10

„Vielleicht reizt dich mein Anblick nicht genug, Vampir?“ Néomi senkte ihre Stimme zu einem aufreizenden Raunen. „Und hatte ich dir nicht versprochen, dir mehr als nur ein Strumpfband zu zeigen, wenn du mich bloß sehen könntest?“

Langsam zog sie ihren Rock hoch, sodass es schien, als ob sich der Stoff von selbst in ihrer Hand sammelte. „Ich habe ein wenig Erfahrung mit Männern, denen es gefällt, etwas zu sehen zu bekommen.“

Als sie den oberen Rand ihrer bis zum Oberschenkel reichenden Strümpfe entblößt hatte, fragte sie: „Immer noch nicht erregend genug? Vielleicht möchte Conrad stattdessen ja lieber mein Höschen sehen?“ Kurz bevor sie dieses enthüllte, schwebte sie in eine Ecke, und zwar in die, die er am schlechtesten einsehen konnte. Er würde sich vollständig umdrehen müssen, um sie dort zu sehen.

Die Grenze … die Grenze …“, murmelte er inständig.

Er musste wohl über irgendeine Grenze in Bezug auf sie reden, die er nicht überqueren durfte.

„Ja, Conrad, die Grenze! Lass sie uns überqueren. Oder muss ich den Einsatz erhöhen? Nun gut …“ Sie seufzte. „Du bist ein harter Verhandlungspartner. Aber mich plagt sowieso das Gefühl, übertrieben viel anzuhaben, und da du so wunderbar nackt bist …“

Sein Körper richtete sich vor Anspannung kerzengerade auf, und die Muskeln in Nacken und Schultern bündelten sich.

„Hier bin ich also, in der Ecke, und schnüre mein Kleid auf.“ Ihre Stimme triefte vor Sinnlichkeit, und sie sorgte dafür, dass ihr Kleid gehörig raschelte, als sie es ablegte. „Ich tue es ganz langsam für meinen Vampir. Oh … so … langsam.“

Hatte er gerade geknurrt?

Sie beugte sich nach vorne und ließ ihr Kleid in sein Gesichtsfeld baumeln. Wie einen Köder für ein Tier zog sie es dann langsam wieder in ihre Ecke zurück.

Er stöhnte auf, als ob er sich geschlagen gebe, und drehte sich um. Sein Unterkiefer sackte nach unten.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm da, blickte über die Schulter hinweg in seine Richtung, mit nichts als ihrem Strumpfhaltergürtel, Strümpfen und einem engen schwarzen Höschen bekleidet.

„Ich wusste es doch, Vampir“, sagte sie entzückt.

Sein gebannter Blick ruhte zunächst auf ihrem Gesicht, um dann über ihren Rücken, ihren Hintern und ihre Beine nach unten zu wandern und danach langsam wieder aufwärts.

„Dreh dich für mich um“, stieß er mit rauer, brechender Stimme hervor. War sein Akzent jemals zuvor so ausgeprägt gewesen?

Er sprach zu ihr – die erste Person, die sie seit acht Jahrzehnten angesprochen hatte. Sie bebte vor lauter Glück und Dankbarkeit, freudig erregt von dieser Entwicklung – und unfähig, sich nicht von seinen erhitzten Blicken stimulieren zu lassen. Schließlich wandte sie sich ihm mit über den Brüsten gekreuzten Armen zu, nicht aus Schüchternheit, sondern als Provokation.

Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. „J-jetzt deine Arme.“

Sie nahm erst den einen, dann den anderen Arm fort, hob sie hoch und schien sie gegen die Wand zu legen, vor der sie stand. Sein Blick saugte sich an ihren Brüsten fest, während er die Hände abwechselnd zu Fäusten ballte und wieder löste, als ob er sich vorstellte, sie zu kneten. Sie erschauerte vor Erregung, als er mit seiner Zunge leicht über einen seiner Fänge strich, während seine Augen wie glühende Kohlen glommen.

„Hast du gedacht, ich würde bluffen?“

Ohne aufzublicken, nickte er kurz, als ob er befürchtete, ihm werde die Sprache versagen.

„Ich bluffe nie. Wenn es nötig war, meinen Körper zu entblößen, um zu beweisen, dass du mich sehen kannst, dann sieh dich ruhig satt, Conrad.“ Als er schließlich die Augen hob und ihre Blicke sich trafen, legte sie den Kopf zur Seite und schenkte ihm ein kokettes Lächeln. „Aber wieso hast du mich ignoriert?“

„Weil du nicht … du warst nicht real“, sagte er und zuckte gleich darauf zusammen, als ob er seinen Kommentar selbst idiotisch fände.

