KAPITEL 18
Nachdem ich gegessen hatte, konnte ich kaum
noch die Augen offen halten. Wir hatten ein Eckchen abseits des
Trubels gefunden, um in Ruhe essen zu können. Ich war von den
ganzen Leckereien und den Anstrengungen des Tages so erschöpft,
dass mein Kopf immer wieder wegnickte wie bei einem Narkoleptiker.
Ich saß an Ryu gelehnt da, der abwesend vor sich hinstarrte. Er
dachte wohl über die Ereignisse des Tages nach. Ich ließ ihn vor
sich hin brüten, bis ich mir mit einem besonders heftigen Gähnen
beinahe den Kiefer ausrenkte.
Ryu sah mich mit zusammengekniffenen Augen prüfend
an. »Du musst schwimmen«, stellte er fest.
»Hm?«, fragte ich schläfrig.
»Du musst schwimmen gehen. Deine Energiereserven
sind fast aufgebraucht, du musst ins Wasser.«
Was er sagte, leuchtete mir ein. Anstatt der
normalerweise vier oder fünf Stunden Schlaf hatte ich die letzten
beiden Nächte an die sieben Stunden geschlafen. Trotzdem fielen mir
nun die Augen zu, und es war gerade mal neun Uhr abends.
»Draußen gibt es einen Pool. Er ist wie ein
künstliches Meer für alle Wasserelementarwesen, die am Hof zu
Besuch sind. Die Alfar achten darauf, dass er immer mit frischer
Energie geladen ist. Wir können gleich hin, wenn du willst.«
Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter, und er
strich mir übers Haar. Eigentlich genoss ich es gerade, einfach
hier zu sitzen und Übersinnliche anzuschauen. Mein Bauch war voll,
ich hatte einen Stuhl, auf dem ich sitzen und meine wunden Füße
ausruhen konnte, und einen gut aussehenden Mann, der mir den Nacken
massierte. Aber der Gedanke, ins Wasser einzutauchen, war schon
sehr verlockend, und nachdem ich Ryus liebevolle Fürsorge
noch einen Moment genossen hatte, raffte ich mich auf.
»Bist du sicher, dass du hier heute Abend nichts
mehr zu tun hast?«, fragte ich ihn.
Ryu runzelte die Stirn. »Nein. Nyx scheint nicht
mehr aufzutauchen, und ich will sie nicht vorwarnen, indem ich nach
ihr frage. Hier im Verbund kann keiner auch nur einen Muskel
bewegen, ohne dass alle anderen davon Wind bekommen. Also schauen
wir mal, ob sie morgen auftaucht, und falls nicht, dann ändern wir
eben unsere Strategie.« Er zuckte mit den Schultern. »Und in der
Zwischenzeit können wir unseren Aufenthalt hier genauso gut
genießen.« Er spreizte demonstrativ die Finger. »Außerdem muss ich
heute noch meine Fingerübungen machen«, sagte er und sah mich mit
hochgezogener Braue neckisch an. Ich lachte, doch gleichzeitig
spürte ich, wie eine leichte Hitzewelle meine Leistengegend
erfasste.
Als er meine Hand nahm, folgte ich ihm nur zu
gern.
Wir nahmen einen anderen Seitenausgang und betraten
einen langen Flur, von dem verschiedene Türen abgingen. Nun, da ich
nicht mehr wie benommen von den bloßen Ausmaßen des Hofes war,
konnte ich mich besser auf die Details konzentrieren. Allerdings
hatte ich Schwierigkeiten, das, was ich sah, treffend zu
beschreiben, denn der Stil war anders als alles, was ich je gesehen
hatte. Man muss sich das ganze Anwesen in etwa vorstellen wie von
zeitreisenden Zauberern erdacht, die eine Schwäche für Antiquitäten
haben, aber versuchen, mithilfe von Naturmaterialien eine moderne
Anmutung zu erreichen. Im Grunde war es ein totaler Stilmischmasch
und trotzdem in sich stimmig. Es erinnerte mich eher an die
Steampunk-Ästhetik aus Filmen wie Die Liga der außergewöhnlichen
Gentlemen oder Der Goldene Kompass als an die
kathedralenähnlichen Elbenstädte aus Herr der Ringe oder an
den glatten Yuppie-Minimalismus der Vampirverstecke in
Blade. Und obwohl alles sehr ästhetisch war, wirkte es
gleichzeitig praktisch und behaglich. Es hatte nichts von einem
nüchternen Verwaltungsgebäude, sondern war sehr luxuriös und
dennoch im Dienste der hier Lebenden erdacht.
