KAPITEL 19
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Ich stand am Beckenrand und beäugte misstrauisch das Wasser im Pool. Ich wollte meinen gestrigen Auftritt auf keinen Fall wiederholen. Ein Abend als Crackhure genügte. Hatte ich Ryu wirklich Sex im Austausch für eine Runde Schwimmen geboten? Gott sei Dank hatte ich nie Drogen genommen. Ehe ich mich’s versehen hätte, wäre ich vermutlich in der öffentlichen Bekanntgabe der Drogenopfer aufgetaucht.
Ich streckte ein Bein nach vorne und näherte den großen Zeh der Wasseroberfläche. Doch dann überlegte ich es mir anders: ein Zeh war wahrscheinlich schon zu viel. Stattdessen setzte ich mich im Schneidersitz an den Rand und streckte mit Bedacht meine Hand zum Wasser aus. Ich fing besser nur mit einer Fingerspitze an.
Letzte Nacht war ich für ein paar Stunden in Tiefschlaf gefallen, und gegen drei Uhr morgens waren meine Augenlider plötzlich aufgesprungen. Die Befürchtung, dass ich einen Kater von meinem Crack-Pool-Erlebnis bekommen würde, erwies sich als völlig unbegründet. Ich war nur total wach und fühlte mich in etwa so wie ein Duracell-Häschen, das man an einen Atomreaktor angeschlossen hatte. Glücklicherweise war Ryu wach und noch am Lesen, also fanden wir Mittel und Wege, uns zu amüsieren. Er fand es besonders witzig, mein Benehmen nach dem Bad im Alfar-Pool nachzuäffen, und dafür musste ich ihn selbstverständlich gründlich disziplinieren. Gegen sechs schaltete Ryu sich ab und verfiel in seine Vampirstarre. Von da an war ich mir selbst überlassen. Also nahm ich mir eins von Ryus Büchern - Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Die Übersetzung war hervorragend. Ich war so konzentriert, dass ich nur halb so lange für die Lektüre brauchte wie sonst. Als ich mit Dostojewski schließlich fertig war, veranstaltete ich eine wahre Badorgie: Gesichtsschlammmaske, Enthaarung, Körperpeeling. Aber im Grunde versuchte ich nur, so viel Zeit wie möglich totzuschlagen, was sich aber schwierig gestaltete, denn ich strotzte nur so vor Energie und erledigte alles praktisch in Lichtgeschwindigkeit.
Als ich wieder aus dem Bad auftauchte, war ich erleichtert, Elspeth vorzufinden, die in unserem kleinen Wohnzimmer auf mich wartete. Sie nahm mich mit zum Frühstück und zeigte mir danach, wie man zum Pool kam. Ihre ruhige Präsenz tat meinen immer noch überreizten Nerven gut.
Schließlich brachte sie mich wieder auf mein Zimmer und zog sich zurück. Ich hatte beschlossen, meinen Badeanzug anzuziehen und noch einmal eine Runde in dem Crack-Pool zu riskieren. Aber diesmal wollte ich vorsichtiger sein. Und da saß ich nun.
Mein Zeigefinger schwebte direkt über der Wasseroberfläche, dann tauchte ich ihn ganz langsam bis knapp über den Nagel ein. Es fühlte sich an, als würde ich meinen Finger in eine Lampenfassung stecken: eine Welle der Energie ging vom Wasser auf mich über, erfasste erst meinen Arm und strömte dann durch meinen ganzen Körper. Ich zog hastig die Hand zurück, denn es fühlte sich an, als sei ich vom Blitz getroffen worden. Aber ich mochte das Gefühl, also tauchte ich meinen Finger noch einmal vorsichtig ein und gleich darauf noch einmal. Ich musste lachen, denn mir wurde ein klein wenig schwindlig, aber dennoch gefiel mir das Gefühl, das mir das Wasser bereitete, obwohl ich keine Ahnung hatte, was es bedeutete. Langsam begriff ich, was mit mir passierte, wenn ich schwamm: Das Meer gab mir die Kraft, mit der ich dann wiederum das Meer bezwingen konnte. Da bestand ein direkter, kausaler Bezug. Aber konnte ich diese Kraft auch außerhalb des Wassers für mich nutzen? Was sprach schon dagegen - zumindest theoretisch? Aber wenn ich mir vorzustellen versuchte, dass ich Magielichter schaffen und meine Freunde und Nachbarn mit einer Aura in die Irre führen konnte, dann kam mir der Gedanke völlig lächerlich vor. Für mich war ich immer noch dieselbe Jane True, die noch vor einer Woche vor sich hin gelebt hatte und nichts von der Welt ahnte, an deren Rand sie sich unwissentlich aufhielt.