Er hatte gedacht, sie sei eine Halluzination! Armer Vampir! Er hatte sie nur aus einem einzigen Grund ignoriert: dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung.

„Möchtest du, dass ich real bin?“ Sie löste sich von der Wand und schwebte auf ihn zu, ohne seinen Blick loszulassen. Er schien überhaupt nicht zu merken, dass er sich langsam auf sie zubewegte und den Wasserstrahl verließ. „Ich bin Néomi“, schnurrte sie.

Néomi“, wiederholte er abwesend. „Gibt es denn nichts, was dich in Verlegenheit bringt?“

Sie schüttelte den Kopf, und ihr Haar tanzte über ihre Schultern und tiefer gelegene Regionen. Als ihre Locken ihre Brustwarzen streiften, ließ er seinen Blick erneut abwärts schweifen. „Und es fällt mir schwer zu bedauern, dass ich mich entkleidet habe, wenn mir mein Vampir einen Blick zuwirft, bei dem mir abwechselnd heiß und kalt wird.“

Er schluckte, und sein Adamsapfel tanzte. „Ich mache dich heiß?“

Sie nickte. „Möchtest du, dass ich zu dir hineinkomme?“

Er zog die Brauen zusammen. „Warum solltest du das denn wollen?“

Sie antwortete ihm in aller Aufrichtigkeit. „Weil du mir in diesem Augenblick der liebste Mann auf der ganzen Welt bist.“

Ein halb nackter Geist mit festen, üppigen Brüsten möchte zu ihm unter die Dusche kommen. Und er hat nicht die leiseste Ahnung, wie er damit umgehen soll. Ihm bricht der Schweiß aus, seine Zähne mahlen aufeinander. Er hat keinerlei Erfahrung, auf die er zurückgreifen könnte.

Er wurde in einer konservativen Zeit geboren und erzogen. Als Erwachsener hat er sich nie vollständig vor einem weiblichen Wesen entkleidet, und ganz gewiss hat er sich nie in Gegenwart einer Frau gewaschen.

Doch jetzt steht diese Frau vor ihm, mit nichts als Strümpfen, Strumpfhaltern und einem frivolen Höschen bekleidet – schwarz und mit einem Band aus pechschwarzer Spitze besetzt, das sich quer über die großzügigen Kurven ihres Hinterns zieht. Stolz reckt sie ihm ihre bloßen Brüste entgegen.

Sie verhält sich so selbstverständlich, als ob wir beide verheiratet wären. Dabei kenne ich nicht einmal ihren Nachnamen.

Unfähig, sich zu beherrschen, lässt er erneut seinen gierigen Blick über ihren Körper schweifen. Sie ist überraschend muskulös gebaut, ihre Beine sind stramm und kräftig. Ihr Körper wirkt überaus geschmeidig – der Körper einer Tänzerin, mit sich sanft wölbenden Hüften und einer zierlichen Taille, die er mit seinen Händen umfassen könnte.

Und diese Brüste …

Er schüttelt den Kopf. Sie ist zu hübsch. Eine halb nackte Schönheit, die sich in seine Dusche verirrt? In sein Leben? Das passt einfach nicht zu dem widrigen Schicksal, das er in den vergangenen Jahrhunderten durchgemacht hat.

„Du bist wahrscheinlich nicht real.“ Als daraufhin ein Grinsen auf ihrem Gesicht erscheint, verflucht er sich für seine Unbeholfenheit. Er wünscht sich, Murdochs Ungezwungenheit im Umgang mit Frauen zu besitzen. Das passiert ihm nun zum ersten Mal, obwohl er schon in jungen Jahren erkannt hatte, dass es ihm an Charme mangelte.

„Siehst du häufig Dinge, die nicht real sind?“

„Jeden Tag.“ Aber wenn sie real ist … „Komm. Wenn du es wünschst.“

Ihr Blick hält seinen fest, als sie auf ihn zuschwebt. Sie hat sinnliche blaue Augen, wissende Augen. Hypnotisch. Er stellt fest, dass sich sein Körper aus eigenem Antrieb auf sie zubewegt.