Nachdem wir bereits eine gefühlte Ewigkeit durch
das Gebäude gelaufen waren, kamen wir plötzlich zu einem hübschen
Innenhof mit Kopfsteinpflaster. Hohe Nadelbäume säumten die
umgebenden Mauern, die Pflastersteine hatten verschiedene Farben
und bildeten ein Mosaik, das einen Baum darstellte, dessen Äste
sich wieder mit den eigenen Wurzeln verbanden. Ich erkannte das
Symbol: der keltische Baum des Lebens. »Wer hat wohl wen
beeinflusst?«, fragte ich mich. »Haben die Menschen sich einfach
nur
der Ideen und Symbole der Übernatürlichen bedient, oder wurden
diese auch von den Menschen beeinflusst?« Wenn ich da an das
Königspaar und die paradoxe Mischung aus Kraft und Lethargie, die
sie ausstrahlten, dachte, kam es mir so vor, als wäre Letzteres
eindeutig nicht unmöglich.
Wir verließen den Innenhof durch ein reich
verziertes schmiedeeisernes Tor, und plötzlich erstreckte sich vor
uns eine weitläufige künstliche Lagune mit Wasserfall und allem
Drum und Dran. Sie war umgeben von saftigem Grün, und es gab
allerlei lauschige Ecken und Winkel, wo das Wasser niedrig genug
war, um sich hinzusetzen oder sogar hinzulegen. Plötzlich wurde mir
klar, was ich da vor mir hatte.
»Uh, ist das etwa eine Sexgrotte?«, fragte ich Ryu
mit großen Augen. »Das ist ja wie bei Hugh Hefner.« Ich rümpfte die
Nase. »Eklig.«
Ryu sah mich mit vorgetäuschter Entrüstung an. »Wir
haben hier doch keine Sexgrotten«, schnaubte er gespielt
verächtlich. »Das ist eine Liebeslagune. Oder ein Petting-Pool oder
ein Schmuseschwimmbad. Aber doch keine Sexgrotte.«
Ich kicherte, und Ryu öffnete mit einem geschickten
Griff mein Wickelkleid.
»Hoppla«, murmelte ich überrascht. Er zog mich an
sich, um mich zu küssen und streifte mir gleichzeitig das Kleid von
den Schultern. Ein paar Sekunden später hing mir mein Höschen
zwischen den Kniekehlen, und mein BH war offen. »Nicht schlecht«,
musste ich zugeben. »Der Typ ist gut... aber ich auch«, dachte ich
und schüttelte sowohl meine restlichen Klamotten als auch seine
Hände ab und sprang mit einem Satz in den Pool. »Fang mich, wenn du
kannst!«, dachte ich noch, doch sobald ich das Wasser berührte,
japste ich nach Luft. Wenn sich das Schwimmen in meinem Atlantik in
etwa so anfühlte wie ein paar doppelte Espressi, dann war das hier
wie ein Schuss pures Heroin. Die elementare Kraft durchzuckte mich
wie ein Blitz, und auf einen Schlag war all meine Müdigkeit
verflogen. Wellen berauschender Energie wogten durch meinen Körper,
und vor Schreck über die unerwartete Heftigkeit hatte ich mich an
dem Wasser sogar ein wenig verschluckt.
Ich tauchte prustend auf und versuchte, wieder zu
Atem zu kommen. Ryu war wie der Blitz bei mir und hielt mich über
Wasser, bis ich wieder atmen konnte.
