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Die darauf folgenden Wochen wären die glücklichsten ihres ganzen Lebens gewesen.
Wenn ich nicht verdreht zurückgekommen wäre, dachte Néomi, während sie dem schlafenden Conrad das Haar aus der Stirn strich.
Kurz nach ihrer Rückkehr hatten sie ohne großen Trubel geheiratet. Anfangs war sie noch von den Ereignissen jener turbulenten Nacht geschwächt gewesen, aber sobald sie sich ausreichend erholt hatte, hatte Conrad einen Beamten der Mythenwelt geholt, um die einfache Zeremonie auf Elancourt zu vollziehen.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, die Ehe einzugehen, ohne Conrad von ihren Bedenken zu erzählen. Vor allem als sie erfuhr, dass es Bowen fast nicht gelungen wäre, Mari von dem Spiegel zu befreien. Irgendwie war der Zauber schiefgegangen.
Néomi konnte es fühlen. Sie war verändert.
Sie führte ihre neue Gewohnheit fort, tagsüber zu schlafen, aber neuerdings reichten ihr ungefähr vier Stunden Schlaf. Sie konnte ausgehen oder sich etwas zu essen holen, aber Conrad hatte sie nach ihren Lieblingsgerichten ausgefragt und verwöhnte sie mit Delikatessen aus der ganzen Welt.
Sie hatte versucht, Mari anzurufen, aber ihr wurde gesagt, dass Bowen und sie sich auf einer Insel vor der Küste von Belize befänden oder an einem ähnlich fantastischen Ort.
Auch wenn sich Néomi danach sehnte, Conrad ihr neues Geheimnis anzuvertrauen, wollte sie ihn nicht mit neuen Sorgen belasten. Ihm ging es so gut wie nie zuvor. Er war schrecklich aufgeregt, schmiedete Pläne für sie, freute sich auf ihr gemeinsames Leben. Er hatte bereits damit angefangen, Elancourt zu renovieren, und er war glücklich, aufrichtig zufrieden mit dem, was die Zukunft – wie er glaubte – für sie bereithielt.
Doch nachdem Néomi sich eine kleine Wunde zugezogen hatte, die in weniger als einer Stunde verheilt war, war sie so bestürzt, dass sie das Thema zögernd angesprochen hatte.
„Ich mache mir Sorgen, Conrad. Manchmal denke ich, ich bin nicht … menschlich“, hatte sie ihm anvertraut.
„Aber natürlich bist du das“, hatte er gesagt, sie auf den Arm genommen und sich im Kreis gedreht, bis sie gezwungen war zu lächeln. „Was solltest du sonst sein?“
Am Morgen nach der Verkörperlichung war Néomi von dröhnenden Hammerschlägen geweckt worden. Conrad nahm seine Aufgabe, Elancourt zu restaurieren, sehr ernst. Aber sobald sie auf dem Weg der Besserung war, wurde seine Arbeit dadurch behindert, dass sie seinen schweißglänzenden Körper unwiderstehlich fand.
Jedes Mal, wenn sie ihn mit nacktem Oberkörper sah und beobachtete, wie sich die Muskeln unter seiner nassen Haut wölbten, musste sie ihn einfach haben.
„Ich bin wieder die Alte“, hatte sie ihm gesagt. „Und das bedeutet in meinem Fall: überaus wollüstig.“ Er hatte nur erklärt, ihr jederzeit „bereitwillig zu Diensten“ zu sein.
Eines Tages hatte sie ihn im Studio angetroffen, glaubte aber nicht, dass er sie gehört hatte. Sie hatte ihn mit so viel Stolz und einer so starken Begierde angesehen, dass sie hinterher ganz erschüttert gewesen war.
Während er liebevoll die Ballettstange aus Mahagoni mit Öl eingerieben hatte, hatte er gesagt: „Ich werde dich hier tanzen sehen.“ Seine Stimme hatte heiser geklungen, als ob er es bereits vor seinem inneren Auge sehen könnte. „Ich werde dir stundenlang zusehen und dann deine feuchte Haut kosten.“
Sie hatten es nicht einmal bis in die Nähe des Bettes geschafft …
Seine Fürsorge weckte ihre Sehnsucht zu tanzen, dieses Studio so zu nutzen, wie sie es nie gekonnt hatte. Sobald sie zu Kräften gekommen war, begann sie wieder zu üben. Ihre Liebe zum Tanz hatte die Zeit unbeschadet überstanden.
