.«
»Was ist passiert?«, wollte Grizzie wissen, und
Tracy hinter ihr fauchte eine weitere Kriegserklärung.
»Na ja …«, sagte ich, aber wo sollte ich anfangen?
Mark war neu in Rockabill, verwitwet und Angestellter der
amerikanischen Postbehörde. Er war vor kurzem mit seinen zwei
Töchtern hergezogen. Er hatte immer wieder vergessen, Briefe oder
Päckchen abzugeben, weshalb er oft zwei- oder dreimal an einem Tag
in unserem Laden vorbeikommen musste. Ich fand ihn ganz süß, aber
ein bisschen schusselig, bis Tracy mich darauf hinwies, dass er nur
etwas vergaß, wenn ich im Laden war.
Also flirteten und flirteten und flirteten wir
einen ganzen Monat lang. Bis er mich schließlich vor ein paar Tagen
fragte, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Ich freute mich darüber. Er
war süß, er war neu in der Stadt, und auch er hatte jemanden
verloren, der ihm nahestand. Und ganz offensichtlich wusste
er kaum etwas über meine Vergangenheit.
Wie das eben so ist, wenn man zu hohe Erwartungen
hat …
»Wir waren verabredet, und er hat abgesagt. Ich
nehme an, er hat mich gefragt, bevor … er alles über mich erfuhr.
Irgendjemand muss es ihm erzählt haben. Schließlich hat er Kinder,
weißt du.«
»Na und?«, brummte Grizzie, und ihre rauchige
Stimme klang sehr wütend.
»Er meinte, er hätte Bedenken, ob ich ein guter
Umgang sei … für seine Töchter.«
»Lächerlicher Mist«, knurrte Grizzie, und Tracy
schnaubte missbilligend. Sie war normalerweise die gelassene Hälfte
in der Beziehung, aber Tracy hatte vor Wut geschäumt, als ich sie
weinend angerufen und ihr erzählt hatte, dass Mark mich abserviert
hatte. Ich glaube, sie hat ihm nur nicht den Kopf abgerissen, weil
wir dann keine Warenlieferungen mehr bekommen würden.
Ich blickte zu Boden und zuckte mit den Schultern.
Da Tracy bereits die wütende Rolle übernommen hatte, versuchte
Grizzie mich zu trösten. »Das tut mir wirklich leid für dich,
Süße«, sagte sie und legte ihre langen Arme um mich. »Das ist… so
schade.«
Es war wirklich ein Jammer. Meine Freunde wollten,
dass ich nach vorne schaute. Mein Vater wollte, dass ich nach vorne
schaute. Und verdammt, abgesehen von diesem kleinen eisigen
Splitter in mir, der mich in meinen Schuldgefühlen erstarren ließ,
wollte auch ich die Vergangenheit hinter mir lassen. Aber das
restliche Rockabill schien etwas dagegen zu haben.
Grizzie strich mir die Ponyfransen aus dem Gesicht,
und als sie sah, dass mir die Tränen in den Augen standen, schritt
sie auf ihre ganz spezielle Grizelda-Art ein. Sie bog
mich wie eine Tangotänzerin nach hinten und brummte: »Baby, ich
schmier dir Honig um den Mund …«, und dann vergrub sie ihr Gesicht
in meinen Bauch und machte ein prustendes Geräusch.
Es wirkte. Ich lachte wieder und dankte den Sternen
wieder einmal, dass sie Grizzie und Tracy nach Rockabill geführt
hatten, denn ich wusste nicht, was ich ohne sie getan hätte. Ich
umarmte sie noch einmal für das schöne Geschenk und ging dann ins
Hinterzimmer, um es zu meinen Sachen zu legen. Ich öffnete die
Schachtel erneut, strich zum Abschied über den roten Satin und
seufzte zufrieden.
Das Negligé würde sich fantastisch in meiner
Schmuddelschublade machen.
Wir hatten nicht viel zu tun, bevor der Laden
öffnete, was uns die Gelegenheit zum Plaudern gab. Eine knappe
halbe Stunde später hatte sich das Thema »Was ist passiert, seit du
weg warst« weitgehend erschöpft, und wir wandten uns den Plänen für
die kommende Woche zu. Da erklang plötzlich das kleine Glöckchen
über der Ladentür. Meine Stimmung trübte sich, als ich sah, dass es
Linda Allen war, die selbsternannte Vorsitzende meines örtlichen
Kesseltreiber-Kommandos. Sie war nicht ganz so schlimm wie Stuart
Gray, der mich sogar noch mehr verabscheute als Linda, aber sie gab
ihr Bestes, um mit ihm mithalten zu können.