»Tut mir leid«, murmelte er kleinlaut. »Ich hätte
dich warnen müssen.«
Ich hustete und keuchte noch eine Weile, bis mir
plötzlich schwindlig wurde. Das musste am Sauerstoffmangel liegen
und an der erstaunlichen Kraft des Wassers, die mein Hirn geradezu
flutete. Kein Wunder, dass es mich zu diesem Pool nicht so wie zum
Ozean gezogen hatte - die Energie, die von ihm ausging, war völlig
anders und unglaublich stark. Ryu brachte mich an den Rand des
Beckens und setzte mich dort ab. Er stand vor mir im Wasser und
stützte mich, bis das Schwindelgefühl langsam nachließ.
Als ich schließlich wieder die Augen öffnen konnte,
ohne ihn gleich viermal vor mir zu sehen, lehnte ich mich an ihn
und seufzte: »Wow!« An meinen Waden, die noch immer im Wasser
hingen, konnte ich weiterhin die unglaubliche Energie spüren. »Das
ist vielleicht heftiges Zeug.«
Ryu lachte und umarmte mich. »Wenn es dir gefällt,
bin ich ja froh«, murmelte er mir ins Ohr.
»Jetzt weiß ich auch, warum Leute Crack nehmen«,
sagte ich, löste mich etwas aus seiner Umarmung und sah ihn mit
großen Augen an. Der Pool machte mich richtig betrunken. »Ich habe
mich immer gefragt, wer Crack nimmt. Ich meine, ernsthaft, wer
wacht bitte morgens auf und sagt sich: ›Hm, ich glaube, heute
probiere ich mal Crack.‹? Ich verstehe ja, wenn Leute andere Drogen
nehmen. Aber Crack? Wer nimmt das Zeug schon?« Ich starrte ihn an,
ohne zu blinzeln. »Dieser Pool hier erklärt nicht nur, warum Leute
den Mist nehmen. Dieser Pool ist Crack!« Schließlich musste
ich doch heftig blinzeln. Ich fühlte mich, als wäre meine
Schädeldecke aufgeklappt und mein Gehirn durch einen Wackelpudding
ersetzt worden.
Ryu sah ehrlich besorgt aus. »Okay, Jane, ich
glaube, für heute hast du genug.« Ich musste kichern. Ryu war
vielleicht lustig.
Ich sah ihm bewundernd zu, wie er mit einem großen
Satz aus dem Pool neben mich sprang. »Du hast ja noch deine
Klamotten an!«, informierte ich ihn nur für den Fall, dass er es
noch nicht bemerkt hatte. Er hatte zwar seine Anzugjacke und die
Schuhe ausgezogen, aber er trug noch immer seine Hosen, das Hemd
und die Socken. Sein dünnes schwarzes Hemd klebte an seinem
muskulösen Oberkörper. Ich verrenkte mir fast den Hals, um ihn noch
besser betrachten zu können. Da nahm er mich unter den Armen und
zog mich hoch, so dass ich aus dem Wasser und am Beckenrand zu
stehen kam. Dann drehte er mich zu sich um, hob mich hoch und
drückte mich fest an sich, so dass meine Füße auf der Höhe seiner
Schienbeine baumelten.
»Du bist so unglaublich scharf, Ryu«, rief
ich überdreht,
als ich in sein schönes Gesicht sah. »Wirklich scharf. Also werde
ich dir jetzt ein Geheimnis verraten.«
»Ein Geheimnis?«
»Mm-hmm. Also: Ich bin gerade nicht wirklich ich
selbst. Aber verrat es keinem. Okay? Das wissen nur du und ich …«
Ich verstummte leicht irritiert, weil mir plötzlich auffiel, dass
ich mich gar nicht mehr in diesem Wahnsinnspool befand.
»Ich weiß, Kleines. Das ist das Wasser. Du fühlst
dich gleich besser.«
Aber das war es nicht, was ich gemeint hatte, also
erklärte ich es ihm: »Nein, du Dummerchen, ich bin wirklich
nicht ich. Ich bin die andere Jane«, flüsterte ich
verschwörerisch. »Aber die andere Jane ist viel lustiger als die
richtige Jane, also macht das gar nichts.«
Ryu sah einen Moment lang noch besorgter aus, aber
ich fuhr unbeirrt fort.