Néomi würde nie wieder auf der Bühne stehen, aber sie hatte beschlossen, eine Ballettschule für Mythenweltbewohner zu eröffnen. So etwas gab es noch nicht, und ihr war fast das Herz gebrochen, als sie erfuhr, dass viele Mythenweltkinder – mit ihren Hörnern und Schwingen und Sirenenstimmen – die Schulen der Menschen nicht besuchen konnten.
Als sie Conrad gefragt hatte, was er von der Idee hielte, eine Néomi-Wroth-Tanzschule zu eröffnen, hatte er gesagt: „Wenn es dich glücklich macht, dann schnapp dir jedes kleine Monster, das bereit ist, Rosa zu tragen.“ Dann hatte er sich am Kopf gekratzt und hinzugefügt: „Obwohl ich mir dann ein paar Gedanken machen muss, wie ich das Studio ausbauen kann …“
In diesem Augenblick bewegte sich Conrad im Schlaf, allerdings nicht weil er einen Albtraum hatte. Sobald er sich zu ihr umdrehte, fuhr sie mit ihren Fingern über seine Wange, und er schlief friedlich weiter. Ihn quälten inzwischen nur noch selten Albträume.
Obwohl er zögerte, noch einmal von ihr zu trinken, hatte dieser eine Biss bereits ihre Erinnerungen an ihn übertragen. Néomi hatte befürchtet, dass ausgerechnet ihre Erinnerungen ihn endgültig in den Wahnsinn treiben würden, doch tatsächlich schienen sie ihm eher zu helfen.
„Ich träume von Musik und Lachen und Wärme“, hatte er ihr berichtet. „Es ist … beruhigend, in deinen Erinnerungen zu sein. Wenn ich wach bin, bin ich mit dir zusammen, und wenn ich schlafe, auch. Das gefällt mir.“
Sie wusste, dass er noch längst nicht geheilt war. Das würde seine Zeit brauchen. Sie wünschte nur, sie könnte noch mehr Zeit mit ihm haben. Nachdem ihr eine zweite Chance für ein sterbliches Leben geschenkt worden war, sehnte sie sich nach Unsterblichkeit.
Das Leben war so verheißungsvoll …
Bis auf die Tatsache, dass sie nicht wusste, was sie war.
Manchmal, wenn sie in den Spiegel sah oder wenn sie zufällig ihr Spiegelbild in einem Fenster erspähte, sah sie kurz ihr altes geisterhaftes Ich aufblitzen. Dann wurden die Schatten unter ihren Augen und Wangenknochen sichtbar.
Ihre Nachtsicht war so makellos, wie sie es in ihrer Zeit als Geist gewesen war, und wenn sie schlief, träumte sie davon, zu schweben und Dinge mit ihren Gedanken zu bewegen.
Als Néomi an diesem Tag kurz vor der Dämmerung aufgewacht war, hielt sie ein Rosenblütenblatt in ihrer Faust.
Nïx hatte Néomi schon einige Male besucht. Jedes Mal hatte die Walküre Néomi unverhohlen mit ihren goldenen Augen gemustert. Sie schien von ihr fasziniert zu sein. Erst gestern hatte Nïx Elancourt wieder einen Besuch abgestattet, ohne etwas zu sagen. Sie hatte sie einfach nur ausdruckslos angestarrt.
„Nïx, was bin ich?“, hatte Néomi schließlich gefragt.
„Kompliziert?“
„Ich bin als eine andere zurückgekommen, stimmt’s?“
Nïx seufzte. „Ich spüre dich einfach nicht richtig.“
Néomi selbst ging es nicht anders. Sie fühlte sich weder als Mensch noch als Geist.
Unangenehm ist nicht mal annähernd der richtige Ausdruck für dieses Treffen.
„Setz dich. Bitte“, sagte Nikolai und zeigte auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. Sebastian saß auf dem anderen.
Conrad hatte sich nach Blachmount Castle transloziert, Nikolais Heim, um sich mit seinen Brüdern zu treffen – auf Néomis Drängen hin. In New Orleans war es Tag, und sie hatte am Nachmittag ein kleines Schläfchen machen wollen, also hatte er gedacht, das sei eine gute Gelegenheit, eine unangenehme Pflicht hinter sich zu bringen.
Seine Brüder hatten Fragen über die Vergangenheit – und Conrad hatte vor, Nikolai offiziell Elancourt abzukaufen.
Conrad nahm widerwillig Platz. Schon jetzt tat ihm der Nacken vor lauter Anspannung weh. Außerdem war er nervös, weil er Néomi zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr allein gelassen hatte, aber wieder hier zu sein steigerte seine Nervosität noch um einiges.