Sie schwebt zu ihm in die Duschkabine. Das Wasser benetzt sie allerdings nicht, sondern prallt von ihr ab wie winzige elektrische Funken, sodass sie zu glitzern scheint.

Ein Traum – ein erotischer Traum. Kann es wirklich sein, dass er hier splitterfasernackt zusammen mit einer fast nackten Tänzerin steht? Genieße es.

Aber wie, verdammt noch mal? Er kann keine Lust spüren. Er bekommt keine Erektion. Und … sie ist ein Geist!

Doch das scheint sie nicht aufzuhalten. Er spürt die Energie, die von ihr ausgeht, stärker als jemals zuvor. Sie strahlt sie in Wellen aus, wie ein Bumerang wandern sie von ihr zu ihm und dann wieder zurück.

Le dément hat einen umwerfenden Körper, n’est-ce pas? So stark, so männlich.“

Er spürt die zunehmend vertraute Hitze in seinem Nacken aufsteigen. „Nenn mich nicht noch einmal so.“

„Dann beherrschst du neben all deinen anderen zahlreichen Sprachen also auch Französisch?“ Er antwortet mit einem kurzen Nicken. „Also, wie soll ich dich dann nennen? Conrad den Übergeschnappten? Conrad den Tobsüchtigen? Oder soll ich dich ‚mein Vampir‘ nennen?“ Mit sanfterer Stimme fügt sie hinzu: „Ich glaube, das gefällt dir.“

Wieso durchschaut sie ihn so gut?

„Wenn du mich hören kannst und wenn du mich sehen kannst“, murmelt sie, „dann frage ich mich, was sonst noch möglich ist. Vielleicht kann ich … vielleicht kann ich versuchen, dich zu spüren?“ Die Sehnsucht in ihrer Stimme verschlägt ihm den Atem. „Du musst wissen, ich fühle nichts. Meine Hände gleiten durch alles hindurch.“

Sie kann nichts berühren, und er kann keine Erektion bekommen. Aber zumindest kann er gewisse Dinge immer noch genießen – den durchdringenden Geschmack von Blut auf seiner Zunge, der Rausch eines belebenden Windes.

„Vielleicht wenn ich mich ganz stark konzentriere, vielleicht könnte ich bei dir etwas … fühlen.“ Vor ihm erscheint eine zerbrechliche blasse Hand mit glänzenden dunklen Fingernägeln. Auf der Rückseite ihres Handgelenks befindet sich ein Blütenblatt, das sich krass von ihrer Haut abhebt, schließlich herabgeweht wird und verschwindet. „Darf ich versuchen, dich zu berühren?“

Zumindest bittet sie diesmal um Erlaubnis.

„Tu, was du willst“, erwidert er mit rauer Stimme.

Ihre Hand beginnt zu zittern, als sie sich Zentimeter für Zentimeter an ihn herantastet. Während sie sich ihm langsam nähert, beginnt seine Haut wie elektrisch zu kribbeln. Kann sie ihn fühlen? Will er das wirklich? Ja, verdammt noch mal, ja, er will es. Aber die Hand gleitet auf direktem Weg durch seine Brust. An der Stelle, wo sie eintritt, prickelt seine Haut, und seine Muskeln ziehen sich zusammen, aber ein Gefühl von Druck stellt sich nicht ein.

Sie scheint vor Enttäuschung förmlich in sich zusammenzusinken. Noch einmal versucht sie es und fährt mit ihrer Hand über seinen Oberkörper. Er verspürt dasselbe Gefühl von Elektrizität, das alles andere als unangenehm ist.

„Ich nehme an, es soll nicht sein.“ Ihr Ton ist wehmütig, und das gefällt ihm nicht. Er fühlt sich, als ob er sie enttäuscht hätte.

Er hüstelt in seine Faust. „Ich könnte versuchen … dich zu berühren.“

Augenblicklich erhellt sich ihre Miene wieder. Das ist sein Werk. So leicht?

„Wo würdest du mich gerne berühren, Conrad?“

Ohne sein Zutun bleibt sein Blick an ihren Brüsten hängen.

„Dann berühre sie“, murmelt sie, jedes einzelne Wort so sinnlich wie ein Streicheln.

Ihre Energie beginnt ihn unruhig zu machen. Seltsame Begierden quälen ihn. Er will sie nicht nur dort berühren, sondern ihre Haut küssen, bis sie sich an ihn klammert. Er will mit seiner Zunge über ihre aufgerichteten Nippel fahren. Ob ihr das gefallen würde? Könnte er ihr ein Stöhnen abringen?