»Ryu, warum gehen wir denn nicht schwimmen? Kann
ich nicht noch ein bisschen schwimmen«, bettelte ich. »Ich schwimme
doch so gern.« Ryu stellte mich vorsichtig wieder auf meine Füße,
doch sobald er mich losließ, kippte ich nach hinten und wäre
beinahe wieder in den Pool gefallen.
»Waaaaaaa!«, schrie ich, und er machte einen Satz
nach vorne, um mich festzuhalten.
»Stark bist du auch noch«, seufzte ich bewundernd
und kuschelte mich wieder in seine Arme. »Stark finde ich
gut.«
»Ja, Liebes.« Er grinste. »Das findest du
gut.«
»Ja, wirklich!«, beteuerte ich bockig. »Und
schwimmen finde ich auch gut. Warum gehen wir nicht
schwimmen?«
»Ich glaube, du bist heute schon genug
geschwommen«, sagte er sanft.
Ich dachte angestrengt nach. »Aber dann können wir
stattdessen doch Sex im Pool haben!«, argumentierte ich. »Viel
Sex!«
Ryu lachte. »Ich weiß, das könnten wir, Liebling.«
Er küsste mich auf die Stirn. »Aber jetzt«, sagte er und hob mich
hoch, um mich zum Haus zurückzutragen, »gehen wir erst einmal hoch
und schlafen uns aus.«
»Och, Menno«, nölte ich. »Mit dir kann man ja gar
keinen Spaß haben. Ich wette, der Dschinn würde schon mit mir
schwimmen gehen.«
»Jetzt wirst du aber ganz schön frech«, sagte Ryu
und streckte mir die Zunge heraus. Ich versuchte sie zu
packen.
Er lachte und drückte mich noch fester an sich. Ich
schlang meine Arme um seinen Hals und presste meine Wange an seine.
»Ich mag dich, Vampirmann«, flüsterte ich ihm ins Ohr.
»Ich mag dich auch, Jane True«, sagte Ryu, und
seine Stimme klang ein wenig rau.
Ich knabberte gerade an seinem leckeren kleinen Ohr
herum, da störte eine sensenscharfe Stimme unsere traute
Zweisamkeit.
»Oh, wie süß! Mein Cousin hat sich ein kleines
Schoßhündchen zugelegt.«
Ich spürte, wie Ryus Muskeln sich anspannten und er
mich beinahe schmerzhaft umklammerte.
»Ryu«, fuhr die Sensenstimme fort. »Setz mal deinen
Halbling ab und sag Hallo.«
Ich drehte mich nach der Stimme um, damit ich sehen
konnte, wer da sprach. Die Stimme klang fies, und es gefiel mir gar
nicht, dass sie mich ein Schoßhündchen genannt
hatte. »Ich geb dir gleich ein Schoßhündchen«, fauchte mein
Wackelpuddinghirn.
»Nyx«, sagte Ryu gefasst. »Wie immer eine Freude,
dich zu sehen.«
Ich kicherte. Das hatte er ironisch gemeint.
»Was hast du denn mit dem Mädchen angestellt?«,
erkundigte sich Nyx. Ich hatte sie endlich entdeckt und versuchte
nun, sie eingehender zu betrachten. Aber sie stand auf dem Kopf.
Nein, ich war verkehrt herum. Oder sah ich sie nur von unten
an? Mein Kopf tat weh.
»Ich wusste nicht, dass du es mittlerweile schon so
nötig hast, dass du sie unter Drogen setzen musst.«
»Meine Cousine, witzig wie immer. Jane geht es
gut.«
»Ja«, stellte ich klar. »Mir geht es gut.« Dann
zischte ich Ryu leise zu: »Kannst mich runterlassen.«
»Bist du sicher?«, murmelte er. Ich nickte.
Er setzte mich sanft auf die Füße, hielt mich aber
vorsorglich an der Taille fest. Ich sah nach unten.
