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Wann geht denn an diesem gottverdammten Ort endlich die Sonne unter? Er überprüft den Fortschritt der Sonne – kein Unterschied zum Stand von vor zwanzig Sekunden – und mustert dann das müde Gesicht seines Bruders.
„Con, ich kann Nikolai nicht davon überzeugen, dich aufzugeben, nicht solange ich es nicht tue“, sagt Murdoch. „Arbeite einfach mit uns zusammen. Das Leben kann wieder gut werden.“
Dieser Murdoch unterscheidet sich sehr von dem Menschen, der er einmal war. Früher war er immer fröhlich gewesen. Frauen hatten ihn charmant gefunden, und er hatte keine größere Sorge gekannt, als jedes hübsche Mädchen im Umkreis von hundert Meilen zu bedienen.
Alles, was ich hatte, waren Sorgen, keine Zeit für Frauen und ein eindeutiger Mangel an Charme.
„Erzähl mir, was du in diesen dreihundert Jahren gemacht hast. Ich habe von dir nichts mehr gesehen oder gehört, seit der Nacht, in der du gestorben und wiederauferstanden bist.“
Er hasst es, daran erinnert zu werden. Sebastian und er hatten mit ihren Schwertern ihre vier schwer erkrankten Schwestern und ihren Vater gegen marodierende russische Soldaten verteidigt. Zwei gegen ganze Bataillone. Sie hatten keine Chance gehabt. Als Nikolai und Murdoch nach Hause gekommen waren, hatten sie fünf Familienmitglieder tot aufgefunden, gestorben an der Pest, und zwei tödlich verwundete Brüder, in denen sich gerade noch ein Fünkchen Leben hielt.
Sie hatten das Bewusstsein verloren und sich nicht gegen Nikolai wehren können, als er ihnen ein paar Tropfen seines Vampirbluts eingeflößt hatte. Als er aufgewacht war, war er ein Monstrum gewesen.
Weder Sebastian noch er hatten gewandelt werden wollen, aber er hatte weitaus mehr Grund, seinen Brüdern diesen Verrat zu verübeln. In eben das Ding verwandelt, das zu hassen man mich gelehrt hatte und das zu bekämpfen ich ausgebildet wurde …
„Willst du es mir nicht sagen?“, fragte Murdoch. „Dann werde ich heute losziehen und selbst ein paar Nachforschungen anstellen, jetzt, wo ich weiß, was du warst …“
„Was ich bin. Ich bin nach wie vor ein Auftragsmörder.“
„Sieh dich doch nur an.“ Murdoch kämpft seine Verzweiflung nieder. „Wer würde dich anheuern?“
Sein Gesicht rötet sich. „Verpiss dich, Murdoch.“ Sein Bruder stellt ihn wie einen Totalversager hin. Was ihm scheißegal ist. Abgesehen davon, dass er nicht will, dass diese Frau das glaubt. Die, die nicht real ist. Die, die ich bald sehen werde.
Bald geht die Sonne unter. Es muss jede Sekunde so weit sein. Im letzten gedämpften Licht beginnt ihr Umriss am Fenster aufzuflackern. Allmählich macht er ihre Gestalt immer deutlicher aus.
„Na gut.“ Murdoch steht auf. „Con, du kannst dich gegen uns wehren, weil du hasst, was wir sind, oder weil du uns unserer Taten wegen grollst, aber wehr dich nicht nur deshalb, weil du stolz und stur bist.“ Er grinst, und für einen Augenblick ist er wieder der alte Murdoch. „Was erzähl ich da eigentlich? Wenn du nicht so stolz und dickköpfig wärst, wärst du nicht Conrad Wroth.“ Mit diesen Worten verschwindet er.
Kurz darauf erscheint Sebastian und schaltet das Licht ein. Im grellen Schein der Glühbirne verschwindet sie.
„Mach es aus!“
„Was? Wieso?“
„Es tut meinen Augen weh. Tu es.“
Sebastian zuckt die Achseln und drückt noch einmal auf den Schalter. Dann setzt er sich vor ihn hin, die langen Beine ausgestreckt.
„Ich verstehe die Wut, die du für Nikolai und Murdoch empfindest“, beginnt Sebastian bedächtig. „Ich hasste sie ebenfalls, weißt du. Ich habe mich so lange nach Rache gesehnt. Aber das Leben kann wieder gut sein. Sogar besser als je zuvor.“
„Behauptest du! Mit meinem Leben ist alles in Ordnung.“ Nichts ist in Ordnung mit meinem Leben … Wie lange noch, bis ich sie sehen kann?