Trotzdem war in den letzten Tagen nun so viel so schnell passiert, und mir war klar, dass ich noch immer nicht wagte, den Tatsachen wirklich ins Auge zu sehen. Ich versuchte einfach mich durchzumogeln, ohne wirklich darüber nachzudenken, wie sehr sich mein Leben gerade veränderte. Denn darüber wollte ich nicht nachdenken - dass mein Leben sich ändern würde, aber auf eine Weise, die ich weder vorhersehen noch kontrollieren könnte.
»Aber was, wenn nicht?«, mischte sich die zynische Stimme in meinem Kopf ein. »Dann kehrst du, wenn all das hier vorbei ist, wieder nach Rockabill zurück, zu deinem Vater und deinen Freunden und deinem alten Leben. Und du weißt verdammt gut, dass Ryu sein spannendes Leben in Boston oder hier am Hof der Alfar nicht aufgeben wird, nur um mit dir zusammen zu sein. Also vielleicht gehst du einfach wieder nach Hause zurück, und rein gar nichts hat sich geändert. Du wirst zwar wissen, dass es da draußen noch eine ganz andere Welt gibt, und du wirst Amy ein bisschen näher kommen und dich im Stall willkommener fühlen als früher - aber was, wenn das dann schon alles war, was sich für dich bessert? Keine Mitgliedskarte einer Geheimgesellschaft und kein Zugang zu einer besonderen anderen Welt voller aufregender Dinge, Gefahr und Romantik - nur verblassende Erinnerungen und ein Paar hübsche, aber unglaublich unbequeme hohe Schuhe.«
Ich musste daran denken, was ich zu Ryu über die zwei verschiedenen Janes gesagt hatte. Stellte ich mir so etwa mein künftiges Leben vor? Eine Jane für Rockabill und eine für außerhalb? Doch diese Strategie würde rein gar nichts ändern.
Ich sah, wie mein Spiegelbild auf dem Wasser die Stirn runzelte. »Wie wäre es damit: Lass dich gar nicht erst auf das Ganze hier ein«, dachte ich, während mein Körper meine geistige Abwesenheit nutzte und den Finger zum vierten Mal ins Wasser tauchte. Meine Wirbelsäule vibrierte vor Energie.
Ich seufzte. Wie gern wäre ich jetzt schwimmen gegangen - hätte das Wasser auf der Haut gespürt und all meine Sorgen vergessen. Aber ich wusste, dass ich dann wieder herumtorkeln würde wie ein betrunkener Matrose, also stand ich auf und schlang mir das Handtuch um die Hüften. Ich würde etwas anderes finden müssen, mit dem ich die nächsten paar Stunden verbringen konnte.
Ich drehte mich um und wollte zu dem kleinen, schmiedeeisernen Tor gehen, das zu dem Innenhof mit dem Lebensbaummosaik führte, als ich ein Rascheln hinter mir vernahm. »Ryu?«, fragte ich mich verwundert, obwohl ich eigentlich wusste, dass er noch nicht lange genug geruht hatte. »Wahrscheinlich ist es Elspeth, die mir meine Kleider oder einen Bademantel bringt«, dachte ich. Denn die Nymphe schien Gedankenlesen zu können. Sie hatte nicht nur heute Morgen auf mich gewartet, als ich aus dem Bad kam, sondern irgendwie war sie auch an meine Klamotten von gestern Abend gekommen und hatte mir alles frisch gewaschen zurückgebracht. »Ich frage mich, wer hier am Hof saubermacht. Wahrscheinlich irgendwelche Zauberbesen...« Ich drehte mich um, um sie zu begrüßen.
Doch es war nicht Elspeth. Anstatt meiner freundlichen Waldnymphe starrte Jimmu mich bedrohlich an. Schweigend stand er auf der anderen Seite des Pools. Er musste über den Pfad gekommen sein, der sich durch die tropische Vegetation um das Schwimmbecken schlängelte. Er war nur mit schwarzen Badeshorts bekleidet und schien gerade Sport getrieben zu haben. Er glänzte vor Schweiß, und seine unzähligen Piercings blitzten in der Sonne. Sein hemdloser Auftritt enthüllte noch ein paar mehr von den Metalldingern, und sein Iro hing ihm fettig ins verschwitzte Gesicht.