»Ganz zu schweigen vom Rest von Rockabill«, dachte
ich, als Linda in der Ecke mit den Liebesromanen verschwand.
Natürlich hielt sie es nicht für nötig, mit mir zu sprechen. Sie
warf mir nur einen ihrer berüchtigten vernichtenden Blicke zu, die
sie abfeuern konnte wie eine Panzerfaust aus dem Zweiten Weltkrieg.
Ihre Blicke hatten immer
die gleiche Botschaft. Sie sprachen davon, dass ich diejenige war,
deren verrückte Mutter während eines schlimmen Unwetters plötzlich
wie aus dem Nichts und splitterfasernackt mitten in der
Stadt aufgetaucht war. Sie sprachen davon, dass sie einen der
begehrtesten jungen Männer gestohlen und sein Leben
ruiniert hatte. Davon, dass sie ein Kind bekommen hatte,
ohne verheiratet zu sein. Davon, dass ich dieses Kind
war und die Sache auf die Spitze trieb, indem ich genauso
seltsam war wie meine Mutter. Aber all das war nur die Spitze
des Eisbergs der Verschmähungen, die Linda mir nonverbal unter die
Nase rieb, wann immer sie Gelegenheit dazu bekam.
Leider war Linda beinahe eine genauso besessene
Leserin wie ich, also begegnete ich ihr mindestens zweimal im
Monat, wenn sie in den Buchladen kam, um sich einen neuen Stapel
Liebesromane zu besorgen. Sie bevorzugte eine ganz bestimmte Art
von Handlung: Ihr gefielen Geschichten, in denen ein kühner Pirat
irgendeine jungfräuliche Maid entführt und ihr so lange Gewalt
antut, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann
massakriert er unzählige Seeleute, während sie sein Entermesser
poliert. Wahlweise entführt auch ein wilder Clanführer aus den
schottischen Highlands irgendeine Englische Rose, tut ihr so lange
Gewalt an, bis sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann
löscht er das gesamte englische Heer aus, während sie seine
Haggis-Wurst stopft. Oder ein schöner indianischer Krieger entführt
eine jungfräuliche weiße Siedlerin, tut ihr so lange Gewalt an, bis
sie sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird, und dann tötet er jede
Menge Siedler, während sie sein Tomahawk wetzt. Ich möchte ja
ungern Freud bemühen,
wenn es um Linda geht, aber ihre Lesevorlieben sagen doch viel
darüber aus, warum sie so ein verdammtes Miststück ist.
Tracy hatte einen Telefonanruf entgegengenommen,
während Linda noch ihre Bücher aussuchte, und Grizelda hatte sich
auf einem Hocker ganz weit hinter der Ladentheke platziert, als
wollte sie sagen: »Danke, aber ich bin gerade nicht im Dienst.«
Doch Linda ignorierte absichtlich die Tatsache, dass nur ich gerade
frei war, und baute sich stattdessen demonstrativ vor Tracy auf.
Tracy gab ihr ein Zeichen mit den Augen, sich an mich zu wenden,
aber Linda tat weiterhin hartnäckig so, als würde sie mich gar
nicht sehen. Schließlich seufzte Tracy und brach ihr
Telefongespräch ab. Ich sah ihr an, dass sie Linda am liebsten die
Meinung gesagt hätte, aber Read it and weep konnte es sich
nicht erlauben, eine so gute - wenn auch boshafte - Kundin zu
vergraulen. Also tippte Tracy Lindas Einkäufe in die Kasse und
packte die Bücher in eine Tüte, die sie Linda dann so höflich, wie
das eben möglich war, ohne wirklich freundlich zu sein,
überreichte. Zum Abschied warf Linda mir noch einen ihrer giftigen
Blicke zu, mit denen ich zwar immer rechnen musste, die mich dann
aber doch immer wieder unvermutet trafen.
Es war ein Blick, der sagte: »Da ist die Irre,
die ihren eigenen Freund getötet hat.«
Natürlich stimmte das so nicht. Ich hatte ihn nicht
eigenhändig umgebracht. Ich war nur der Grund dafür, dass er jetzt
tot war.