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St. Louis Cemetery No. 1,
New Orleans
Die Gräber auf dem dritten Friedhof, zu dem sie reisten, hatten schon bessere Tage gesehen. Viele waren von Unwettern beschädigt, mit bröckelndem Putz und verrosteten Eisengittern. Die eingemeißelten Namen und Daten waren großenteils nicht mehr zu lesen.
Immer wieder fielen Regenschauer. Mitternacht war lange vorbei. Dennoch war dieser planlose Irrgarten von Gräbern noch nicht zur Ruhe gekommen.
Die betrunkenen Kunden einer Geisterführung lachten schallend, während sie billige Nelkenzigaretten rauchten und ein hohes Grabmal mit Ziergiebel mit einem Kreuz markierten.
„Dabei ist das gar nicht Marie Laveaus Krypta“, murmelte Nikolai. „Obwohl … Myst sagt, der ganze Firlefanz macht dieser Voodoopriesterin mächtig viel Spaß.“
„Verschwindet!“, brüllte Conrad die Gruppe an.
Nach einem Moment entgeisterter Stille schubsten sich die Touristen gegenseitig über den nassen Kies, um von diesem Ort zu fliehen.
Sobald der Friedhof leer war, sagte Nikolai: „Conrad, du solltest dich auf die Möglichkeit vorbereiten, dass du nicht finden wirst, was du suchst. Oder dass du das Grab findest, nur um zu entdecken, was diese Frau … was sie einmal war.“
Ihre Überreste. Conrad schüttelte heftig den Kopf. „Ich verstehe“, sagte er. Dann wurde er ganz still und hielt die Luft an, um nach Néomi zu lauschen. Am liebsten hätte er seinem Herzen verboten, so wild zu hämmern. Er bemühte sich, etwas zu hören, abgesehen von den Zikaden und dem Verkehr in der Ferne …
Sein Kopf zuckte nach links. Dort. Ein kaum wahrnehmbares Klopfen. „Ich höre sie!“
„Wie kannst du sicher sein, dass sie es ist?“, fragte Nikolai.
„Ich kenne ihr Herz.“ Er steuerte geradewegs auf das Geräusch zu, folgte ihm bis zu einem großen gelblich weißen Grab, wenigstens sieben Ebenen hoch. Furcht schoss ihm eiskalt in die Adern. War sie wirklich an diesem Ort? In einem dieser vielen Särge? Wie verängstigt sie sein musste. Ich träumte, sie würde an ihrer Todesangst ersticken …
Nein! Denk jetzt nicht an so was, du musst dich konzentrieren!
Er verfolgte das Geräusch bis zu einer Einbuchtung in der dritten Ebene zurück. Die Marmortafel, die das Grab verschloss, war so verwittert, dass er sie nicht entziffern konnte.
Conrad schluckte und hieb mit der Faust in den Marmor, der augenblicklich zerbröckelte. In dem Gewölbe dahinter befand sich ein kleiner schwarzer Sarg. Er zog ihn heraus und stellte ihn behutsam auf den kiesbestreuten Weg.
„Conrad!“ Nikolai legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich hoffe, du bist vorbereitet.“
Conrad nickte, dann packte er den Sargdeckel und öffnete ihn mit einem Ruck …
„Néomi!“, flüsterte er heiser.
Ihre Augen waren geschlossen, ihr Körper so still wie der einer Leiche. Um ihren nackten Körper herum lagen Überreste verrotteter Seide und Bänder. Ihr bleiches Gesicht und ihr langes Haar waren mit Schmutz beschmiert. Mit einem lauten Schrei zog Conrad sie heraus und drückte sie an sein Herz.
„Mein Gott“, hauchte Nikolai. „Dann warst du also gar nicht … Ist deine Frau am Leben?“
„Néomi, sag doch etwas zu mir!“ Nichts. Conrad strich ihr mit den Fingerrücken über das Gesicht. Keinerlei Reaktion. Aber warum nur? Er hielt sie ein Stück weit von sich weg. Ihr Körper war perfekt. Ihre Haut war warm und offensichtlich gut durchblutet. Er zog sie wieder in die Arme. „Bitte, Kleines, irgendetwas …“
Ihre Augen öffneten sich langsam. So blau.