»Und siehst du das Schwert, das er bei sich trägt?«, zischte mir meine innere Stimme alarmiert zu. Beim Anblick dieser Waffe hätte ich am liebsten sofort Reißaus genommen, und dennoch stand ich einfach wie angewurzelt da.
Eine Weile verharrten wir so und starrten uns gegenseitig an. Ich glaube, er war über meine Anwesenheit genauso überrascht wie ich über seine. Gott sei Dank hatte er das Schwert nicht noch gezückt, sonst hätte ich mir nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit in die Hosen gemacht. Alles, was ich über Schwerter wusste, kannte ich aus Highlander, und dieses sah eindeutig so aus, als könne man damit leicht jemandem den Kopf abschlagen.
Irgendwann ließen sich meine Füße doch bewegen, und ich machte den Fehler, einen Schritt zurückzuweichen. »Niemals Angst zeigen«, kam es mir in den Sinn, aber zu spät. Jimmus eiskalte Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und er kam auf mich zu.
Zwischen uns lag der Pool, den er erst noch umrunden musste, also hatte ich genug Zeit loszurennen, durch das schmiedeeiserne Tor zu entkommen und mich im Verbund in Sicherheit zu bringen. Aber ich rührte mich nicht, war wie hypnotisiert von Jimmus geschmeidigen, schlängelnden Bewegungen. Während er näher kam, starrte er mir weiter in die Augen, und ich wusste plötzlich, wie Mogli sich gefühlt haben musste, als er auf die Schlange Ka traf. Jimmus gefühllose Augen hielten mich gebannt, seine schlangenhaften Bewegungen betäubten meine Reflexe. Ich zweifelte nicht daran, dass er mich töten wollte - und dennoch stand ich dort wie erstarrt, als würde ich nicht auf meinen Mörder, sondern auf meinen Geliebten warten.
Das bedeutete allerdings nicht, dass ich nicht von Panik erfasst wurde. Angst durchflutete mein Nervensystem, und all die Stimmen in meinem Kopf brüllten mich an, ich solle endlich in die Gänge kommen, fliehen, mich verdammt noch mal aus dem Staub machen. Aber auch diese Stimmen konnten nichts gegen Jimmus hypnotischen Blick ausrichten.
Plötzlich war da noch ein anderes Geräusch. Es kam von dem versteckten Pfad, über den auch Jimmu am Pool aufgetaucht war. Er hielt inne, und seine Schlangenzunge blitzte zwischen den Lippen auf. Doch er hielt die Augen weiter auf mich gerichtet, so dass ich mich nicht bewegen konnte.
»Er züngelt wie eine Schlange«, fuhr es mir durch den Kopf, und ich erschauderte.
Ich konnte meinen Retter nicht sehen, aber irgendwer war da, denn es raschelte in den Pflanzen. Jimmus Augen verschmälerten sich wieder, und dann sah er in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Endlich war der Augenkontakt mit ihm unterbrochen. Ich atmete lautstark aus, als der Zauber, unter dessen Einfluss ich gestanden hatte, sich legte.
Endlich drehte ich mich um und rannte auf das Tor zum Hof zu, weg von Jimmus Hypnoseblick. Doch im Davonlaufen sah ich noch, wie der Naga sein Schwert zückte und im Gestrüpp verschwand. Er verfolgte denjenigen, der ihn in seinen mörderischen Absichten gestört hatte. Als ich durch das Tor rannte, dankte ich meinem geheimnisvollen Retter aus tiefster Seele. Ich wusste, dass es nicht nur ein Kaninchen gewesen sein konnte, denn Jimmus Gesicht hatte mir verraten, dass er denjenigen, wer auch immer es war, wiedererkannt hatte. Ich hoffte inständig, dass mein Retter auch wusste, worauf er sich einließ, indem er Jimmus Wut auf sich zog.
Mittlerweile war ich wieder im Verbundsgebäude angekommen, aber dennoch hörte ich nicht auf zu rennen, bis ich jemandem begegnete. Ein Puma, von dem ich hoffte, dass es sich dabei um einen Nahual handelte und nicht um einen echten, sah mich neugierig an, als ich an ihm vorbeihastete. Dann zuckte er mit den Schultern und ging kopfschüttelnd weiter. Schließlich kam ich in einen großen Raum, in dem noch einige andere Wesen herumschwirrten. Es war eine Art Musiksaal, zumindest deuteten die Instrumente, die dort an den Wänden standen, darauf hin. Ich nutzte die Gelegenheit, beugte mich erschöpft vornüber und stützte mich mit den Händen auf den Knien ab. Ich japste nach Luft und hatte schreckliches Seitenstechen. Außerdem musste ich mein Handtuch wohl irgendwo auf dem Weg verloren haben. Ich war schweißgebadet, hauptsächlich deshalb, weil meine Nerven blanklagen, und zitterte am ganzen Leib. Anders ausgedrückt, ich sah in etwa so hervorragend aus, wie ich mich fühlte.