»Ach du Schande!«, dachte ich. Und dann flüsterte
ich Ryu zu: »Ich bin ja nackt.«
Er nickte, und ein winziges Lächeln zeichnete sich
auf seinem grimmigen Gesicht ab. Aber sein Blick blieb kalt.
»Und so winzig«, sagte die Sensenstimme
verächtlich. »Wie ein Püppchen. Ich weiß ja, dass du gerade erst
aus der Pubertät heraus bist, aber ich hätte nicht gedacht, dass du
sogar noch mit Puppen spielst, Ryu.«
Empört nahm ich die Person, die da sprach, genauer
in Augenschein. Sie war groß und überragte Ryu um einige
Zentimeter. Sie hatte die hoch aufgeschossene, muskulöse Statur
einer Fitnesstrainerin. Ihre Gesichtszüge waren
scharf geschnitten, ihre Lippen schmal. Momentan wirkten sie sogar
noch schmaler als normal, denn sie waren zu einer verbissenen
Grimasse zusammengepresst, die in ihrer Welt wohl als Lächeln
durchging. Ihr hellbraunes Haar war kurzgeschnitten wie das von
Ryu, aber da endete die Familienähnlichkeit auch schon. Sie trug
ein enges, schwarzes Minikleid und kniehohe, nuttige Stiefel. Ich
schätze, sie sah gut aus, aber ihr ätzendes Auftreten verdarb den
ganzen Eindruck.
»Was für eine Schlampe«, bemerkte ich. Hatte ich
das jetzt etwa laut gesagt?
Ryu verkniff sich prustend das Lachen, und Nyx sah
mich scharf an.
»Was hast du da gesagt, Halbling?«
Ich überlegte einen Moment. »Ich habe Sie eben eine
Schlampe genannt«, stellte ich schließlich klar.
Sie zischte wütend und starrte mich mit
zusammengekniffenen Augen an.
»Denn so wirken Sie leider wirklich«, erklärte ich
ihr hilfsbereit. »Für den Fall, dass Sie daran arbeiten
wollen.«
Nyx kam auf uns zu, und ich bemerkte, dass sie
nicht gerade erfreut aussah.
»Ich wollte doch nur helfen«, rechtfertigte ich
mich. »Schlampen mag schließlich niemand.«
Ryu hielt mir den Mund zu und schob mich dann
hinter sich. Ich zuckte mit den Schultern und sah mich suchend nach
meinem Kleid um.
»Nyx«, sagte Ryu warnend, »beruhige dich und lass
sie in Ruhe. Wir beide haben etwas zu besprechen.«
»Etwa, wie viel Spaß ich dabei haben werde, dem
kleinen Miststück den Kopf abzureißen?«
Ich plusterte mich auf, doch noch bevor ich etwas
sagen konnte, hielt Ryu mir schon wieder den Mund zu. Ich biss ihn.
Er zuckte zwar zusammen, aber er zog seine Hand nicht zurück.
»Niemand reißt hier irgendwem den Kopf ab«, sagte
Ryu trocken. »Lass Jane in Ruhe, sie ist gerade nicht ganz sie
selbst.« Er hielt kurz inne. »Und außerdem hat sie ganz Recht. Du
bist eine Schlampe, und das weißt du auch.«
Nyx’ Lippen dehnten sich, als sie sich zu einem
Lachen herabließ. »Was für dich eine Schlampe ist, nenne ich eher
›geschäftstüchtige Führungspersönlichkeit mit Sinn fürs Perfide‹.«
Dann fügte sie verächtlich hinzu: »Eines Tages wirst auch du das
vielleicht verstehen, Schnüffler.«
Ryu hatte mich mittlerweile losgelassen, und ich
hatte mein Kleid entdeckt. Ich wankte zu ihm hinüber und wickelte
es um mich. Die Schleife machte mir ein bisschen Probleme, aber
schließlich gelang es mir doch, sie zu bezwingen und sie mit
Nachdruck festzuziehen.
Ich hob meine Schuhe, das Höschen und den BH auf
und blieb stehen, wo ich war, um zu warten, bis Ryu mit Nyx
gesprochen hatte. Ich glaube, langsam wurde ich wieder nüchtern.