Sie hustete, keuchte nach Luft. „… hab gewusst, dass du mich findest.“ Dann brach sie in Tränen aus.
Den Blick abgewandt reichte Nikolai Conrad seine Jacke, damit dieser sie ihr umlegen konnte. Sobald er sie darin eingehüllt hatte, legte Conrad die Hand auf ihren Hinterkopf und drückte sie an seine Brust – viel zu fest, aber er konnte einfach nicht loslassen.
„I-ich w-wusste, dass du kommst, Conrad“, flüsterte sie, am ganzen Leib zitternd.
„Immer, koeri, immer“, murmelte er. Er wiegte sie sanft hin und her. „Mein tapferes, tapferes Mädchen.“
Dann traf er auf Nikolais erstaunten Blick. „Die Zeit der Rache ist vorbei.“ Seine Stimme brach. „Ich danke dir, Bruder.“
„Es tut mir leid, dass ich an dir gezweifelt habe“, sagte Nikolai aufrichtig. „Aber hast du deine Frau gerade Köder genannt? Das ist für dich ein Kosename?“ Auf Conrads verärgerten Blick hin hob er die Hände. „Schon gut, geht mich nichts an.“ An Néomi gerichtet sagte er: „Willkommen in der Familie.“ Mit diesen Worten verschwand er.
Conrad brachte sie ebenfalls von diesem Ort weg, er translozierte sie auf direktem Weg in ihr Badezimmer auf Elancourt. Ohne sie auch nur eine Sekunden loszulassen, ließ er ihr ein Bad ein und setzte sie behutsam in das dampfende Wasser.
Während er ihr den Staub von der Haut und aus den Haaren wusch, saß sie mit benommenem Blick da und konnte nicht aufhören zu weinen.
„Wird dir langsam warm?“
Sie nickte.
„Néomi, bist du verletzt?“
„N-nein, nur ganz schön durcheinander. Ich kann irgendwie nicht aufhören zu weinen.“
„Das bringt mich um, koeri. Sag mir, was ich tun kann, um dir zu helfen.“
„Es tut mir leid. Es ist nur … obwohl ich wusste, dass du mich finden würdest, war es … schwierig, in diesem Sa…, also da drin zu sein.“
Er schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich weiß, es muss grauenhaft gewesen sein.“
Sie runzelte die Stirn. „War das Nikolai bei dir?“ Conrad nickte. „Wie ist er freigekommen?“
„Ich … habe sie herausgeholt.“
„Bist du ganz allein gegangen?“
Als er wieder nickte, holte sie erschrocken Luft. „Bist du verletzt? Ich habe dich noch gar nicht richtig angeschaut.“
„Überhaupt nicht“, sagte er, froh, dass sie endlich etwas lebhafter wurde.
„Was hast du dir dabei gedacht?“
„Ich brauchte Nikolais Hilfe, um dich zu finden. Ich hätte alles getan, um zu dir zu gelangen.“
„Er hat mich in der Familie willkommen geheißen. Hast du ihm gesagt, dass wir heiraten werden?“ In ihren großen blauen Augen glitzerten Tränen. „Denn wenn dein Angebot noch steht …“
Conrad atmete aus. „Darüber können wir uns später unterhalten. Wenn es dir besser geht.“
„W-was m-meinst du damit?“, fragte Néomi und begann noch heftiger zu weinen.