„Dann wird es dir sogar noch besser gefallen, wenn du es mit der Braut teilst, die das Schicksal dir zugewiesen hat“, fährt Sebastian fort. „Sie wird dich beruhigen und dir helfen, Klarheit zu finden. Ich stand selbst kurz vor dem Abgrund, bevor ich meine Braut traf. An dem einen Tag hatte ich nichts, kein Zuhause, keine Freunde, keine Familie. Und dann, sobald ich in ihr die Meine erkannte, taten sich mit einem Mal so viele Möglichkeiten auf.“
Offensichtlich denkt Sebastian in genau diesem Moment über sie nach, seine Miene strahlt so eine Zufriedenheit aus … Ekelhaft. „Ich möchte, dass du Kaderin bald kennenlernst. Sobald du dich erholt hast.“
Die tun so, als ob es eine Tatsache wäre, dass ich geheilt werde.
Unmöglich. Er würde es wissen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Blutgier zu überwinden. Es ist noch niemandem gelungen – keinem Einzigen. Aber die Zuversicht seiner Brüder macht ihn nachdenklich.
„Kaderin hat … na ja, ihre Erfahrungen mit gefallenen Vampiren sind ziemlich umfangreich, selbst für eine Walküre.“
„Kaderin die Kaltherzige?“, fragt er mit einem langsamen Nicken. „Eine Assassine wie ich. Es heißt, sie reißt den abgeschlagenen Vampirköpfen die Fangzähne raus und reiht sie zu einer Kette auf, für ihre Sammlung. Das klingt wirklich verdammt beruhigend, Bastian.“
Draußen wird es dunkler … Die Frau scheint von einer schillernden Lichtquelle erleuchtet zu werden. Noch kann er ihre Gesichtszüge nicht erkennen, aber die Konturen ihrer Gestalt. Seine Lippen öffnen sich. Ihre Brüste.
Sebastian zuckt mit den Schultern. „Wie ich schon sagte, Kaderin hat einiges mit ihnen durchgemacht. Was bedeutet, dass wir auf derselben Seite kämpfen. Wer weiß, vielleicht ist deine Braut auch eine Walküre.“
Immer dunkler. Walküren sind eigenartige Frauen, im Aussehen den Feen ähnlich. Viel zu stark für ihre zierlichen Körper. Ohne zu zögern, stürzen sie sich in Schlachten oder beginnen Kriege. Wenn eine von ihnen seine Braut sein sollte, würde er der Morgendämmerung mit Freude entgegensehen.
Dunkel.
Da ist die Frau.
Auch wenn ihr Bild flackert und ohne jegliche Farbe ist, wie bei einem alten Schwarz-Weiß-Film, kann er ihr Kleid erkennen, ihre bloßen Arme und Schultern. Sie scheint auf der Bank, die unter dem Fenster eingebaut ist, zu hocken und hat den Kopf abgewandt, als ob sie ihn gegen die Fensterscheibe gelehnt hätte. Dann erkennt er langsam, dass sie nicht gänzlich farblos ist. Ihre Fingernägel, Halskette und die Schleifen an ihrem Mieder sind von einem tiefen Karmesinrot.
Sind das rote Blütenblätter, die sich in ihrem ungebärdigen Haar verfangen haben?
Je besser er ihre verschwommene Gestalt erkennen kann, umso besser gefällt sie ihm. Sie ist eher klein, aber mit üppigen Brüsten ausgestattet. Wieder ballt er die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten, seine Fänge sehnen sich danach, sich in dieses feste Fleisch zu senken. Er hat noch nie von einer Frau getrunken … Warum zum Teufel hat er noch nie von einer Frau getrunken?
Jetzt nimmt er den Glanz ihrer Fingernägel wahr sowie das Schimmern der Schuhbänder, die sich um ihre Waden schlingen. Der Schlitz in ihrem Kleid reicht bis zu ihrem Oberschenkel und enthüllt ein Strumpfband.
Aus irgendeinem Grund hebt er bei diesem Anblick die Augenbrauen. Einem Vampir, der seiner Braut noch nicht begegnet ist, fehlt die Fähigkeit, den sexuellen Akt zu vollziehen, und er hat auch gar nicht das Verlangen danach. Ihre Brüste und Strumpfhalter sollten ihn nicht im Geringsten interessieren, nicht mehr als gewöhnliche Nahrungsmittel.
Aber sie tun es.
Dann … sieht er zum ersten Mal ihr Gesicht. Mit Mühe unterdrückt er einen Fluch. Also hat er sich nicht getäuscht, in jener Nacht.
War ja klar, dass sie ’ne verdammte Schönheit ist. Er lacht kurz auf. Selbstverständlich würde er sich nur das Allerbeste zusammenfantasieren.
Diese großen blauen Augen sind ein weiterer Farbklecks in ihrem Schwarz-Weiß-Bild. Sie hat eine kesse, schmale Nase und glatte, durchscheinende Haut. Ihre Lippen sind blass, aber voll, besonders die untere.