„Ich dachte eigentlich, ihr würdet alle drei hier sein“, sagte Conrad. „Wo ist Murdoch?“ Er hätte die angespannte Atmosphäre etwas lockern können.
„Er wird vermisst“, erwiderte Nikolai. „Wir nehmen an, es hat etwas mit seiner ‚geheimen‘ Braut zu tun. Ich glaube, er hat zum allerersten Mal in seiner ganzen Existenz Probleme mit einer Frau.“
„Das schadet ihm gar nicht“, sagte Sebastian. „Fühlt es sich nicht unwirklich an, wieder hier zu sein?“, fragte er an Conrad gewandt.
Der nickte. In dieser Burg waren er und der Großteil seiner Familie gestorben. Seine jüngeren Schwestern hatten hier geweint, als sie eine nach der anderen der Seuche erlagen. Blachmount war der Ort, an dem Conrad geboren und aufgewachsen war – und von den Toten auferstanden.
Dreihundert Jahre lang hatte Conrad Nikolai wegen seiner Entscheidung in jener schicksalhaften Nacht gehasst. Jetzt war Conrad ihm wegen Néomi verpflichtet. Ohne Nikolais Entscheidungen und Murdochs Entschlossenheit hätte er seine Braut nie kennengelernt. Er hätte nie zusehen können, wie sie sich fürs Bett fertig machte, ihr langes Haar bürstete.
Erst gestern hatte er gedacht: Das Schicksal hat die Braut für mich gewählt, doch meine Frau habe ich mir selbst gewählt …
„Mir ging’s ganz genauso, als ich zum ersten Mal wieder hier war“, sagte Sebastian.
Nikolai schnaubte spöttisch. „Von wegen. Du warst viel zu sehr damit beschäftig, mich niederzuschlagen.“
„Na dann eben beim zweiten Mal.“
Es folgte ein unbehagliches Schweigen. Conrad sah sich in dem getäfelten Arbeitszimmer um. Nikolai klopfte mit einem Stift auf die Tischplatte. Sebastian bewegte sein Bein unruhig hin und her.
Schließlich erhob sich Nikolai von seinem Stuhl. „Ich habe etwas, was dir gehört.“ Er zog einen Aktenordner aus einem Schrank und reichte ihn Conrad. Darin befand sich die Besitzurkunde für Elancourt und die Verträge, die den Eigentümerwechsel besiegelten.
„Ich habe den Besitz dir und deiner Braut überschrieben, noch in der Nacht, als du sie zurückbekommen hast.“
Conrads Anspannung wuchs ins Unerträgliche. „Ich kann dich bezahlen.“
„Technisch gesehen gehört es sowieso Néomi, stimmt’s? Betrachte es als Hochzeitsgeschenk.“
Conrad hasste es, sich verpflichtet zu fühlen. „Warte.“ Er translozierte sich nach Elancourt. Dort sah er kurz nach Néomi, zog ihre Decke ein wenig höher und gab ihr einen Kuss. Dann schnappte er sich eine Flasche Whisky aus der Kiste. Sie hatte vorgeschlagen, er solle eine zu dem Treffen mitnehmen, aber er hatte barsch abgelehnt. Jetzt kehrte er nach Blachmount zurück und überreichte sie Nikolai.
Nikolai wischte das Etikett ab. „Mein Gott, das ist … das ist …“
„So gut, wie du es dir vorstellst“, beendete Conrad den Satz an seiner Stelle.
Sebastian verschwendete keine Zeit und holte Gläser vom Sideboard. „Dann hört auf, die Flasche anzustarren, und gießt lieber ein!“
Das taten sie. Zwei Stunden später entschied Conrad, dass es gar nicht so unangenehm war, sich mit seinen Brüdern zu unterhalten, wenn man Whisky im Wert von ungefähr zwanzigtausend Dollar im Bauch hatte.
Als Nikolai und Sebastian wissen wollten, was Conrad in den letzten drei Jahrhunderten alles zugestoßen war, erzählte er es ihnen. Als sie nach Néomi fragten, berichtete er stolz von den Fertigkeiten seiner Frau. „Ihr habt noch nie eine Frau tanzen sehen wie sie. Und das Haus hat sie ganz alleine gekauft – eine unverheiratete Frau in den Zwanzigern.“ Selbst in seinen Ohren klang sein Ton ziemlich beeindruckt.
„Ketten, Drogen und brutale Gewalt konnten Conrad nicht bezwingen“, sagte Nikolai amüsiert. „Aber eine kleine Ballerina zähmt ihn mit Leichtigkeit.“
„Was wirst du wegen ihrer Sterblichkeit unternehmen?“, erkundigte sich Sebastian.