„Hör mir zu. Schsch, Liebes.“ Er klang, als ob sie ihn folterte. „Das alles ist mein Fehler. Die Dämonen werden uns weiterhin verfolgen. Wenn sie herausfinden, dass du am Leben bist, werden sie niemals aufgeben.“
Sie atmete erleichtert auf, und ihre Tränen versiegten. Wenn das alles war, worüber er sich Sorgen machte …
„Dann wirst du für meine Sicherheit sorgen. Ich werde nie, niemals ohne dich das Haus verlassen. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich werde innerhalb des Schutzbereichs bleiben.“
„Ich kann das nicht tun, Néomi. Ich … ich liebe dich so sehr. Viel zu sehr, um noch einmal mit anzusehen, wie du verletzt wirst.“
Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Sobald ihr endgültig klar wurde, dass sie diese Worte nicht mehr zu fürchten brauchte, dämmerte ihr, dass sie wirklich und wahrhaftig wiedergeboren worden war.
Wir werden zusammen sein.
„Und du könntest … du könntest etwas viel Besseres finden als mich“, fuhr Conrad fort, ohne zu ahnen, dass die Entscheidung schon längst gefallen war. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Warum sollte ausgerechnet ich mir einbilden, dass ich darin einen Platz einnehmen könnte?“
„Etwas Besseres? Was genau stimmt denn nicht mit dem Mann, den ich liebe?“
„Dem Mann, den du liebst“, murmelte er. Offensichtlich genoss er es, diese Worte zu hören. Aber dann zwang er sich zu einer Erklärung. „Ich werde niemals einen Spaziergang in der Sonne mit dir unternehmen oder eine Mahlzeit mit dir einnehmen. Die Kapsliga und andere Feinde werden auch weiterhin ihre Auftragsmörder hinter mir herschicken. Und ich bin immer noch nicht hundertprozentig … richtig im Kopf.“
Sie kniete sich im Wasser hin und legte ihm ihre Hände an die Wangen. „Mir gefällt meine blasse Haut, und mein Essen teile ich sowieso nicht gern. Und die Kapsliga werden wir gebührend empfangen. Was deinen Kopf betrifft … Es wird dir mit jedem Tag ein wenig besser gehen, so wie bisher auch.“
„Aber ich habe von dir getrunken. Ich hätte dich töten können.“
„Aber du hast mich nicht verletzt. Conrad, ich fand es wunderschön.“
„Warum warst du dann so wütend?“
„Weil Nïx mir gesagt hatte, dass der Tag, an dem jemand erfährt, wie ich zurückgekommen bin, der Tag wäre, an dem ich sterben würde. Ich konnte es dir nicht erzählen, auch wenn ich es noch so sehr wollte. Als du mein Blut getrunken hast, dachte ich, du wärst jetzt in der Lage, mithilfe meiner Erinnerungen hinter das Geheimnis zu kommen. Ich dachte, dass ich dazu verurteilt wäre, sogar noch früher zu sterben.“
Er beugte sich vor und legte seine Stirn gegen ihre. „Ich hatte ja keine Ahnung, Néomi.“
„So, und jetzt lass mich mal deinen Arm sehen.“ Er runzelte die Stirn. „Du hast geschworen, du würdest mich zur Frau nehmen, sobald diese Verletzung geheilt wäre.“
Er zog sich zurück. „Aber das war, bevor du … gestorben bist. Schon wieder.“
„Das spielt keine Rolle.“ Mit zitternden Fingern knöpfte sie sein Hemd auf. „Ein Wroth hält immer Wort, oder etwa nicht?“
Sobald er sich das Hemd ausgezogen hatte, begann sie den Verband abzuwickeln. Er schluckte, als sie … glatte, vollständig verheilte Haut enthüllte.
Mit einem abgrundtiefen Seufzer gab er sich geschlagen.
„Néomi, ich werde dich bei der allernächsten Gelegenheit heiraten, wenn du es mit mir versuchen willst. Ich will nie wieder von dir getrennt sein.“
„Obwohl ich nur eine Sterbliche bin?“
„Ich will, dass du für alle Zeit bei mir bleibst. Ich werde einen Weg finden, wie wir zusammenbleiben können. Das sollst du wissen.“ Er zog den Ring aus seiner Hosentasche.