Er verspürt das Bedürfnis, ihr mit seinem Körper den Weg nach draußen zu versperren, sie davon abzuhalten, ihn zu verlassen, und stellt verblüfft fest, dass er sie gegen die Rückwand der Duschkabine drängt. Sie hätte durch die Wand hindurch fliehen können, aber sie lässt es zu, dass er sie in die Ecke drängt. Er schiebt ein Knie neben sie und hebt seine angeketteten Hände über ihren Kopf.

In dieser Position blickt er in die lieblichsten Augen hinab, die er je gesehen hat. So als ob eine frische Brise einen Weg durch den Nebel von Erinnerungen und Verwirrung geschlagen hätte, fühlt er sich gleich viel klarer, als er in ihr Gesicht schaut. Er fühlt sich zentriert.

Fühlt … fühlt … fühlte …

Er fühlte sich klarer. Conrad war im Gleichgewicht. Selbst seine Gedanken schienen auf eine andere Art und Weise zu entstehen. Sie waren konzentrierter, jeder einzelne in seinem Geist deutlich von den anderen abgegrenzt.

Conrad wollte verstehen, warum.

Lag es an ihr oder an den Medikamenten? Was genau bedeutete sie ihm? Ein Verdacht stieg in sein Bewusstsein auf, den er allerdings beiseiteschob.

Ihre Lider wurden schwer, ihre Atmung beschleunigte sich, als ob sie sich in diesem Moment verlöre. Sie war so klein und perfekt. Und trotz seiner roten Augen und seines mit Narben übersäten, drohend über ihr aufragenden Körpers sah sie ihn … begierig an. Konnten Geister Verlangen empfinden?

Nicht nur dass sie ein Geist war – ein Geschöpf, mit dem er keinerlei Erfahrung hatte –, sie war auch eine sinnliche Frau – wiederum ein Geschöpf, mit dem er keinerlei Erfahrung hatte. Conrad wollte versuchen, sie zu berühren – weil sie beides war.

Er schluckte deutlich vernehmbar und streckte langsam die Hände nach ihren köstlichen Brüsten aus.

Wölbte sie sich ihm entgegen? Er bedeckte ihre Konturen mit seinen breiten Handflächen, verspürte allerdings nur wieder dasselbe Gefühl von Elektrizität.

Er sah, wie sie den Blick senkte, als ob sie überprüfen wollte, ob er reagiert hatte. Er ließ die Hände fallen, beschämt, dass er nicht hart geworden war. In diesem Augenblick wünschte er sich, er wäre dazu fähig.

„Es ist unmöglich, mich auf diese Art zu erregen.“ Er trat von ihr zurück, bis er wieder unter dem Wasserstrahl stand. „Seit dreihundert Jahren ist das schon so.“

„Möchtest du es denn nicht?“

„Möchtest du, dass es geschieht?“

„Ja“, erwiderte sie mit einem Lächeln in der Stimme. „Ich dachte, dass das ein ziemlich netter Anblick sein könnte.“

Er war einst so stolz gewesen. Jetzt ließ ihn eine Kreatur, die nicht einmal einen Körper besaß, Scham empfinden. Wenn sein Blut wieder zum Fließen gebracht werden würde und sein Schaft prall vor Lust wäre, was würde sie dann denken?

„Ich brauche eine ganz bestimmte Frau, um wieder zum Leben erweckt zu werden. Ich denke, eine aus Fleisch und Blut. Also bist du wohl nicht sie.“

„Du meinst deine Braut?“

„Sei froh, dass du es nicht bist“, sagte er, aber dank seiner neu gewonnenen Klarheit setzten Zweifel ein.

An diesem Abend hatte Conrad sich daran erinnert, was er einst begehrt hatte und das zu entbehren er zutiefst bedauert hatte.

Ich hatte mir eine Frau ganz für mich allein gewünscht.

Eine, die nur für ihn da war. Eine, die er beschützen konnte, befriedigen konnte. Als Sterblicher hatte er sich unentwegt danach gesehnt. Was, wenn diese Frau die Seine wäre?

Die Verletzung an seinem Arm schmerzte unter dem Wasserstrahl. Wenn der Fluch dieses Mals Realität war …

War dieser zierliche Geist die, zu der ihn sein Lebensweg geführt hatte? Er erinnerte sich an den Schauer, der ihn überlaufen hatte, als Nikolai nur den Namen ihres Hauses ausgesprochen hatte.