Plötzlich wendet sie sich zu ihm um, so als ob sie seinen forschenden Blick bemerkt hätte, und steht auf, mit geradezu gespenstischer Anmut. Er gibt sich Mühe, jegliche Gefühlsregung aus seiner Miene zu verbannen, während er sie nicht aus den Augen lässt.
Sie neigt den Kopf zur Seite. Sieht sie mich etwa forschend an? Kann sie in der Dunkelheit sehen?
Nein, sie ist nicht real. Es ist ein Unterschied, ob man Halluzinationen hat oder mit ihnen interagiert … Darf die Grenze nicht überschreiten …
Sie scheint zu schreiten, obwohl sie über dem Boden schwebt. Und sie kommt geradewegs auf das Bett zu. Was will sie von ihm? Näher … näher …
Undeutlich hört er Sebastian fragen: „Weißt du, was mit dir passiert, wenn deine Braut dich erweckt? Dein Herz beginnt wieder zu schlagen, und du wirst wieder anfangen zu atmen. Die Luft liegt kalt und schwer in deinen Lungen, aber der Druck fühlt sich gut an, wenn du dich nicht dagegen wehrst. Und dann, mit ein bisschen Hilfe von ihr, wird dein ganzer Körper wieder zum Leben erwachen, als ob man ein Feuer entfacht hätte.“
Ein entfachtes Feuer. Mit anderen Worten: Er würde wieder einen Steifen kriegen können.
Aber im Gegensatz zu allen anderen Vampiren, die er je kennengelernt hat, will er nicht erweckt werden. Ihm gefällt die Ruhe in seinem Körper, und er wird mit allem, was ihn ausmacht, daran festhalten. Die Aussicht zu sterben ist gar nicht mehr so erschreckend, wenn man den halben Weg schon hinter sich hat …
Die Frau schleicht sich näher an ihn heran und beugt den zur Seite gelegten Kopf herab. Horcht sie an meiner Brust? Sie hat Sebastians Erklärung für den fehlenden Herzschlag gehört und beschlossen, es selbst zu überprüfen. Was bedeutet, dass sie ein denkendes Wesen ist.
Er hatte sich an die Hoffnung geklammert, dass sie ein hirnloses Geisterwesen ist, das sich über seine Handlungen nicht im Klaren ist, das instinktiv handelt, ohne zu überlegen. Stattdessen ist ihr Verstand hellwach. Mit einem Mal beschämt ihn seine Lage: auf einem Bett angekettet, der Gnade anderer hilflos ausgeliefert. So erbärmlich hat er sich noch nie im Leben gefühlt.
Nein, es gab schon einmal so eine Situation …
Von Nahem sieht er immer wieder ihr gespenstisches Haar aufleuchten, das ihr über die Schulter fällt. Er schluckt und schließt die Augen, während er darauf wartet, die Berührung ihres Haars auf seiner Haut zu spüren. Doch alles, was er wahrnimmt, sind ein paar schwache elektrische Nadelstiche. Nicht dass es wehtäte – ganz im Gegenteil, es ist alles andere als unangenehm.
Als sie wieder zurückweicht, öffnet er die Augen einen Spaltbreit. Ihr Mund steht vor Überraschung offen.
„Wie seltsam, dément … dein Herz steht wahrhaftig still.“
Fast wäre er vor ihr zurückgezuckt … Der Geist hat sich direkt an ihn gewandt. Jetzt ist es so weit. Er hat komplett den Verstand verloren.
Ihre widerhallenden Worte klingen gedehnt, als ob sie von weit, weit her kämen. Er kann sie kaum hören – was wiederum bedeutet, dass niemand außer ihm sie vernimmt. Sein Gehör ist zehnmal besser als selbst das seiner Brüder. Hundertmal besser als das eines Menschen.
Er weiß, dass sie ihn nicht anspricht, weil sie sich eine Antwort erhofft. Es scheint eher so, als ob sie das Sprechen üben wollte. Sie sieht aus, als ob sie jedes einzelne Wort koste, um festzustellen, wie es sich auf ihrer Zunge anfühlt.
Augenblick mal … Hat sie mich gerade dément genannt? Das heißt auf Französisch so viel wie Wahnsinniger. Er fühlt Hitze in seinem Nacken aufsteigen. Obwohl er zumeist einfach instinktiv reagiert wie ein Tier, verspürt er doch manchmal, sehr selten, Gefühle, von denen er geglaubt hatte, sie verloren zu haben. Wie Scham.
Es gibt eine Grenze … Sieht sie mich etwa so?
„Du weißt das alles, oder etwa nicht?“, fragt Sebastian und atmet tief aus. „Bist du denn gar nicht neugierig, wie es ist, erweckt zu werden? Wir waren gezwungen, auf so vieles zu verzichten. Es gibt eine Menge, wofür deine Braut dich entschädigen könnte.“
Mit einem Mal konzentriert er sich wieder auf seinen Bruder. Wag es ja nicht, Sebastian! Fang nicht damit an …