Als sie ihn sah, traten ihr erneut Tränen in die Augen, aber sie lächelte. „Ich liebe diesen Ring so sehr.“ Er steckte ihn ihr zum zweiten Mal an den Finger. „Und ich liebe den Mann, der dazugehört. Weißt du eigentlich, wie schwierig es war, ihn dir an dem Abend im Ballett zurückzugeben?“
„Ungefähr so schwierig, wie ihn zurückzunehmen?“
„Es tut mir so unendlich leid, mon coeur. Ich hatte keine Wahl. Wie konnte ich ein Versprechen für eine Zukunft geben, die ich nicht besaß? Aber jetzt kann ich freiheraus sagen, wie stolz es mich macht, dich zu heiraten.“
„Néomi, selbst wenn nichts zwischen uns stünde, fürchte ich, dich nur zu enttäuschen. Ich werde wieder das Falsche machen oder deine Gefühle verletzen. Das wird sich nicht über Nacht ändern, aber du sollst wissen, dass ich mich bemühe.“
„Mehr verlange ich nicht.“ Sie runzelte die Stirn. „Genau genommen schon. Ich möchte, dass wir hier wohnen, Conrad. Würde dir das gefallen? Können wir Elancourt deinem Bruder abkaufen?“
„Ich kaufe dir jedes Anwesen, das du haben möchtest. Bist du sicher, dass du hier leben willst? Du wurdest hier ermordet. Wird es dich nicht unaufhörlich daran erinnern?“
„Ich wohne seit achtzig Jahren hier, ich hab mich dran gewöhnt. Außerdem – wenn ich nicht ermordet worden wäre, hätte ich heute nicht dich. Du hast mir einmal gesagt, du hättest diesem Russen dabei geholfen, sein Schwert zu führen, um mit mir zusammen zu sein. Und ich wäre freiwillig in Louis’ Klinge gelaufen, um die Chance auf ein Leben mit dir zu haben.“
Seine Brauen zogen sich zusammen, als die Intensität seiner Gefühle ihn zu überwältigen drohte. Dann küsste er sie – ein brennender, besitzergreifender Kuss. Als er endlich schwer atmend von ihr abließ, sagte er mit rauer Stimme: „Wir bleiben hier. Aber nur, wenn ich das Haus für dich wieder zum Leben erwecken darf.“
„Warum nicht?“ Sie seufzte und strich ihm das Haar aus der Stirn. „Bei seiner Herrin ist es dir ja auch gelungen.“
Von unten ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von Gebrüll.
Néomi schnappte nach Luft. „War das Bowen? Sind sie immer noch hier?“
„Oh, Mist, die Hexe!“, sagte Conrad. „Sie wurde wieder von den Spiegeln gebannt.“
„Bring mich zu ihr, Conrad!“ Er half ihr dabei, sich abzutrocknen und einen Bademantel anzuziehen, und translozierte sich dann mit ihr ins Studio.
Dort fanden sie Bowen, der Mari an seine Brust drückte. Er war blutverschmiert und hatte zahllose klaffende Wunden, während Mari bleich und benommen aussah.
„Dann hat es funktioniert?“, fragte Bowen Conrad, ohne die Hexe in seinen Armen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
„Ja, das verdanken wir …“
„Ich bring mein Mädchen jetzt nach Hause.“ An Mari gewandt fügte er hinzu: „Und du nimmst dir ab sofort unbegrenzten Urlaub.“
Mari nickte schwach. „Ich sehe nie wieder in einen Spiegel. Nie wieder.“
Als Bowen aufstand und mit Mari auf dem Arm in den Spiegel trat, warf sie noch einen letzten Blick zurück, ihre Miene wirkte ernst. Dann legte sie zur Warnung an Néomi den Zeigefinger an ihre Lippen.
Was soll das bedeuten? Néomis Brauen zogen sich zusammen.
Doch dann waren sie fort und ließen die Spiegel zurück – sie hatten keinen Kratzer mehr. Als Néomi hineinblickte, sah sie, wie ihr Spiegelbild sich für Sekundenbruchteile in ihr altes Geistergesicht zurückverwandelte.