Entweder das, oder ich war noch immer zu breit, um mich zu
bewegen.
»Also gut«, fuhr Ryu trotz seiner offensichtlichen
Irritation beharrlich fort. »Warum ich mich so freue, dich zu
sehen, ist, weil ich dich etwas fragen wollte.« Seine Stimme klang
ganz ruhig, aber seine Augen funkelten vor angespannter
Erwartung.
»Peter Jakes«, sagte er schließlich mit der Miene
eines Menschen, der eine Bombe platzen ließ.
Wir beide warteten gespannt.
Die Bombe zischte nur, explodierte aber
nicht.
Nyx lächelte. »Ach, du meinst den Halbling. Er hat
für mich gearbeitet.« Ryu schaute erstaunt. Er hatte offensichtlich
irgendeine List von Nyx erwartet. »Was möchtest du denn über ihn
wissen?«, fragte sie ganz unschuldig.
Ryu hatte sich schon wieder von seiner Überraschung
erholt. »Wusstest du, dass er tot ist?«
»Aber ja, das ist mir natürlich zu Ohren gekommen.
Wirklich schade, in manchen Dingen war er mir sehr nützlich. Er war
praktisch ein Mensch, und er fürchtete mich, also sprang immer
gutes Blut für mich heraus.« Nyx sah giftig zu mir herüber. »Du
weißt ja, wie praktisch es ist, immer ein Lunchpaket dabeizuhaben«,
sagte sie wieder an Ryu gewandt.
Ich wollte ihr den Mittelfinger zeigen, doch meine
Koordination ließ noch zu wünschen übrig, also zeigte ich ihr
zwei.
Ryu gab nicht so schnell auf und fragte Nyx, an was
Peter gearbeitet hatte, bevor er starb.
»Oh«, säuselte sie, »das weiß ich nicht. Ich hatte
ihn an die Alfar ausgeliehen. Sie hatten mich um seine Dienste
gebeten, und ich bin ihnen natürlich gern behilflich.«
»Was wollten die Alfar denn mit Jakes?« Ryus Stimme
verriet, wie besorgt er war.
»Jarl hat Orin davon überzeugt, dass es interessant
wäre, Halblinge zu studieren, und Jakes konnte Halblinge erkennen«,
antwortete Nyx schulterzuckend. »Manche der hohen Tiere machen sich
zunehmend Sorgen über die sinkende Geburtenrate. Anscheinend hat
sie den tiefsten Stand
seit ihrer Erfassung erreicht. Ich finde zwar, dass das mehr
Möglichkeiten für uns bedeutet, aber manche hegen noch immer eine
sentimentale Sympathie für Junge.«
»Also arbeitete Jakes nicht für dich, sondern für
die Alfar«, hakte Ryu nochmals nach, und Nyx nickte.
»Ich weiß nicht, was sie genau vorhatten, aber so
ist es«, sie lächelte süßlich, »und dabei bleibe ich.«
Ryu runzelte die Stirn. Man sah, dass ihn das, was
Nyx ihm da gerade erzählt hatte, beunruhigte. Die Vampirin streckte
sich gelangweilt. Muskeln zeichneten sich unter dem eng anliegenden
Stoff ihres Kleides ab.
»Es wird Zeit für die Jagd«, sagte sie. »Es gibt da
diese Dorfkneipe etwa eine Stunde von hier, die ich gerne
terrorisiere. Wenn du willst, dann lass deine Babypuppe hier und
komm mit auf eine richtige Mahlzeit. Wir könnten uns aber auch
darauf einigen, dass wir dein Püppchen gemeinsam hier im Verbund
jagen. Sie sieht nicht so aus, als sei sie sehr schnell, aber wir
können ihr ja einen kleinen Vorsprung geben.«
Ryu schüttelte den Kopf. »Du wirst dich nie ändern,
Nyx. Mir ist das völlig klar, auch wenn ich der Einzige bin.« Er
ließ sie stehen und kam zu mir herüber. Der Wackelpudding in meinem
Schädel hatte sich teilweise schon wieder in Gehirnmasse
verwandelt, und ich erkannte, dass Nyx es absolut ernst gemeint
hatte, als sie davon sprach, mich zu jagen. Das gefiel meinem
zähflüssigen Gehirn überhaupt nicht.