Conrad war zwangsweise hierher verfrachtet worden, und sein Gefühl hatte ihm gesagt, dass dies der erste Schritt auf einem schicksalhaften Pfad war. Sein Traum … ihr Verderben.

„Du musst dich von mir fernhalten.“ Ich muss weg von diesem Ort. „Zu deinem eigenen Besten.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Ich weiß nicht, ob ich das kann, Vampir.“

In diesem Moment kam Nikolai herein, und hinter ihm Sebastian. „Was geht hier vor?“

Conrad warf sich mit einem Satz vor Néomi und schnappte mit den Zähnen nach seinen Brüdern. Wut brodelte in ihm auf bei dem bloßen Gedanken, dass sie sich unbekleidet im selben Raum wie seine Brüder befand. Die Aggression schärfte seine Fänge. Über die Schulter hinweg sagte er in einem Ton, der halb Knurren, halb Zischen war: „Geh. Sofort.“

„Aber sie können mich nicht …“

„Ich sagte sofort!“, brüllte er so laut, dass sie die Augen fest zukniff. Sie flackerte kurz auf und verschwand.

Er hatte ihr Angst eingejagt. Das sollte er auch.

„Was zum Teufel ist hier los, Conrad?“ Nikolai hielt eine zweite Spritze in der Hand.

Ich darf nicht noch eine bekommen. Er musste darüber nachdenken, was soeben mit dieser Frau geschehen war. Er schlug die Hände vor die Stirn und bemühte sich mit aller Kraft, die Wut zurückzudrängen. Nikolai zögerte – er war derjenige, der gesagt hatte, es sei möglich, die Erinnerungen zu beherrschen. Conrad bemühte sich in diesem Augenblick, ebendies zu tun …

Die Zeit verging … Beherrsche es. Es musste ihm wohl gelungen sein, denn schließlich steckte Nikolai die Spritze in die Tasche.

„Du hast es geschafft, Conrad“, sagte Sebastian stolz. „Das ist der erste Schritt.“

Nikolai war nicht so zuversichtlich. „Mit wem hast du gerade geredet?“

„Lasst mich einfach allein. Ich will mich anziehen.“ Conrads Stimme klang erschöpft, sein Körper war nach dem Kampf in seinem Kopf völlig ausgelaugt. „Ihr würdet es sowieso nicht glauben, wenn ich es euch erzählte.“

Jetzt, wo die Frau fort und ihr Duft verblasst war, hegte Conrad selbst Zweifel, ob das alles eben wirklich passiert war. Seine Brüder verfolgten das Thema nicht weiter, vermutlich weil sie sich ebenfalls darüber im Klaren waren, dass sie ihm keinen Glauben schenken würden. Zögernd verließen sie das Bad, um draußen zu warten.

Nachdem er das Wasser abgestellt hatte, trocknete er sich ab. Zum ersten Mal in vielleicht dreihundert Jahren entschloss er sich, sein Spiegelbild anzusehen. Bartstoppeln, blutrote Augen, die Haare zu lang und ungleichmäßig geschnitten.

Sein Äußeres erschien sogar ihm selbst verstörend. Und dabei hatten die letzten Tage bereits eine Verbesserung gebracht. Er stieß einen Fluch aus. Als er noch menschlich war, hatte er selten mehr als einen flüchtigen Gedanken an sein Aussehen verschwendet. Aber damals hatte er auch niemanden beeindrucken wollen.

Als er die Jeans anzog, die seine Brüder ihm hingelegt hatten – das Hemd konnte er wegen der Handfesseln unmöglich allein überziehen –, erwog er, Nikolai und Sebastian zu überwältigen, aber er war geschwächt.

Außerdem hatte er eine bessere Idee …

Als Conrad das Bad verließ, fragte Sebastian: „Worüber hast du dich da drin denn so aufgeregt?“

Muss sie glauben lassen, dass es mir besser geht.

„Nichts.“

Geht es mir besser? Fürs Erste würde er sich seinen Brüdern fügen, bis sich ihm eine gute Chance zur Flucht bot.

Als Sebastian eine Rolle Verbandsmull hochhielt und die Brauen fragend hob, zögerte Conrad nur kurz, bevor er ihm seinen verletzten Arm hinhielt.