Außerdem hatte ich keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Natürlich war mir klar, dass ich so schnell wie möglich zu Ryu ins Zimmer zurückkehren musste, denn er war der Einzige, dem ich hier trauen konnte. Ich musste ihm dringend erzählen, was zwischen mir und Jimmu vorgefallen war, nicht zuletzt deshalb, weil ich das Gefühl hatte, dass ich allein hier nicht mehr sicher war.
Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass Jimmu nicht bloß vorhatte, mir die Hand zu schütteln und sich höflich nach meiner Einschätzung der Chancen von Neuengland im diesjährigen Super Bowl zu erkundigen. Er hatte ganz sicher eine grässliche Gewalttat an mir verüben wollen - aber warum?
»Nur weil ich ein Halbling bin?«, fragte ich mich. »Oder steckt noch mehr dahinter?«
Ich hoffte wirklich, dass Jimmu einen besseren Grund hatte, mich zu töten, als mein genetisches Erbe, auch wenn ich wusste, dass sich die Menschen gerade deswegen besonders gerne gegenseitig massakrierten. Aber wenn Halblinge so verhasst waren, dass manche in der übernatürlichen Gemeinschaft es okay fanden, sie zu töten, dann wäre ich in der Welt meiner Mutter niemals sicher.
»Und nicht mehr richtig zu Hause in der meines Vaters...«, dachte ich noch.
Ich schüttelte diese Gedanken ab, denn jetzt war sicher nicht der Zeitpunkt, an die Zukunft zu denken. Erst einmal musste ich sicher in mein Zimmer und zu Ryu gelangen, möglichst ohne vom Schlangenmann zerstückelt zu werden. Keine leichte Aufgabe, denn ich hatte keinen blassen Schimmer, wo ich mich gerade befand.
»Als Besucher müsste man hier wirklich erst einmal einen Ortsplan in die Hand gedrückt bekommen«, dachte ich und sah mich um, um herauszufinden, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Normalerweise hatte ich einen ganz guten Orientierungssinn, aber dieser Ort störte irgendwie mein internes Navigationsgerät.
Auf keinen Fall wollte ich auf dem Weg zurück, über den ich gekommen war, falls Jimmu schon damit fertig war, denjenigen zu zerstückeln, der uns gestört hatte. Also ging ich auf zwei große Flügeltüren vor mir zu. Ich fühlte mich ziemlich bescheuert in meinem ausgeblichenen alten Badeanzug, aber niemand schenkte mir Beachtung. Was nur gut war, denn Jimmus Verhalten mir gegenüber hatte mich durchaus überzeugt, dass praktisch jeder hier mir nach dem Leben trachten konnte, nur weil ich war, wer ich war. Kein besonders angenehmes Gefühl.
Unauffällig öffnete ich eine der Türen einen Spalt weit und schlüpfte hindurch. Vorsichtig schloss ich sie hinter mir, drehte mich um und stand plötzlich Morrigan, der Alfar-Königin, gegenüber.
»Mist«, dachte ich und beeilte mich, schnell eine kleine Verbeugung zu machen, die aber leider wenig anmutig wirkte.
Die Königin nickte mir huldvoll zu. Zum ersten Mal sah ich sie stehend. Sie war nicht größer als einen Meter siebzig, aber die Kraft, die von ihr ausging, ließ mich zurückweichen. Zwei hübsche Zofen standen beschützend zu beiden Seiten hinter ihr, aber als sie sahen, wer da eingetreten war und was ich anhatte, waren sie es, die zurückwichen.
»So furchteinflößend bin ich nun auch wieder nicht, oder?«, dachte ich und wünschte mir, Jimmu hätte denselben Respekt vor mir an den Tag gelegt.
»Jane«, erklang die schleppende Stimme der Königin, und ein langsames Lächeln legte sich um ihre Mundwinkel. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Danke, Majestät«, erwiderte ich.