„Ich werde einen Weg suchen, aus ihr eine Unsterbliche zu machen.“ Als sie ihn mit beklommenen Mienen ansahen, redete er weiter. „Ich weiß, wie die Chancen stehen, aber das ist immer noch ein wahrscheinlicheres Szenario als sich vorzustellen, dass ich ihr dahin folge, wo auch immer sie nach ihrem Tod hingeht.“ Conrad trank aus und starrte auf den Boden des Glases. „Denkt ihr nicht an unsere Schwestern, wenn ihr hier seid?“
Nikolai und Sebastian teilten einen beredten Blick.
Nach einer ganzen Weile sagte Nikolai: „Wir holen sie zurück. Uns steht das Mittel zur Verfügung, sie aus der Vergangenheit herzuholen. Nicht um den Verlauf der Geschichte zu ändern, nur um sie in diese Zeit zu bringen.“
Conrad kniff die Augen zusammen. Machte Nikolai etwa Witze? „Wie?“
„Mit dem Schlüssel eines Mystikers“, erwiderte Sebastian.
Bei dem Wort Schlüssel zuckte Conrad zusammen.
Sebastian schenkte ihnen allen nach. „Eine Göttin namens Riora erlaubte mir eine Umdrehung mit diesem Schlüssel, ausschließlich zu dem Zweck, meine Familie wiederzuvereinen. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass er funktioniert.“
Wenn Sebastian, der als Skeptiker bekannt war, sagte, dass er funktionierte, dann würde er funktionieren.
„Und ihr hattet auch daran gedacht, damit mein früheres Ich wiederherzustellen?“
„Ja, das Angebot steht“, sagte Nikolai. „Denk darüber nach. Wir könnten deine Augen vollständig vom Blut befreien. Und dir die Erinnerungen nehmen, die dich quälen.“
„Und was würde mit meinem gegenwärtigen Ich geschehen?“
„Du würdest vergehen“, sagte Sebastian.
„Ich wusste doch, dass ihr noch ein Ass im Ärmel habt.“ Kein Wunder, dass seine Brüder Conrads Genesung so zuversichtlich entgegengesehen hatten. „Aber ich bin nicht interessiert.“
Nikolai legte die Fingerspitzen aneinander. „Du willst nicht wieder zum Menschen werden?“
„Keine roten Augen mehr, kein Blut trinken müssen“, fügte Sebastian hinzu.
Conrad schüttelte den Kopf. „Und keine Kraft mehr, um Néomi zu beschützen. Die brauche ich, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Wenn sich die Geschichte nicht ändert, hieße das, dass immer noch dieselben Feinde hinter mir her wären. Und jetzt auch hinter ihr.“ Conrad leerte sein Glas. Er hasste die Realität ihres Lebens. „Warum habt ihr es nicht einfach getan? Warum habt ihr all die Mühe auf euch genommen, mich gefangen zu nehmen?“ Vor allem weil er sie mit Blut bespuckt und versucht hatte, sie zu ermorden.
„Wir wollten, dass du stabil genug bist, um die Wahl selbst zu treffen“, antwortete Nikolai. „Wir hätten dir damit schließlich deine Unsterblichkeit genommen. Und du hättest auch deine eigenen Erinnerungen aus den letzten drei Jahrhunderten verloren. Es war eine bedeutende Entscheidung.“ Mit leiser Stimme fügte er hinzu: „Ich wollte denselben Fehler nicht zweimal machen.“
„Es existiert kein erster Fehler“, sagte Conrad entschieden. „Du hast eine schicksalhafte Entscheidung getroffen, und ich stehe tief in deiner Schuld.“
„Gut. Dann wirst du uns sicherlich gerne dabei helfen, die Mädchen zurückzuholen.“
Oh Gott, ihre Schwestern würden tatsächlich wieder leben. Er würde eine zweite Chance bekommen, sie besser kennenzulernen. Und Néomi könnte ihnen das Tanzen beibringen. Er grinste, womit er seine Brüder zutiefst schockierte. „Wann gehen wir zurück, um sie zu holen?“
„Sobald Murdoch wieder auftaucht, werden wir den Plan entwerfen.“
Conrad öffnete den Mund, um etwas zu sagen – und erstarrte. Da stimmt was nicht. Ihm kroch ein eisiger Schauer das Rückgrat hinauf. „Bin gleich wieder da“, sagte er und translozierte sich auf der Stelle zurück nach Elancourt.
Mitten ins Feuer.