Ryu nahm meine Hand, diejenige, in der ich nicht
meine Unterwäsche und meine Schuhe hielt, und führte mich zu dem
schmiedeeisernen Tor zurück.
»Ist das ein Nein, Cousin?«, rief Nyx uns
hinterher. »Na, dann trotzdem gute Nacht. Viel Spaß mit deiner
kleinen Bastardfreundin. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie
sie dir genug sein kann. Ich schätze, manche von uns haben eben
einen anspruchsvolleren Geschmack als andere.«
Wir ignorierten sie einfach. Falls ich noch
irgendwelche Zweifel am Stand von uns Halblingen gehegt haben
sollte, so hatte Nyx sie nun zerstreut.
Ihre Sensenstimme verfolgte uns noch, als wir durch
den kleinen gepflasterten Innenhof gingen. Keiner von uns sagte
etwas, bis wir die Tür unserer Suite hinter uns geschlossen
hatten.
»Es tut mir leid«, murmelte Ryu und zog mich an
sich, sobald er die Tür abgesperrt hatte.
»Ich weiß«, antwortete ich. »Ist ja nicht deine
Schuld.«
»Aber trotzdem völlig unnötig. Das ist auch die
beste Definition für Nyx: unnötig.«
»Schon gut«, sagte ich, während ich mein Kleid zum
letzten Mal an diesem Abend ablegte. Ich stieg ins Bett. Mein
Gehirn lief immer noch auf Hochtouren, doch körperlich fühlte ich
mich plötzlich total erschöpft. »Ich bin an Unnötiges gewöhnt«,
sagte ich noch und musste an Linda und Stuart denken.
Ryu zog seine nassen Klamotten aus und schlüpfte
neben mir ins Bett. Seine Haut fühlte sich ganz kalt an, und mir
blieb fast die Luft weg, als er sich an mich kuschelte, um sich zu
wärmen.
»Entschuldige«, murmelte er, und ich hatte ihm
schon verziehen.
Ich drehte mich zu ihm um, so dass ich ihm ins
Gesicht
sehen konnte. Unsere Nasen berührten sich beinahe. »Dass Jakes
nicht für Nyx gearbeitet hat, bedeutet nichts Gutes, oder?«, fragte
ich ihn ganz ruhig.
Ryu schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete,
seufzte er. »Nein, das ist kein gutes Zeichen.«
Ich musste an meinen Namen auf Peters Liste denken,
gleich unter all den anderen, die bereits durchgestrichen waren.
Ich drehte mich wieder um und kuschelte mich mit dem Rücken an Ryu.
Er legte die Arme um mich.
»Jane?«, fragte er schließlich.
»Ja?«
»Was meintest du, als du sagtest, du seist nicht
wirklich du? Etwa, dass es zwei Janes gibt?«
Ich schluckte. Wenn ich richtig gestört wirken
wollte, dann hatte ich die beste Strategie gefunden.
»Ach das. Nichts. Weiß nicht, was ich damit gemeint
habe.«
Ryu fragte nicht weiter nach, aber sein Körper
verspannte sich, und das sagte mir, dass er mit meiner Antwort
nicht glücklich war. Also kuschelte ich mich noch fester an ihn und
schob seine Hände von meiner Taille zu meinen Brüsten.
»Bleibst du noch bei mir, bis ich eingeschlafen
bin?«, flüsterte ich.
»Natürlich«, murmelte er und entspannte sich
wieder, als er mich auf den Nacken küsste.
Trotz all der Aufregung des vergangenen Tages
schlief ich in dieser Nacht schnell ein. Aber meine Träume waren
düster, und ich wusste, dass ich mich am nächsten Tag noch größeren
Herausforderungen würde stellen müssen.
Denn ich zweifelte nicht daran, dass der Morgen
noch mehr Alfar-Intrigen für mich bereithalten würde - und was noch
schlimmer war: ein weiteres Paar von Iris’ verflixten High
Heels.