»Hattest du eine angenehme Nachtruhe?«
»Ja, Majestät.«
»Wie hat dir der Pool gefallen?«
»Oh, gut, danke«, sagte ich, und mein innerer kleiner Crackteufel fügte insgeheim hinzu: »… dass Ihr Drogen beigefügt habt.« »Die Wirkung ist ziemlich stark«, hörte ich mich dann wieder laut sagen.
»Ja, das ist sie wohl, für dich.« Unsere Augen trafen sich, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass sie mich wirklich ansah. »Du lebst in Nell Zwergs Territorium, oder?«, fragte sie mich. Ich versuchte nicht zu kichern.
»Äh, ja, ich denke schon, bei Nell Zwerg.«
Die Königin sah mich prüfend an. »Sie muss dich schulen. Ich werde mit ihr in Kontakt treten. Wir können dich nicht völlig schutzlos lassen.«
»Nein, das können wir wirklich nicht«, dachte ich und musste daran denken, dass ich in Jimmus Gegenwart wie paralysiert gewesen war.
»Indes, wie gefällt es dir bisher hier im Verbund?« Die Königin fasste mich am Arm, und ich entspannte mich etwas. Jimmu würde bestimmt nicht an Morrigan vorbei zu mir durchdringen, und ich bezweifelte, dass die Königin es zulassen würde, dass einem ihrer Gäste vor ihren Augen der Kopf abgeschlagen würde, auch wenn es sich bei mir nur um einen Halbling handelte.
»Oh, es ist ganz wunderbar«, sagte ich, und in Gedanken fügte ich hinzu: »Abgesehen davon, dass man mich bereits umbringen wollte, dass ich beinahe in Flammen aufgegangen wäre und der Tatsache, dass ich mich jedes Mal, wenn ich unsere Suite verlasse, sofort verlaufe.«
»Es muss alles sehr fremd für dich sein, nachdem du dein ganzes Leben unter Menschen verbracht hast.«
»Na ja, es gibt eine Menge Dinge hier, die… eine Herausforderung für mich darstellen.« Ich fand, das war ziemlich diplomatisch von mir. »Aber es ist auch alles sehr schön und aufregend.«
Die Königin neigte ihr schönes Gesicht zu mir, und ich bildete mir ein, ein hauchzartes Lachen von ihren Lippen gehört zu haben. »Wir Alfar werden nicht oft als aufregend bezeichnet, obwohl ich mir durchaus vorstellen kann, dass der Verbund für dich, für die alles hier ganz neu ist, alles in allem recht faszinierend erscheinen muss.« Sie hielt kurz inne. »Unsere jüngeren Gattungen sind ja auch so unternehmungslustig und stürzen sich gerne in alle möglichen Aktivitäten.«
»Und die Alfar etwa nicht?«, dachte ich skeptisch. Ich hatte Jarls Blick bemerkt, als er mich Jimmu vorgestellt hatte, und der ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass dies der erste Schachzug in einem finsteren Spiel für ihn war. Nur wusste ich nicht, um welches Spiel es sich handelte und was meine Rolle darin war.
Morrigan hatte mich zurück in den Saal mit den Instrumenten geführt und dann durch eine Tür links hinaus. Wir stiegen ein paar Steinstufen hinunter in die erste einer Reihe von Küchen und verschiedenen Hauswirtschaftsräumen. Wenn ich erwartet hatte, dass hier Zauberbesen durch die Luft schwirrten oder Zauberlöffel in Kochtöpfen herumwirbelten, musste das, was ich nun zu sehen bekam, eine Enttäuschung sein. Denn hier waren keine Zauberkräfte, dafür allerlei verschiedene Wesen am Werk. Allerdings waren diese für sich betrachtet zum Teil schon eine wahre Attraktion. Ein Raum war voll mit Waschmaschinen, die von einem ziemlich miesepetrig wirkenden Orang-Utan bedient wurden. Und ich sah eine Kreatur, die wohl eine Ifrit sein musste, denn sie saß unter einem großen Bratenspieß, auf dem ein ganzes Schwein brutzelte, und lackierte sich die Nägel. Eine besonders kurvenreiche Elbe schlenderte mit schwingenden Hüften und mit einem Korb Putzmittel am Arm an uns vorbei, und ich hätte alles dafür gegeben, sie dabei zu beobachten, wie sie auf Knien an etwas herumschrubbte, irgendetwas, egal, was.
»Wie schaffen sie hier nur ihre Arbeit?«, fragte ich mich.