Während Sebastian den Verband erneuerte, erkundigte sich Nikolai: „Wie hast du dir diese Verletzung zugezogen?“

„Berufsrisiko“, murmelte Conrad. Die verdankte er Tarut, einem uralten und mächtigen Traumdämon, der mit dem Orden von Kapsliga Uur zusammenarbeitete.

Der Dämon und er versuchten schon seit Jahrhunderten, einander umzubringen, aber es war bisher keinem von beiden gelungen. Dann, vor gerade mal zwei Wochen, hatte Tarut einen entscheidenden Sieg errungen. Er hatte Conrad mit seinen Klauen gezeichnet. Wenn es stimmte, was man sich über Traumdämonen erzählte, dann war Tarut jetzt in der Lage, den gegenwärtigen Aufenthaltsort seines Feindes zu lokalisieren, wann immer die beiden gleichzeitig schliefen.

Conrad hatte geglaubt, der Fluch des Mals sei bloße Folklore und dass die Dämonen diese Märchen zu ihrem Vorteil nutzten. Aber die Verletzung wollte einfach nicht heilen.

Und das war nur der erste Teil des Fluchs. Der Legende zufolge würde Conrads Wunde nicht eher verheilen, ehe entweder der Dämon getötet worden war oder sowohl Conrads größter Traum als auch sein schlimmster Albtraum in Erfüllung gegangen waren.

„Du musst erst mal einen Traum haben, um ihn verlieren zu können“, hatte Tarut bei ihrem letzten Zusammentreffen gesagt.

Das könnte möglicherweise bald der Fall sein. Er unterdrückte einen Schauer. Sein Traum … ihr Verderben.

„Nach dieser Dusche siehst du schon tausendmal besser aus“, sagte Sebastian. „Du kommst eindeutig immer mehr zu dir.“

Er zuckte die Achseln. Das spielte keine Rolle. Abgesehen von Tarut wurde Conrad von wenigstens einem halben Dutzend feindlicher Gruppierungen gejagt, die ihn entweder gefangen nehmen oder hinrichten wollten. Die Kapsliga, sein früherer Orden, wollten seinen Tod, weil er in ihren Augen ein besonderes Gräuel darstellte: ein Vampir, der ihr Symbol auf dem Rücken trug. Da er bei ihnen oberste Priorität hatte, hatten sie ihm Tarut und andere Assassinen auf den Hals gehetzt. Dazu kamen noch die zahllosen Nachkommen von Conrads Opfern. Sie alle strebten mit dem Schwert in der Hand danach, ihre Väter zu rächen. Und es war nur eine Frage der Zeit, bevor auch Rydstrom Woede, der gefallene König der wilden Wutdämonen, und Cadeon, sein Erbe, ihn aufs Korn nehmen würden. Conrad hatte Informationen erhalten, für die sie töten würden. Er war für Dutzende von Dämonarchien der Feind Nummer eins. Doch diese bereiteten ihm kein Kopfzerbrechen – nur die Woedebrüder, wie das Paar genannt wurde.

Kein einziger dieser Gegner würde zögern, jemanden zu vernichten, der ihnen im Weg stand. Es war möglich, dass Conrad und seine Brüder getötet werden würden, ohne dass er auch nur einen Finger gekrümmt hatte.

„Möchtest du jetzt trinken?“, fragte Nikolai.

„Das Einzige, was ich trinke, das nicht frisch aus einer Ader strömt, ist Whisky“, log er.

Conrad hatte schon früher abgefülltes Blut getrunken, aber jetzt weigerte er sich. Obwohl sein Durst immer schlimmer wurde, brauchte er nicht so häufig Nahrung wie andere Vampire, und in dieser Angelegenheit würde er sich auf gar keinen Fall ihrem Willen beugen.

Murdoch hatte ihn als stur bezeichnet, und das konnte Conrad nicht leugnen. Nachdem er gefangen genommen, angekettet und mit Medikamenten betäubt worden war, würde Conrad sich auf keinen Fall auf ihre sinnlosen Pläne einlassen – vor allem da er nicht mehr lange hier sein würde.

Ihm war nicht entgangen, dass jeder Bruder einen eigenen Schlüssel zu seinen Ketten hatte. Wenn der Geist wiederkam, würde er sie dazu bringen, einen davon zu stehlen. Und dann nichts wie weg.

Nichts leichter als das.