Die Königin redete noch immer von den »jüngeren Gattungen«. Ich nahm an, dass sie damit alle anderen Arten von übernatürlichen Wesen meinte, die keine Alfar waren. Ich wusste, dass sie sich damit nicht auf Kinder bezog, denn bisher hatte mich nahezu jeder, den ich aus dieser Welt getroffen hatte, auf das Nachwuchsproblem hingewiesen. Andererseits war dieser Verbund sehr groß und ziemlich bevölkert. Falls es auf der ganzen Welt tatsächlich noch weitere Verbunde wie diesen gab, dann musste die übernatürliche Bevölkerung recht groß sein, vor allem, wenn man ihre lange Lebensdauer betrachtete.
»…gestalten das heutige Unterhaltungsprogramm«, sagte Morrigan gerade. »Also wird es bestimmt sehr kurzweilig. Sie sind wirklich originell.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber ich spitzte vorsichtshalber den Mund und nickte demonstrativ - meine typische »Oh, wie interessant«-Pose.
»Ma…, äh, Majestät«, fragte ich unsicher und nahm all meinen Mut zusammen. »Wie viele von uns gibt es denn insgesamt auf der Welt? Ist das bekannt?«
Morrigan runzelte nachdenklich die Stirn, und einen Moment lang knisterte die Luft um uns herum von dieser besonderen Energie, an deren Kraft ich mich noch immer nicht gewöhnt hatte. Aber dann nahmen ihre glatten Züge wieder den üblichen nichtssagend milden Ausdruck an.
»Der Erdteil, den die Menschen als Nord- und Zentralamerika bezeichnen, besteht aus fünf Territorien. Auch die restliche Welt ist ähnlich unterteilt. In jedem Territorium gibt es eine Vielzahl von Wesen, die alle von einer Alfar-Monarchie regiert werden, die wiederum ihren Sitz in einem eigenen Verbund hat. Was die Bevölkerung betrifft, ist sie immer abhängig von der Lage des jeweiligen Territoriums, denn diese entscheidet darüber, welche und wie viele Arten dort nebeneinander existieren können. Manche Gebiete sind dichter besiedelt als andere, und auch die Vielfalt der Gattungen variiert von Gebiet zu Gebiet. Elben beispielsweise fühlen sich heutzutage im Mittleren Osten nicht mehr besonders wohl, und die Ifrits meiden den Regenwald. Aber genaue Zahlen sind uns nicht bekannt, nicht zuletzt, weil unsere Grenzgebiete - die Bereiche zwischen den einzelnen Territorien - eher wilde, unkontrollierbare Gegenden sind, die sich der Alfar-Herrschaft entziehen. Wir wissen nur, dass die Population insgesamt abnimmt.«
Morrigan sah mich fragend an, als wollte sie sich vergewissern, dass ich ihr noch folgte. Ich nickte, und sie fuhr fort. »Ich bin sicher, du hast bereits gehört, dass unsere Geburtenrate stetig sinkt.« Ich nickte wieder. »Die Fortpflanzung war noch nie ein einfaches Unterfangen für uns. Wir können uns nicht ohne Fortpflanzungsabsicht vermehren.« Ryu hatte dasselbe gesagt, als wir das erste Mal miteinander Sex hatten, aber ich hatte ihn nie nach den genauen Hintergründen gefragt, auch wenn ich das Wesentliche wohl verstanden hatte. Aber nun hörte ich umso aufmerksamer zu, was Morrigan mir erklärte. »Wir haben keinen natürlichen Zyklus wie Menschen oder Tiere. Wir produzieren nicht automatisch Eizellen oder Spermien; wir müssen die Fähigkeit, Leben entstehen zu lassen, bewusst in uns hervorrufen. Dazu braucht es Monate der Konzentration und jede Menge Energie. Es war also schon immer eine große Herausforderung für uns, jedoch eine, der wir uns stellten.« Morrigan runzelte erneut die Stirn. »Doch in den letzten Jahrhunderten ist es zunehmend schwerer geworden, zumindest wenn es sich bei beiden Partnern um Elementarwesen handelt. Aus irgendeinem Grund haben wir weniger Schwierigkeiten, uns mit Menschen fortzupflanzen. Aber zu diesem Thema gibt es in unseren Kreisen sehr kontroverse Meinungen.«
Was die Königin mir da erzählte, war in vielerlei Hinsicht faszinierend, und es gab so viele Fragen, die ich ihr stellen wollte. Zu meinem eigenen Entsetzen drängelte sich ausgerechnet meine Libido ganz nach vorne und wollte heraus mit der Sprache. »Heißt das«, hörte ich mich selbst fragen, »wenn einem, sagen wir einmal, ein Baobhan Sith sagt, dass er einen nicht schwängern oder einem keine... ähm, anderen unerwünschten Geschenke machen kann, dann sagt er die Wahrheit?«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Grinsen über Morrigans sonst so gleichmütiges Gesicht. Das war die erste menschliche Reaktion, die ich bisher bei ihr beobachtet hatte. Doch schon war ihr Ausdruck wieder gleichmütig.
»Ja, mein Kind, alles, was man dir gesagt hat, ist wahr. Unsere Elementarkräfte bewahren uns vor Krankheiten, und wir sind unfruchtbar, außer wir entscheiden uns bewusst anders. Und diese Entscheidung zu treffen, ist ein schwieriger Prozess. Also besteht keine Gefahr, dass wir uns ungewollt mit Menschen fortpflanzen, und dasselbe gilt für Halblinge.«
Daraufhin entstand eine peinliche Pause, als ob Morrigan sich soeben bewusst geworden wäre, mit wem sie da sprach. Ich lächelte sie freundlich an, um ihr zu zeigen, dass sie mich nicht beleidigt hatte.
Schließlich kamen wir zurück in einen der Hauptflure des Verbundsgebäudes, der mir wieder vertraut war. Die Königin brachte mich zurück zu unserer Suite.
»Aber wir sind nicht wie die Menschen«, fuhr Morrigan fort, und ihre glatten Züge strahlten einmal mehr ruhige Gelassenheit aus. »Wir bilden keine Teams von - wie nennt ihr das - Wissenschaftlern?« Ich nickte. »Wir bilden keine Wissenschaftlerteams, um die Natur zu unterwerfen und unsere Probleme zu lösen. Wir sind so alt wie die Berge, und wir vertrauen darauf, dass sich unsere Probleme von selbst lösen. Für einen Alfar sind ein paar hundert Menschenjahre nur ein Augenzwinkern. Schon bald wird eine neue Zeit für uns anbrechen, in der sich all unsere Sorgen verflüchtigt haben werden.«
Sie lächelte selig, während ich mich bemühen musste, meine Augenbrauen nicht zu weit hochzuziehen. Wovon sprach sie? Sie tat gerade so, als gäbe es da draußen nur die Alfar. Aber was ist mit den Nahual? Ryu hatte gesagt, Russ mit seinen gut vierhundert Jahren sei alt. Zumindest er hatte also nicht die Lebenserwartung von Bergketten, so dass er eine halbe Ewigkeit auf eine Lösung warten konnte.
Außerdem, wenn man ewig lebt, hatte man nur mehr Zeit, sich in Dinge hineinzusteigern. Und man musste sich ja nur einmal überlegen, was sogar kurzlebige menschliche Paare auf sich nehmen, um ein Kind zu bekommen. Gut, ich hatte mittlerweile verstanden, dass die Alfar nicht gerade übersprudelten vor Gefühl, aber Ryu für seinen Teil war leidenschaftlich und Iris definitiv emotional. Sogar Morrigan hatte ein Fünkchen Gefühl verraten, als sie das Thema Nachwuchs angeschnitten hatte und war erst dann wieder zu ihrer komischen Vulkanier-Haltung zurückgekehrt. Wenn sie also ganz ehrlich mit sich selbst waren, ließ die Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnten, nicht alle so kalt, wie die Alfar gerne vorgaben zu sein.
Die letzten Meter gingen wir schweigend nebeneinander her - ich hatte keine Ahnung, mit was ich das Gespräch fortführen sollte, nach dem, was Morrigan mir gerade gesagt hatte, und sie schien unser Schweigen nicht zu stören. Als wir an meinem Zimmer angelangt waren, blieb sie stehen, um sich von mir zu verabschieden. »Pass auf dich auf, Jane«, sagte sie mit ausdruckslosen Augen. »Wir sehen dich dann auf dem Fest heute Abend.«
Ich versuchte mich erneut an einer Verbeugung, die mir diesmal sogar etwas eleganter gelang. »Danke, Königin, äh, Hoheit«, stammelte ich und ärgerte mich, dass ich Ryu immer noch nicht gefragt hatte, wie man sie korrekt ansprach. Mit meinen Kenntnissen der »höfischen Etikette« war es wirklich nicht weit her.
Sie lächelte unbeeindruckt von meiner Verwirrung, und ich schlüpfte schnell durch die Tür in mein Zimmer.
Ich schüttelte Ryu wie eine Dose Sprühsahne, aber er war wie ausgeschaltet. Also beschloss ich - nachdem ich zweimal überprüft hatte, ob die Tür zu unserer Suite und die Schlafzimmertür zugesperrt waren -, noch eine Dusche zu nehmen. Nach meinem Zusammenstoß mit Jimmu fühlte ich mich irgendwie schmutzig; noch immer konnte ich seine Blicke wie feuchtkalte Hände auf meiner Haut spüren. Ich zog meinen Badeanzug aus und drehte das Wasser auf.
Es gab so vieles, über das ich nachdenken musste, dass ich überhaupt nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Zunächst hatte mich das Zusammentreffen mit der Königin davon abgehalten, mir darüber Gedanken zu machen, was am Pool passiert war. Und es war natürlich ausgeschlossen, dass ich ihr davon erzählte, schließlich war Jimmu der Ziehsohn ihres Schwagers und Stellvertreters. Außerdem war mir verdammt klar, selbst wenn Jimmu gar nicht die Absicht gehabt hatte, mich zu töten, so hätte er mir doch irgendetwas sehr Unangenehmes angetan. Aber wer außer Ryu würde mir das schon glauben?
»Jimmu muss dich wirklich hassen«, erinnerte mich mein Gehirn wenig hilfreich. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihn schon vorher einmal gesehen hatte. Aber das war unmöglich - an einen einen Meter achtzig großen Kerl mit blauem Irokesenschnitt und stählernen Eckzähnen würde ich mich wohl erinnern können. »Außer er hat sich mit seiner Aura umgeben«, fiel mir plötzlich ein. »Aber dann würde es mir auch nicht so vorkommen, als würde ich ihn irgendwoher kennen.« Bei diesem Gedanken verrenkte sich mein Gehirn ein wenig - ich fühlte mich, als würde ich mir einen dieser Filme über Zeitreisen anschauen, bei denen man immer weiß, dass die Handlung völlig absurd wäre, wenn man auch nur eine Sekunde ernsthaft darüber nachdenken würde. »Nehmen wir einfach einmal an, es kommt mir so vor, als kenne ich ihn, und belassen es dabei«, beschloss ich und krallte mich bei diesem Gedanken mit eisernem Griff an meiner Zurechnungsfähigkeit fest.
»Und was zum Teufel ist bloß mit diesen Alfar los?«, mischte sich die andere Hälfte meines Gehirns ein. »Sie sind so mächtig, aber auch so unglaublich selbstgefällig. Auf keinen Fall macht es allen anderen genauso wenig zu schaffen wie ihnen, dass sie sich nicht einfach fortpflanzen können. Sonst hätten sie nicht solche Vorbehalte gegen Halblinge. Man hasst nur das, was man insgeheim beneidet oder sich wünscht«, dachte ich nicht ohne Stolz auf mein Hobbypsychologenwissen.
Wenn sie nun mal Probleme haben, sich fortzupflanzen, warum taten sie dann nicht einfach etwas dagegen? Klar, ich wusste selber, dass wir Menschen die Natur »unterwarfen« - man musste mir nicht gleich mit Bacon kommen, damit ich einsah, dass unsere Spezies ein paar fundamentale Mängel aufwies. »Aber gar nichts zu tun, besonders wenn man eigentlich so mächtig ist?«, schnaubte ich innerlich und verteilte extra viel Seife auf einem Waschlappen, um mir alle vermeintlichen Spuren von Jimmus Blicken wegzuschrubben.
Ich verstand ja, dass sie diese coole Fassade kultivierten, aber ich konnte mir vorstellen, dass das so manch andere aus der Gemeinschaft auch richtig verärgerte. Einige von ihnen hätten sicher nichts dagegen gehabt, wenn die Alfar nur einen Bruchteil ihrer beträchtlichen Ressourcen in ein paar eigene »Wissenschaftlerteams« stecken würden.
»Wissenschaftlerteams«, dachte ich. »Wissenschaftlerteams …«
»Das ist es«, fuhr es mir plötzlich durch den Kopf, und ich ließ mit einem platschenden Laut meinen Waschlappen in die Wanne fallen.
Teams...
Äußerlich seelenruhig drehte ich das Wasser ab, obwohl ich innerlich völlig aufgewühlt war.
Ich war nicht verrückt: Ich hatte Jimmu schon einmal gesehen. Und nun erinnerte ich mich auch daran, wo.